Jenseits der Alle

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Jenseits der Alle
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Beate Morgenstern

Jenseits der Alle

Alltagsgeschichten aus der DDR

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Renzonis neunzigster Geburtstag

Das Mädchen Mirka

Jenseits der Allee

Der Anruf

Unerwartet

Übereinkunft

Herr in Blassblau

Im Spreekahn

Ein gutes Mädchen

Von der anderen Seite

Gemüse-Erna

Bruno

Ich kenne keinen Siggi

Glatteis

Impressum neobooks

Renzonis neunzigster Geburtstag

Renzoni wurde wach mit einem leisen, tränenlosen Weinen. Niemand war zu seiner Geburtstagsfeier gekommen. Selbst seine Mutter erhob sich bekümmert und mit einem Blick des Vorwurfs von der festlichen Tafel und ging schweigend aus dem großen Saal. Nun saß er allein an der Stirnseite, die Tischtücher furchtbar weiß, Leichentücher. Nirgends eine Blume. Ein grünes Blatt schwebte auf die Mitte der Tafel. Als er aufstand, um es zu berühren, war es ein schwarzer Fleck, der sich immer mehr vergrößerte und ihm Angst einflößte, je länger er hinschaute.

Langsam öffnet Renzoni die Augen. Er sieht auf den kleinen Kalender über der Marmorplatte des Waschtisches, einziger Schmuck an den nackten, beinahe schwarz glänzenden Wänden, von denen die Leimfarbe längst abgeblättert ist. Das Kalenderblatt zeigt den 21. August. Renzoni nimmt die Zahl langsam in sich auf und spürt Erleichterung. Alles ist noch vor ihm. Später wird er das Blatt abreißen, und der Tag, auf den er eine ihm sehr lang erscheinende Zeit hingelebt hat, beginnt sich zu vollenden. Als die Zeit erfüllet war ...

Gäste werden kommen. Eltern schicken ihre Kinder mit Blumen, manche steigen selbst die schmalen Holztreppen zu ihm herauf. Auch ein paar Alte. Keiner aber so alt wie er. Alle zehn, zwanzig Jahre jünger. Die Stadtverwaltung von Gottshut entsendet Gratulanten. Schon lange gab es keinen neunzigsten Geburtstag in der Stadt. Die Bürger von Gottshut rechnen es sich zur Ehre an, einen neunzigjährigen Jubilar unter sich zu haben.

Und wenn sie sich irren? Wenn sie erst morgen kommen? Ein kleiner Fehler ... Wie leicht kann so etwas geschehen.

Aber da ist Frau Rüger, die jeden Morgen an seine Tür klopft, um nach ihm zu sehen. Er wird sich feierlich hinsetzen und sagen: Frau Rüger, tun Sie mir die Ehre, trinken Sie ein Gläschen mit mir.

Aber Herr Renzoni, so früh am Morgen, und plötzlich wird sie anfangen zu kreischen und die Hände zusammenschlagen: Um Gottes willen, Herr Renzoni. Ihr Geburtstag! Sie haben Geburtstag heute!

Renzoni lächelt zufrieden. Nein, sein Geburtstag wird nicht vergessen.

Er richtet sich im Bett auf, langsam, vorsichtig, schiebt seine Beine seitwärts aus der Decke und dreht sich. Eine Weile bleibt er auf der Bettkante sitzen. Er gibt acht, dass er nicht das Gleichgewicht verliert und unversehens auf den Boden fällt. Er käme von allein nicht wieder hoch und müsste warten, bis Frau Rüger ihm den Kaffee brächte. Renzoni versucht, seine Gedanken zusammenzuhalten.

Unglaublich, wie viele Dinge der Mensch mit dem Kopf regeln kann. Selbst seine dummen, alten Beine kann er regieren. Aber schwierig ist es, weil die Gedanken immer wieder auseinanderflattern.

Renzoni setzt alle Kraft daran, sich auf den Tisch zu konzentrieren, der nahe am Bett steht. Schließlich ist er mit der linken Hand an der Tischkante angelangt und greift nach ihr. Dann steht er. Seine gekrümmte, magere Gestalt schwankt leicht. Er stützt sich voll auf den Tisch und wartet, bis der Schwindel nachlässt. Geschafft.

Er umklammert eine Stuhllehne, gleitet an ihr entlang, fasst nach dem nächsten Stuhl, den er nur noch leicht berührt. Dann lässt er ihn los. Renzoni geht zwei Schritte ohne jeden Halt, legt prüfend die Handfläche auf die Marmorplatte der Waschkommode, aber er braucht die Stütze nicht. Er gießt Wasser aus der bereitstehenden Kanne in das angeschlagene Porzellanbecken, taucht seine Hände ein und schöpft Wasser, das er sich über das Gesicht laufen lässt, spült den Mund aus, versucht das Wasser in den neben der Kommode stehenden Eimer zu kippen, gibt es aber sogleich wieder auf. Seine Greisenarme halten das schwere Porzellan nicht mehr. Außerdem - heute braucht er seine Kraft für Wichtigeres.

Eine Viertelstunde später ist er - bis auf das Jackett - vollständig angezogen. Er bückt sich und holt aus dem kleinen Vorratsschränkchen die Marmelade. Zufrieden betrachtet er die zahlreichen bunten Likörflaschen in einem offenen Karton. Wie auf einem Tablett kann er sie mit einem Griff aus dem Schränkchen nehmen und seinen Besuchern servieren.

Er ist kein Trinker. Die Flaschen sind ihm in den letzten Jahren geschenkt worden. Er bietet seinen Gästen an, trinkt dann auch ein Gläschen mit. Aber allein ... Renzoni ist an Disziplin gewöhnt.

Nun stellt er auch die Margarine auf den Tisch. Dann drückt er ein halbes Brot an sein Hemd und schneidet sorgfältig oder einfach nur langsam eine Scheibe ab. Von der Anstrengung erschöpft sitzt er eine Weile still da. Dann erinnert er sich, dass er noch das Jackett anzuziehen hätte, erhebt sich mühsam und fährt in die Ärmel. Genussvoll setzt er sich wieder auf seinen Stuhl.

Jetzt endlich hat Renzoni sein morgendliches Pensum Arbeit hinter sich gebracht. Wenn der Tag doch gleich im Lehnstuhl anfinge, das wäre einfacher. Aber dann würde er sich gar nichts mehr abverlangen, und das ist sehr schädlich. Schließlich wird man ja nicht von selbst neunzig, und er hätte den heutigen Tag sicher nicht erlebt, gäbe er dem Drang nach Bequemlichkeit nach.

Schon der Lehnstuhl ist ein Eingeständnis an sein Ruhebedürfnis. Aber er empfand es doch als sehr blamabel, als er, vom Schlaf übermannt, zur Seite gesackt und vom Stuhl gefallen war, direkt neben den kleinen eisernen Ofen. Von dem lauten Fall erschreckt, kam die Nachbarin angelaufen, schrie und zeterte, während er am Boden lag und nicht wusste, was geschehen war. Dass er sich nicht ernsthaft verletzt hatte, nicht von dem Fall und nicht am heißen Ofen, hielt er für Schicksal.

Herr Renzoni, danken Sie Gott, beschwor ihn Frau Rüger. Nehmen Sie's als SEINEN Fingerzeig und siedeln Sie um, in ein Altersheim. Ich bitte Sie.

Ihm wurde ganz dumm von soviel Gerede. Dann schleppte sie den Lehnstuhl an und befahl ihm, sich tagsüber hineinzusetzen, damit sie nicht soviel Scherereien mit ihm hätte. Er musste nachgeben.

Frau Rüger ist ein rechthaberisches Frauenzimmer. Nachdem ihr Mann gestorben war, ein schwächlicher Mann, bekehrte sie sich zur Religion. Sie ließ es aber dabei nicht bewenden, sondern schwatzte auch ihm dauernd vom nahen Ende etwas vor und von den schönen Möglichkeiten im Jenseits, die er hätte, wenn er sich dem HERRN anvertraute. Natürlich, ihr saß der Schreck über den schnellen Tod ihres Mannes in den Gliedern. Bei aller Courage in Fragen des täglichen Lebens, eine Frau braucht ihre moralische Stütze. Aber dass sie nun ihn in ihren Himmel befördern will, wohin der eigene Mann nach ihrem Glauben nicht mehr gelangen kann, tot und ohne Möglichkeit zur Buße und nicht fähig, die ewige Seligkeit zu erlangen, das ist ihm doch zu viel. Wie stellt sie sich das eigentlich vor? Dass sie dort wieder in einem Haus nebeneinander leben, womöglich auch in einer ausgebauten Dachwohnung wie im Diesseits, weil die Plätze knapp geworden sind? Ihm wäre es schon recht. Aber die Religion hat sich überlebt. Daran ist nichts zu ändern, auch wenn sie hier in Gottshut, dieser Bastion des Pietismus, fester daran glauben als anderswo. Sollen sie nur. Er ist Realist und hält es mit dem Fortschritt. Die Wissenschaft ist etwas, woran man sich orientieren soll. Wenn er sein Leben noch einmal beginnen könnte, würde er Physiker. Oder Chemiker. Nie wieder Pianist.

Ein Pianist, der es nicht erträgt, wenn ihm mehr als ein einziges Kind zuhört, dem selbst in Gegenwart dieses einen Kindes die Hände zittern aus Furcht, es könne zu viel von der Vortragskunst verstehen und ihn insgeheim auslachen, so ein Pianist ist absurd. Es war ein sinnloses, lächerliches Dasein, das er wider Willen bis zu jenen grauenhaften Bombennächten in der Elbestadt geführt hat. Er lebte von dem, was seine Eltern erarbeitet hatten, das Vermögen reichte aus für eine sichere Existenz. Nach dem Abschluss am Konservatorium konnte er seine offenkundige Nutzlosigkeit als notwendigen Rückzug eines übersensiblen Künstlers deklarieren.

Er hat sich abgefunden, er musste sich abfinden mit diesen ersten einundsechzig Jahren Sinnlosigkeit. Nur eine kleine Sentimentalität gestattet er sich: Unter der Wäsche bewahrt er die Noten auf, die er in einem der beiden Koffer aus der noch lange rauchenden Trümmerwüste Dresden in diese Oberlausitzer Kleinstadt gerettet hat.

 

Doch das ist schon alles. Er schaut nicht zurück. Das ist dumm, wissenschaftsfeindlich und wenig bekömmlich für einen alten Mann.

Er hat überlebt. Immer gibt es Überlebende. Und dabei geht es nicht nach Verdienst. Ihn, den damals schon alten Mann ohne Familie, traf das Los. Das musste er annehmen von diesem ungerechten Schicksal und daraus machen, was er konnte, damit es zu etwas nutze wurde. Deshalb gab er nicht mit siebzig oder achtzig auf wie viele andere, die heute auf dem kommunalen Friedhof oder dem Gottesacker der Einheimischen ruhen. Nein, er hat eine Verpflichtung, für die mitzuleben, die damals so ein unnatürliches, böses Ende genommen haben.

Kein ungewöhnliches, besonderes Leben konnte es sein. Das war ihm nicht gegeben. Aber ein Neues, anderes. Eines mit Pellkartoffeln und Möhren in einer Dachkammer, eines, das genau den Ansprüchen des alten Mannes nach dem Krieg genügte und ihm seither ausreicht.

Die Kammer hat sich seit dem Einzug nicht verändert. Auch ein neues Leben muss seine Ordnung haben. Das alte große Holzbett ist ihm teuer, ebenso die Waschkommode und das Schränkchen. Alles bekam er von Menschen geschenkt, die damals oft selbst nur das Notwendigste besaßen.

Auch nach Gottshut war der Krieg gekommen. Etwas später als in andere Orte.

Renzoni entledigte sich dieser in Notzeiten so großzügig übergebenen Geschenke nicht. Alter ist eine Ehre. Auch für unscheinbare Gegenstände.

Manchmal steht ein Klavier in seiner Kammer. Unsichtbar für jeden außer ihm. Aber er gestattet es sich nicht, lange diesem Traum nachzuhängen, der sein erstes Leben so unfruchtbar gemacht hat. Hier in seinem zweiten Leben will er frei sein von jedem unnützen Ballast.

Er war immer streng mit sich. Wie kann man trinken und rauchen und sich ein Wohlleben gönnen, ohne innerlich zu erschlaffen, nachzugeben? Altwerden ist eine Frage der Konsequenz, mit der Lebenskraft rechnerisch umzugehen. Das hat er im Laufe der Jahre begriffen. Die Wissenschaft vom Alter wird noch interessante Dinge zutage bringen. Vorläufig weiß man nicht viel. An seinem Leben wird man einiges ablesen können. Deshalb hat er zäh und ehrgeizig daran gearbeitet, neunzig Jahre auf der Erde zu bleiben. Diese Zahl übte stets eine magische Kraft auf ihn aus, wie überhaupt Zahlen eine besondere Bedeutung für Renzoni haben. Deshalb wandte er sich auch der Wetterkunde zu. Auf seinem täglichen Spaziergang besuchte er regelmäßig die Wetterwarte. Schließlich übertrug man ihm kleine Pflichten. Man verließ sich auf ihn. Mit geradezu pedantischer Genauigkeit half er, den täglichen Niederschlag zu kontrollieren und andere wissenswerte Dinge aufzuschreiben. Standen diese von ihm ermittelten Daten nicht auch in Verbindung mit der Mathematik der Musik? Vielleicht fügte sich auch deshalb sein zweites Leben so gut an das erste. In der Musik ergeben sich logische Tonfolgen, mathematisch analysierbar, die die Menschen in unruhiges Nachdenken versetzen über etwas, das sie selbst nicht in Worte fassen können. In der Meteorologie gibt es messbare Antworten der Natur auf Fragen, die noch nicht in richtiger Weise gestellt werden.

Früher wussten die Bauern in ihrem primitiven Naturverständnis wahrscheinlich schon manches, was dem modernen Wissenschaftler nicht zugänglich ist.

Zahlen sind Chiffren des Universums, die der Mensch entschlüsseln wird, aber nie vollständig. Schon Wallenstein wusste um die Zusammenhänge von Mensch und Natur, um die Bedeutung kosmischer Konstellationen für das menschliche Leben.

Und erkundet man nicht gerade jetzt unsichtbare magnetische Stürme über der Erde, die das seelische Wohlbefinden der Menschen stören, Trübsal und Angst über sie bringen? Wo wird man später erst Zusammenhänge zwischen Geschehnissen erkennen, die heute noch in das Reich des Aberglaubens verbannt sind? Schon beginnt man; den Instinkt von Tieren zu erforschen, Lebewesen, die der Natur näher stehen als der Mensch, die noch mehr Urwissen um das Universum in sich tragen.

Wiederum wird der Unglaube des Menschen, sein Drang nach Erkenntnis der Welt, nach ihren Gesetzen ihn dazu befähigen, sich nicht nur klug einzuordnen, sondern über die Welt zu herrschen, während die dumme Kreatur sich nur willenlos fügen kann.

Wo heute noch die Wissenschaft den Erfahrungen der Vorväter störrisch ausweicht, da versucht Renzoni vorauszuerkennen mithilfe der Alten und des Hundertjährigen Kalenders. Nicht erklärbare merkwürdige Naturerscheinungen, von denen er aus der Zeitung erfährt, fesseln ihn. Sein Wissen um das Zusammenwirken von irdischen und himmlischen Kräften, um die Abläufe der Jahreszeiten ist ihm in den letzten Jahren sehr zustattengekommen, als ihm die täglichen Spaziergänge verwehrt waren und er mehr und mehr in seiner Kammer bleiben musste, ohne in den Wintern mit Leichtigkeit auf die Sommer zu warten. Bitter kam ihn jeder Herbsttag an, in Erwartung eines kalten Winters, den er überdauern musste, um sein Lebenswerk zu vollbringen. Er vertiefte sich in das Studium alter Zeitungen, verglich ihre Wettervoraussagen mit denen der neuen, tröstete sich mit der Gewissheit lauer Winter, wenn solche abzusehen waren, stellte sich auch tapfer auf übermäßig harte und frostige ein, freute sich an kalten Frühlingstagen auf lange Sommer, mit dessen Ende auch wieder ein neuer Geburtstag kam, und er hatte seinem müden, gebrechlichen Körper ein weiteres Jahr abgelistet.

Was wusste die Nachbarin, diese einfältige Frau, von seinem Plan, als sie ihn in ein Altersheim bringen wollte. Hatte er doch sein ganzes Leben allein verbracht. Er ist ein Hagestolz. Ein gutes, altmodisches Wort. Allein. Unabhängig.

Natürlich dachte sie dabei an sich. Sie wollte keinen Ärger mit ihm haben, wenn es einmal soweit war. Aber wenn er in seinem Leben auch noch niemandem zur Last gefallen war und alles so eingerichtet hat, dass er niemanden braucht, auf Frau Rüger und ihre Angst, ihn einmal tot in seinem Bett zu finden, kann er keine Rücksicht nehmen. Dieses eine Mal ist er rücksichtslos. Aus diesem Zimmer geht er nicht mehr weg.

Frau Rüger, ich geh nicht ins Altersheim. Eher häng ich mich auf, so hatte er ihr, auf ihre nicht enden wollende Tirade vom gemütlichen Klubraum, geantwortet und darauf, dass sie doch nur das Beste für ihn wolle.

Sie hatte ihn verstört angesehen. Darauf war sie nicht gefasst. Er auch nicht, aber die Wirkung seiner Worte gab ihm recht, und im Übrigen hätte er es wirklich fertiggebracht. Ihn durfte keiner mehr zwingen. Es war sein einziges Leben. Und die letzten Jahre und bald vielleicht die letzten Tage ließ er sich nicht wegnehmen. Heute ist sein Plan gelungen. Renzoni hat das Ziel erreicht, und er fühlt sich leicht und befreit. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon, hieß es. So war denn sein Leben mehr als köstlich. Ohne Kinder, ohne Enkel. Aber ist das so wichtig, das eigen Fleisch und Blut? Er weiß ein paar junge Menschen, die ihn, den Onkel Renzoni, aus alter Kinderanhänglichkeit duzen, als einzige im Ort. Ist es von Bedeutung, dass sie nicht von seinem Fleisch kommen? Sie lieben ihn auf ihre Art, ein bisschen vergesslich und mit vielen anderen Dingen beschäftigt, so wie all die jungen Menschen heute.

Auch zur Nachbarin kommt selten Besuch. Dabei hat sie einen Sohn und Enkel. Aber der Sohn zog aus dem kleinen Gottshut weg. Was soll ich in dem Nest, hat er zur Mutter gesagt. Frau Rüger kränkt sich, er ist ihr Einziger. Und wegen ihres lärmigen Wesens wurde sie auch nicht warm mit den stillen, trotz ihrer äußeren Freundlichkeit ein wenig hochmütigen Einwohnern, die auf ihre zweihundertfünfzigjährige Geschichte stolz sind. Einige leiten sich noch von den wegen ihres Glaubens aus Böhmen und Mähren vertriebenen Gründern ab. Die Nachbarin aber ist eine Zugezogene wie auch Renzoni. Dennoch passt er mehr hierher, und er muss nicht um die Gunst der Alteingesessenen besorgt sein, die ohnehin nicht zu erbetteln ist oder sich verdienen lässt.

Jetzt braucht die Nachbarin ihn, den alten Mann, so allein ist sie, und vor Jahren konnte sie sich nicht genug über den vornehmen Klavierklimperer mokieren. Die Demütigungen an der gemeinsamen Wasserstelle im Flur sind bis heute nicht vergessen. Aus ihrem Mund ergoss sich oft ein Schwall von Beleidigungen gegen ihn, dessen Kammer der Nachbarin noch gut zu ihrer Wohnung gepasst hätte. Aber er wusste sich auf seine Weise zu wehren, mit kühler Geringschätzung. Er ließ sie auf dem Flur stehen und verschwand wortlos mit der vollen Porzellankanne in seiner Kammer. Immer allerdings hielt er die Formen der Höflichkeit ein. Sein Gruß zum Morgen blieb nie aus. Und sie lernte, an die Tür zu klopfen und auf Antwort zu warten, ehe sie die Kammer betrat, um gegen ein geringes Entgelt bei ihm sauber zu machen.

Nach dem Tode ihres Mannes veränderte sie sich sehr. Sie musste ihn sehr gebraucht haben, diesen stillen unscheinbaren Menschen. Renzoni sah zu, wie sie begann, sonntags in die Kirche zu gehen. Nicht in die der Einheimischen, sondern in die der Zugezogenen. Sie wurde älter, und ihr Gezeter verlor an Kraft. Schon freute es ihn, wenn sich ihre schrille Stimme einmal vor Wut überschlug. Aber auch dann hatte sie nicht mehr die Ausdauer der jungen Frau, als die er sie kennengelernt hatte. Sie hörte mit einem Mal auf, seufzte und beklagte sich weinerlich bei ihrem Gott über das böse Schicksal, das er ihr zugeteilt hatte.

Die Sonne hat jetzt auf ihrer täglichen Runde das Zimmer des alten Mannes erreicht. Sie scheint in das kahle Fenster, auf das Gesicht Renzonis.

Die Nachbarin stößt die Tür auf. Sie trägt einen Kuchen, der etwas Schlagseite hat, in der Mitte brennt eine Kerze. Hinter Frau Rüger ist der Enkel zu sehen mit einem kleinen Strauß Rosen in der Hand.

Herr Renzoni! Ihre Stimme schnappt über vor Aufregung. Sie stellt den Kuchen auf den Tisch und beginnt zu schluchzen.

Renzoni steht langsam auf, würdevoll. Die Nachbarin hält den großen Mann, der von einem Windstoß umgeworfen werden kann, an den Händen. Dann küsst sie diese Hände. Renzoni sieht verwundert auf die runde kleine Frau mit den noch beinahe schwarzen Haaren und dem flachen, von Faltenfäden durchzogenen Gesicht. Er streicht ihr behutsam über den Kopf. Aber, Frau Rüger.

Alle, die er erwartete, kamen an diesem Tage, und manche hat er seit Jahren nicht mehr gesehen. Die Nachbarin schaffte Eimer heran, für die vielen Blumen. Er bot von seinen Likörchen an und duldete nicht, dass jemand ablehnte. Die Nachbarin brachte die wenigen Briefe, die für ihn gekommen waren. Sie hatte alle für diesen Tag aufgehoben.

Im November fand ihn die Nachbarin still im Bett liegend. Er brauchte nie mehr aufzustehen und durfte es sich leisten, vom Leben auszuruhen.

Das Mädchen Mirka

Kazimirs plumper Syrena bremste und bog in einen ausgefahrenen Waldweg ein. Gerd und Elke fuhren ihm nach und sahen einen mit Grün überwucherten Holzzaun zu beiden Seiten des Weges, sonst deutete nichts auf ein abgeschlossenes Grundstück hin. Rechts begrenzten Laubbäume den Weg, Nadelwald schloss sich an, in dem vereinzelt Buchen und Birken wuchsen. Auf der anderen Seite lag eine große Wiese, das hohe Gras war an einigen Stellen niedergetreten oder vom Wind flach gedrückt. Weit hinten stand ein massives Haus, Fichten umrahmten das Dach und hoben sich dunkel vom klaren Herbsthimmel ab. Die hellen Fahrspuren im Rasen führten seitlich am Hauseingang vorbei und tiefer in den Wald hinein.

Der Syrena hielt unter einer Eiche in der Nähe des Hauses. Gerd stellte seinen olivgrünen Wartburg hinter Kazimirs Wagen. Kazimir ließ die Tür nach hinten fallen und sprang aus dem Syrena, hastig und übereifrig, wie Elke den hageren Mittfünfziger kannte. Dann kletterte etwas mühsam Kazimirs Frau aus dem unbequemen Fahrzeug. Ihr folgten die Dogge Ami und ein kleiner Junge mit auffällig blasser Gesichtsfarbe und hellen Haaren. Nachdem Kazimirs Frau ihr Seidenkleid geglättet hatte, ging sie mit dem Jungen ins Haus. Kazimir blieb stehen und sah voller Erwartung zu Elke und Gerd.

Hier kann man leben, nicht? sagte Gerd.

Elke lächelte. Wir sind doch noch gar nicht da. Komm. Kazimir wartet. Gerd gab ihr einen Klaps auf den Arm.

 

Sie stiegen aus und warfen mit genau abgemessenen Bewegungen die Türen zu. Kazimir begleitete sie in das Haus. Von einem großen Flur mit Steinfußboden gingen nach allen Seiten Türen ab. Der Flur war dunkel und kühl.

Frau Elke, wissen Sie, wo wir hier sind?

Nein. Immer wandte sich Kazimir an sie, wenn er etwas zu erklären hatte. Als ob es Gerd nicht gäbe. War es nur übergroße Höflichkeit und die sprichwörtliche Galanterie der polnischen Männer? Sie empfand Kazimir als einen liebenswürdigen, etwas komischen alten Herrn mit guten Manieren.

In einem Försterhaus. Eine Überraschung. Kazimir lächelte vergnügt, und die Furchen in seinem Gesicht vertieften sich.

Das ist großartig, sagte Gerd. Elke bestätigte es.

Wir wollen halten mit Freunden ein Picknick, erklärte Kazimir.

Sie sahen in einen Raum, der unbewohnt wirkte. Er schien nur zum Feiern benutzt zu werden. Außer zwei aneinandergestellten Tischen und Stühlen fiel zunächst noch ein Büfett auf. Ein Mann wollte gerade Stühle aus dem Raum tragen. Beim Anblick der neuen Gäste setzte er sie ab. Kazimir machte Elke und Gerd mit ihm bekannt. Elke bemerkte, dass der Mann ein nettes, bescheidenes Lächeln hatte.

In der großen, gefliesten Küche trafen sie auf Frauen, die mit den Vorbereitungen für das Picknick beschäftigt waren. Sie lachten, redeten sehr schnell miteinander und schienen in ihrem Element. Wieder beeindruckte Elke Kazimirs Frau, die eine wunderbare Stimme hatte, tief und ruhig, und der Klang blieb noch eine Weile im Ohr. Sie strömte sehr viel Ruhe aus, diese immer noch schöne, etwas massig gewordene Frau.

Neue Gesichter tauchten in der Küchentür auf, und die Frauen scheuchten schließlich Kazimir, Elke und Gerd nach draußen, wo inzwischen Campingtische und Stühle aufgestellt waren.

Elke setzte sich und wartete.

Gerd wanderte mit Kazimir auf und ab. Elke sah sein rosiges, rundes Gesicht mit den beinahe gelben, kurzen Haaren und den glänzenden kleinen Augen, die auf Kazimir starrten, bemüht, alles zu verstehen. Kazimir sprach um so schlechter Deutsch, je länger er redete. Seine Konzentration ließ nach. Gerd wirkte trotz seines gewölbten Rückens und des kleinen Bauchansatzes immer noch wie ein Junge. Und irgendwie sah sie in ihm auch den großen Jungen, der besessen war von der Arbeit, so wie wahrscheinlich als Kind vom Spiel.

Er nahm alle Angelegenheiten sehr ernst, und die Überlegenheit, die sie an anderen Männern beobachtete, schien ihm zu fehlen. Selbst wenn sie im Sommer für einige Wochen zum Heimaturlaub zurückkehrten und an ihrem See in Mecklenburg Urlaub machten, veränderte er sich kaum. Er saß stundenlang und angelte, während sie sich im Haus aufhielt, das sie sich vor einigen Jahren gekauft hatten. Er mochte es auch, wenn sie still neben ihm hockte. Dann war er sehr glücklich. Andererseits liebte er die Hektik, die sein Beruf als Journalist mit sich brachte.

Im Gegensatz zu Frauen anderer im Ausland eingesetzter Männer brauchte Gerd ihre Arbeit. In ihren Händen lag ein Teil der Organisation, und Gerd musste sich auf sie verlassen können. Die Angst vor großen Terminen verlor sie niemals völlig, und erst, wenn alles gut überstanden war, empfanden sie gemeinsam Erleichterung, ein Gefühl, das sie einander sehr nahe brachte.

Sie sah immer wieder neue Länder, neue Menschen, die sie ohne Gerd nie kennengelernt hätte. Seit einem Jahr lebten sie in Nairobi, selten hatten sie sich so wohl gefühlt wie dort. So störte es sie nicht, dass sie im Ausland nur die Sachbearbeiterin ihres Mannes war, obwohl sie ebenso wie Gerd studiert hatte. Auch wenn sie wieder nach Hause zurückkamen, blieb der Rangunterschied. Dann übte er eine Leitungsfunktion aus, während sie als Redakteur arbeitete. Das empfand sie als gerecht. Sie war stolz, seine Frau zu sein, und man wusste auch, wie viel von ihrer Arbeit abhing.

Kazimir winkte ihr zu. Mit der Hornbrille, den ständig erstaunten Augen, den fahrigen Bewegungen, der Unruhe, die von ihm ausging, erinnerte er sie an ihre Großmutter. In seiner eine Handbreit über die Knie reichenden Popelinehose erschien er ein klein wenig lächerlich.

Zwei jüngere Männer setzten sich an die Stirnseite des Tisches. Der eine hatte dichtes, zurückgekämmtes blondes Haar. Tiefe Falten standen senkrecht über der Nase. Sie erinnerte sich, er hatte bei der Begrüßung so nett gelächelt. Der andere war schmal, fast zierlich. Seine weit auseinanderstehenden Augen beunruhigten sie. Er sog an seiner Pfeife und warf dem anderen hin und wieder ein paar Worte hin.

Elke stand auf, lief ein wenig umher und setzte sich auf die Wiese. Gerd sah abwesend zu ihr herüber, einer der beiden Männer am Tisch fragte ihn etwas, und Kazimir übersetzte. Dann begannen sie ein Gespräch, an dem Gerd trotz seiner geringen Sprachkenntnisse teilnahm. Es schien sich zu einem der überaus ernsthaften Männergespräche auszuwachsen, die Elke kannte und die ihr das Gefühl gaben, das Funktionieren des Staates hinge einzig und allein von den, am Gespräch, Beteiligten ab.

Sie schloss die Augen und sah in die Sonne, die sich kreisend auf sie zu bewegte. Dann wurde das Kreisen langsamer und langsamer. Sie werden mich schon rufen, dachte Elke, und dann verdunkelte sich die Sonne. Sie öffnete die Augen. Es war der Schatten, den ein Kind warf. Ein Mädchen, kräftig und schmal, mit blonden Haaren, die in das dreieckige, gebräunte Gesicht fielen, und blauen Augenschlitzen, aus denen sie Elke aufmerksam und scheu betrachtete.

Elke lächelte probeweise.

Das Mädchen setzte seinen Weg über die Wiese fort, mit nachlässiger Anmut.

Die Ruhe wurde von den heiseren Schreien eines kleinen, stämmigen Jungen unterbrochen. Er lief an den Männern vorbei, einen großen Stock in der Hand und eine Uniformmütze auf dem Kopf, die ihm bis zur Nase hinunter hing. Sie schaukelte beim Laufen hin und her. Ihm folgte der blasse Junge. Er stimmte in das Geschrei des anderen ein.

Elke sah, wie die Männer in ihrem Gespräch innehielten und auf die beiden Jungen schauten, eine Bemerkung über sie machten. Dann lachten sie laut.

Auch die Jungen gehören schon zu dieser von Männern regierten Welt, dachte Elke und bemerkte die leichte Gereiztheit, die in ihrer Feststellung lag.

Die Frauen schafften Schüsseln und Teller aus dem Haus heran, verteilten sie über die Tische und setzten sich.

Gerd hielt den Platz neben sich für Elke frei. Na, wie geht's? sagte er gut gelaunt.

Elke nickte mehrere Male und brummte zustimmend. Selten war Gerd so gelöst wie jetzt, das gefiel ihr.

Jemand legte Gerd eine Pastete auf den Teller. Gerd machte Elke mit der Hand ein Zeichen. Schnell sah sie sich nach allen Seiten um und nahm sie auf ihren Teller.

Ein richtiges altes Ehepaar sind wir, dachte sie und lächelte vor sich hin.

Die Männer lobten das Essen. Auch Elke sagte etwas Freundliches.

Die Frauen freuten sich.

Sie blieben lange am Tisch sitzen. Eine Frau in engen Flanellhosen neckte Kazimirs Dogge Ami, der ständig Speichel aus dem hässlichen Maul tropfte.

Schließlich kugelte sie mit dem Hund über die Wiese.

Elke half den Frauen, den Tisch abzuräumen, dann setzte sie sich zu den Männern, die rauchten und träge in die Sonne blinzelten. Jeder war mit sich selbst beschäftigt.

Elke hörte auf das leise Rauschen der Bäume und fühlte sich leicht und klein werden, eins mit der Natur, aus der sie kam und in die sie wieder gehen würde, irgendwann, ohne Schmerz. Sie wunderte sich über die ihr fremden Gedanken. War sie müde geworden?

Sie war ganz in sich versunken, als das Mädchen sie berührte. In der Hand einen Strauß Wiesenblumen.

Dziekuje, sagte Elke. Sie blickte das Mädchen an und lächelte. Dann überlegte sie, was sie noch sagen könnte. Imie - Elke. Sie zeigte mit der Hand auf sich.

Das Mädchen verstand und nickte erfreut - Mirka.

Elke sah sie fragend an.

Das Mädchen zog sie an der Hand zu einer Sandfläche hin und schrieb mit den Fingern: Mirka.

Tak, tak, sagte Elke und lobte den Namen: Bardzo dobrze.

Mirka strahlte.

Nach einer Weile tauchte das Kind mit einem zweiten Blumenstrauß auf und gab ihn Gerd.

Danke, sagte Gerd und lächelte unbeholfen. Er behielt den Strauß eine Weile, bis sich Elke erbarmte und ihn aus seinen Händen nahm. Er schüttelte den Kopf. Kleine Mädchen müssen wohl immer Blumen pflücken? Erkundigte er sich.

Die meisten schon. Sie lachte ihn aus.

Kazimir stand auf. Frau Elke, wir werden alle in den Wald gehen. Sie auch?

Mirka sah Elke erwartungsvoll an.

Gerd nickte zustimmend.

Ja, selbstverständlich kommen wir mit, sagte Elke. Eine kräftige kleine Hand schlüpfte in die ihre. Sie wusste nicht, ob ihr das angenehm war. Lieber hätte sie die Hand wieder losgelassen.