Buch lesen: «Mord im Auwald»

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Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt. Zum Schreiben kam sie vor rund zwanzig Jahren. Zuerst verfasste sie Kinderbücher und pädagogische Fachbücher. Seit rund zehn Jahren widmet sie sich dem historischen Roman und seit »Tod am Semmering« auch dem Kriminalroman. 2019 war sie mit »Mord auf der Donau« für den Leo-Perutz-Preis nominiert.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.


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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/standa_art

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Christine Derrer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-654-8

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Wer einen Sinn hat für das Hässliche,

dem muss auf Erden wohl sein.

Gustav Klimt

PROLOG

Kritzendorf bei Wien, 1912

Das laute Quaken der Frösche übertönte das Surren der Insekten und erfüllte den Raum wie laute Musik. Eine sanfte Brise bewegte die dünnen Vorhänge vor den weit geöffneten Fenstern. Sie boten nur wenig Schutz vor den Gelsen, die in riesigen dunklen Schwärmen aus dem sumpfigen Auwald aufstiegen, sobald die Sonne unterging. Der Geruch nach Farnen, Sumpfpflanzen und Wasser waberte in den Raum und mischte sich mit dem von Tabak und Wein. Die Rauchschwaden der zwei glimmenden Zigaretten halfen dabei, die blutsaugenden Mücken auf Abstand zu halten. Ebenso die Dämpfe des Lösungsmittels Terpentin.

»Ich brauche mehr Licht.«

Verärgert stieß der Künstler hinter der Staffelei seinen Pinsel in ein Glas. Es war nicht die fehlende Helligkeit, die verantwortlich dafür war, dass das Gemälde auf der Leinwand nicht seinen Vorstellungen entsprach. Der Maler beherrschte sein Handwerk und konnte die weiblichen Rundungen seines Modells mit der Präzision eines Fotoapparats wiedergeben. Aber trotz der naturgetreuen Darstellung schien die Schönheit der Frau auf dem Gemälde austauschbar. Die gebräunte Haut war ebenmäßig, ihr seidiges Haar glänzte und ihr Körper war makellos. Dennoch war es dem Maler nicht gelungen, die erotische Anziehungskraft seines Modells festzuhalten. Die magische Weiblichkeit, die die stickige Luft in dem niedrigen Raum der hölzernen Badehütte zum Knistern brachte.

»Lass mich sehen!«

Mit der Geschmeidigkeit einer Katze stand die Frau vom Sofa auf. Sie verzichtete auf den seidenen Schal, mit dem sie ihre Nacktheit bedeckt hatte, und ließ ihn achtlos zu Boden gleiten. Wie Gott sie geschaffen hatte, lief sie leichtfüßig über den Holzfußboden und trat ganz nah neben den Künstler. Auch er war nicht vollständig bekleidet und trug bloß seinen Malerkittel.

»Hm.« Sie zog einen Schmollmund. »Vielleicht sollte ich mir eine Perlenkette umhängen. Die würde dem Bild mehr Glanz verleihen.«

»Das würde auch nicht helfen, das Gemälde ist schlecht.« Verärgert schob er die Leinwand mit einem heftigen Ruck zur Seite. Das Glas mit den Pinseln fiel klirrend zu Boden, blieb aber unversehrt, nur die Ölfarbe hinterließ rote Flecken auf den Holzdielen.

»Verdammt!« Er schrie so laut, dass sie zusammenzuckte. Dabei ballte er seine Hände zu Fäusten. Nicht der Fleck am Boden brachte sein Blut zum Kochen, es war die Erkenntnis, dass er ein mittelmäßiger Maler war und niemals in den Olymp der gefeierten Künstler aufsteigen würde. Dafür hasste er sich. Das Einzige, was ihn vielleicht von anderen Malern unterschied, waren seine gnadenlose Selbstkritik und sein Jähzorn.

»Lass uns eine Pause machen.« Die Frau kam näher, schmiegte sich an seinen Rücken und strich ihm von hinten verführerisch über die Brust. Sie war sich der Macht ihres Körpers bewusst und setzte ihn gekonnt ein. Unter ihren Fingern verwandelte sich männlicher Zorn in Lust. Abrupt drehte der Maler sich zu ihr. Sie lachte mit verrucht rauchiger Stimme, warf den Kopf in den Nacken und streckte ihm ihren nackten Körper einladend entgegen. Doch bevor er zugreifen konnte, sprang sie zurück, lief kokett zum Sofa, ergriff den Seidenschal und hüllte ihren Körper darin ein.

»Versprichst du mir, dass wir das Bild mit einer Kette weitermalen?« Der Seidenschal war dünn, er verhüllte ihre Kurven, ließ gleichzeitig der Phantasie genügend Spielraum, um das Verlangen zu steigern. »Ich will glamourös aussehen und nicht wie eine beliebige Nackte auf einem langweiligen, verstaubten Uraltschinken im Museum.«

Beinahe hätten ihre Worte seinen Ärger zurückgeholt. Vielleicht hatte sie recht. Eine doppelreihige Halskette zwischen ihrem Busen würde dem Bild mehr Reiz verleihen.

»Du weißt, dass ich dir in diesem Zustand alles verspreche«, sagte er heiser.

»Ich weiß aber auch, dass du nur einen Teil deiner Versprechen einlöst.« Sie zog den Schal enger um ihren Körper.

»Wir beenden das Bild mit einem Schmuckstück, versprochen.« Das Feuer der Leidenschaft brannte in ihm und drohte ihn völlig um den Verstand zu bringen.

»Zeig mir die Kette!«

»Später.« Das Sprechen fiel ihm schwer.

»Ich will sie jetzt sehen.« Sie war hartnäckig.

Hastig wandte er sich um, ging ins Schlafzimmer und griff wahllos nach einem der Schmuckstücke in der offenen Kassette, die auf der kleinen Kommode stand. Er zog eine lange Perlenkette heraus. Die weißen, glänzenden Kugeln wogen schwer in seiner Hand. Jede Perle hatte die perfekte Form und schimmerte im Halbdunkel wie ein kleines Juwel. So als handelte es sich bloß um eine billige Imitation, ließ er das wertvolle Stück achtlos auf seinem Zeigefinger baumeln.

»Was sagst du dazu? Sie gehört dir.«

Ihr gieriger Blick verriet ihm mehr, als jedes Wort es vermocht hätte.

Mit einem zufriedenen Lächeln ließ sie den Schal an ihrem Körper entlanggleiten. Geräuschlos segelte er auf die Holzplanken, wo er liegen blieb.

Erregt von dem Bild, das sich ihm bot, trat er zu ihr, hängte die Kette geschickt um ihren Hals. Die kühlen Perlen schmiegten sich zwischen ihre vollen Brüste. Sie lachte. Als er sich zu ihr beugen wollte, um endlich das zu bekommen, wonach er sich sehnte, hörte er die Schritte auf der hölzernen Terrasse. Jemand beobachtete sie. Erschrocken fuhr er herum, stürzte zur Tür und riss sie auf. Warme, sumpfige Auwaldluft schlug ihm entgegen.

»Wer ist da?«

Er sah nur noch den Schatten einer Person im Garten verschwinden. Sehnsuchtsvoll warf er einen letzten Blick auf die Frau, bevor er sich umdrehte und in die Nacht hinausrannte.

EINS

Wien, August 1924

»Heute Nacht werde ich mein Bettzeug in den Garten tragen und in der Laube schlafen. Es ist einfach zu heiß hier drinnen.«

Anton fächerte sich Luft mit dem Sportteil der Tageszeitung zu. Seit Wochen lähmte eine Hitzewelle das Leben in Wien. Die asphaltierten Straßen glühten, und die Luft darüber flimmerte. Die Menschen versuchten sich ausschließlich im Schatten zu bewegen, um jeden Schritt in die Sonne zu vermeiden. Um die Mittagszeit, wenn die Sonne im Zenit stand, war die Stadt wie ausgestorben. Wer es sich leisten konnte und nicht arbeiten musste, drängte in die großen Freiluftbäder wie das Gänsehäufel in der Alten Donau oder das Krapfenwaldlbad in Döbling.

Anton war Apotheker im Ruhestand. Vor zwei Jahren hatte seine Tochter Heide das Geschäft übernommen und leitete es mittlerweile mit großem Erfolg. Wenn Not am Mann war, sprang Anton helfend ein. Besonders im Winter, während der Grippezeit, unterstützte er Heide tatkräftig. Im Moment gab es nicht viel zu tun. Die Kunden verlangten hauptsächlich nach Salben gegen Insektenstiche und Sonnenbrand. Hin und wieder brauchte jemand Schmerzmittel oder Ohrentropfen.

»Warum fährst du nicht ein paar Tage nach Kritzendorf?«, fragte seine Tochter Heide.

Wie zahllose andere junge Frauen war Heide im letzten Kriegsjahr Witwe geworden. Ihre Tochter Rosa hatte ihren Vater nie kennengelernt. Viele Jahre hatte Heide um ihren Mann getrauert, bis vor zwei Jahren Erich Felsberg, ein junger Polizist, in ihr Leben getreten war und ihr dabei geholfen hatte, ihre Zukunft wieder in einem neuen Licht zu sehen.

»Simon Goldblatt hat dir doch auch in diesem Jahr angeboten, dass du seine Badehütte nutzen kannst. Jetzt wäre die beste Gelegenheit dazu.«

Anton legte die Zeitung auf den Tisch. Sein alter Schulfreund, der Rechtsanwalt Simon Goldblatt, hatte von seiner Tante eine Badehütte geerbt, die die meiste Zeit des Jahres leer stand. Goldblatt verbrachte seine Sommer lieber in den Bergen, wo die Luft klar und frisch war und in den Nächten die Temperaturen deutlich sanken.

»Ich soll allein nach Kritzendorf fahren?«, fragte Anton.

»Natürlich nicht allein. Rosa wird begeistert sein. Sie beschwert sich ohnehin seit Tagen, dass ihre Sommerferien langweilig sind.«

Rosa war Antons siebenjährige Enkeltochter, sie hatte eben die erste Klasse hinter sich gebracht.

»Wie kann Rosa fad sein?«, fragte Anton.

Heide lachte. »Stimmt, seit Minna im Haus ist, darf sich niemand über Langeweile beklagen.«

Minna war eine Cockerspaniel-Dame, die seit vier Wochen die Wohnung mit Heide, Rosa und Anton teilte. Monatelang hatte Rosa ihrer Mutter und ihrem Großvater in den Ohren gelegen, bis Heide schließlich nachgegeben hatte. Seither war Antons beschauliches Leben deutlich turbulenter und anstrengender geworden. Lange, ausgedehnte Spaziergänge gehörten zum neuen Alltag.

»Außerdem gibt es da eine ganz bestimme Person, von der ich annehme, dass du sie gern in Kritzendorf dabeihaben würdest.« Heide legte den Kopf schräg und grinste vielsagend, sodass Anton errötete und sich verlegen räusperte. »Sicher wird Ernestine mitkommen, wenn du sie fragst.«

Ernestine Kirsch war eine pensionierte Lateinlehrerin, an die Anton eine kleine Mansardenwohnung über seiner Apotheke vermietete. Wenn er an sie dachte, wurde ihm heiß und sein Herz schlug einen jugendlich schnellen Rhythmus. In den letzten Jahren hatten die beiden viel Zeit miteinander verbracht, sie hatten so manches Abenteuer bestanden und waren sich dabei nähergekommen. Im Frühjahr waren sie gemeinsam auf Kur in Baden gewesen. Seither duzten sie sich.

»Möglich, dass sie mich und Rosa begleiten würde«, sagte er.

In Gedanken ging er das Gespräch durch. Die Chancen standen gut, dass Ernestine mitkommen wollte. Das Strombad Kritzendorf war eines der beliebtesten Naherholungsgebiete der Großstadt. Es wurde auch liebevoll die Wiener Riviera genannt. Jedes Wochenende fuhren bis zu zehntausend Menschen mit der Franz-Josefs-Bahn in die Donauauen, um dort Freiheit und Naturerlebnis zu genießen. Im Musikpavillon spielten die Wiener Symphoniker, und die Menschen tanzten im Badekostüm dazu. Dieses Ambiente war genau nach Ernestines Geschmack.

»Aber was ist mit Minna?«, fragte Anton.

Nun war es Heide, die sich verlegen räusperte.

»Darf ich dich daran erinnern, dass ich keinen Hund wollte«, sagte Anton streng.

»Wie soll ich mich denn um die Apotheke kümmern, wenn –« Weiter kam sie nicht, denn genau in dem Moment öffnete sich die Wohnungstür. Die Cockerspaniel-Dame sauste ins Wohnzimmer. Ein semmelbraunes Fellknäuel mit Schlappohren lief direkt zu Anton und begrüßte ihn mit so viel Freude und Überschwang, dass man meinen könnte, sie hätte ihn seit Tagen nicht gesehen. Dabei war Rosa gerade mal eine halbe Stunde mit ihr spazieren gewesen. Heide schenkte sie keine Beachtung.

»Sie liebt dich«, sagte Heide.

»Hm!« Anton bückte sich und kraulte Minna hinter den Ohren.

Die junge Hündin stieß ihn mit der feuchten Schnauze gegen das Bein und sah ihn mit treuherzigen Augen an. Sie vermittelte den Eindruck, als sei sie die bravste Hündin auf Gottes Erdboden, dabei hatte sie heute Morgen Antons Lieblingshausschuhe zerkaut.

»Meinetwegen«, gab Anton nach. »Wir nehmen Minna mit.«

»Wohin nehmen wir Minna mit?«, fragte Rosa.

Sie war im letzten Jahr um ein gutes Stück gewachsen. Der Rock, der vor Kurzem noch ihre Knie bedeckt hatte, zeigte jetzt vom Spielen aufgeschürfte Hautstellen.

»Wir beide ziehen mit Minna bis zum Ferienende nach Kritzendorf«, sagte Anton. »Mit etwas Glück können wir Ernestine dazu überreden, uns zu begleiten.«

»Drei Wochen im Strombad?« Rosa klatschte vor Begeisterung in die Hände und hüpfte aufgeregt auf und ab. Ihre geflochtenen Zöpfe wippten dabei fröhlich mit.

»Ich muss meinen alten Schulfreund anrufen und nachfragen, ob sein Angebot noch steht.«

Seit ein paar Monaten hatten Anton und Heide einen Telefonanaschluss in der Apotheke. Rosa lief zur Wohnungstür. Minna sprang ihr hinterher.

»Wo gehst du hin?«, rief ihr Heide nach.

»Zu Ernestine. Wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen packen.«

Schon war sie im Stiegenhaus und polterte die Stufen hinauf zur Mansardenwohnung.

»Besser du rufst Simon Goldblatt gleich an«, meinte Heide. »Wie ich Ernestine kenne, werdet ihr morgen Früh im ersten Zug Richtung Kritzendorf sitzen.«

ZWEI

Sie nahmen nicht den ersten Zug, aber bereits um zehn Uhr am Vormittag befanden sich Anton, Ernestine, Rosa und Minna in der Franz-Josefs-Bahn. Sie hatten Plätze im vorderen Teil ergattert, was ein Glück war. Da die Lokomotive sich in der Mitte des Zuges befand, um die Waggons sowohl ziehen als auch schieben zu können, wurden die Passagiere in den hinteren Wägen vom Rauch der Kohle eingehüllt. Da half es auch nicht, die Fenster geschlossen zu halten.

»Hoffentlich habe ich nichts vergessen«, sagte Ernestine.

Genau wie Anton es erwartet hatte, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte noch gestern Abend damit begonnen, ihren Koffer zu packen, der jetzt in der Gepäckablage über ihr lag.

»Wie passend, dass ich letzte Woche im Kaufhaus Herzmansky auf der Mariahilfer Straße ein neues Badekostüm erstanden habe.« Ernestine rieb sich zufrieden die Hände. »Wer hätte gedacht, dass ich es so schnell ausführen kann.«

»Ich nehme an, dass es das wichtigste Kleidungsstück der nächsten drei Wochen sein wird«, sagte Anton.

Die Vorstellung, Ernestine drei Wochen im Badekostüm zu sehen, gefiel ihm. Er mochte ihre Rundungen, ebenso wie ihre grauen Locken und ihre blitzblauen Augen, denen selten etwas entging.

»Wir tragen drei Wochen nur einen Badeanzug?«, fragte Rosa erstaunt.

»Hin und wieder vielleicht auch einen Bademantel«, lachte Ernestine.

»Das glauben mir meine Freunde in der Schule nie!« Rosa strahlte. Sie konnte es kaum erwarten, nach Kritzendorf zu kommen.

»Es ist wirklich sehr großzügig von deinem Jugendfreund, dass er uns seine Badehütte zur Verfügung stellt«, sagte Ernestine zu Anton.

»Simon ist froh, dass die Hütte nicht leer steht. Den Schlüssel sollen wir bei seiner Nachbarin abholen, einer Frau Violetta Mader. Angeblich hat sie eine Tochter in Rosas Alter.«

»Oh, fein. Hoffentlich ist sie nett.« Rosa rutschte vorfreudig auf der Holzbank hin und her. Aufgeregt presste sie ihr Gesicht so nah an die Fensterscheibe, dass ihre Nase einen Abdruck hinterließ. Draußen zog die Donau an ihnen vorbei.

»Ist hier noch frei?«

Eine Frau um die fünfzig zeigte auf den freien Platz neben Rosa. Sie trug ein altmodisches, hochgeschlossenes Kleid, das längst aus der Mode gekommen war und für die Temperaturen viel zu warm war. In ihrer Rechten hielt sie eine geblümte Reisetasche. Um ihren Hals hing eine goldene Kette mit einem schlichten goldenen Kreuz.

»Ja, natürlich. Wenn Sie unser Hund nicht stört«, sagte Anton. Minna war aufgesprungen und beschnupperte die Frau.

»Minna tut Ihnen nichts«, versicherte Rosa. »Sitz, Minna.« Sie drückte das Hinterteil des Cockerspaniels nach unten. Sofort sprang Minna wieder auf.

Nun versuchte Anton, den Hund zu bändigen. Minna schleckte ihm übers Gesicht. »Igitt, Minna. Pfui!« Angeekelt holte er sein kariertes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte über die nasse Stelle.

»Sitz«, mischte sich Ernestine ein. Sofort setzte sich Minna und verharrte in dieser Stellung. Hechelnd sah sie zu Ernestine hoch.

»Wie machst du das?«, fragte Anton.

»Natürliche Autorität.«

Die Frau nahm neben Rosa Platz. Ihre Reisetasche hielt sie auf ihrem Schoß fest.

»Das ist ein sehr schöner Hund«, sagte sie. »Ich mag Hunde.« Sie streckte Minna die Hand entgegen. Die Hündin beschnupperte sie und ließ sich bereitwillig streicheln.

»Haben Sie selbst einen?«, fragte Ernestine.

»Ich nicht, aber die Frau, für die ich vor Jahren gearbeitet habe, hatte einen. Leider starben Hund und Frauchen in derselben Nacht.«

Ein Schatten legte sich über die farblosen Wangen der Mitreisenden. Mit etwas Schminke hätte sie als attraktiv durchgehen können. Doch sie schien wenig Wert auf ihr Äußeres zu legen. Der graue Farbton ihres Kleides entsprach dem ihres lieblos frisierten Haares.

»Oh, wie traurig. Gab es einen Zusammenhang?« Ernestine war von jeher eine neugierige Person, die am Schicksal anderer interessiert war.

»Das weiß man nicht«, sagte die Frau. »Emma Kopf kam bei einem nächtlichen Badeunfall ums Leben, ihr Hund wurde Tage später ebenfalls tot aus dem Wasser gezogen. Man hat nie erfahren, woran das Tier gestorben ist, es konnte ja schwimmen.«

Anton sah besorgt zu seiner Enkelin. Er fand, dass Rosa zu jung für derlei Schauergeschichten war, aber die Frau redete munter weiter.

»Es gab böse Stimmen, die behaupteten, dass Frau Kopf beim Schwimmen von ihrem eigenen Hund angegriffen wurde und sie deshalb unterging.«

»Was für eine Tragödie«, sagte Ernestine betroffen. »Handelt es sich bei der Verstorbenen um die Frau von dem berühmten Künstler Emil Kopf?«

»Ja, ich habe viele Jahre für die Familie gearbeitet. Ich war das Kindermädchen ihrer Tochter, Klara.«

Ernestine tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Nase. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe damals von dem schlimmen Unfall in der Zeitung gelesen. Die Frau ist ertrunken, obwohl sie eine hervorragende Schwimmerin gewesen ist.«

»Ja, das war sie. Wir waren alle entsetzt. Es konnte auch niemand glauben, dass ausgerechnet der Hund sie getötet haben soll. Es war ein loyales Tier, das ihr wie ein Schatten überallhin gefolgt war. Er hat ebenso treuherzig dreingeschaut wie Ihre Minna.«

»War es auch ein Cockerspaniel?«, fragte Rosa.

»Nein, es war ein größerer Hund, ein Dalmatiner.«

»Oh, die lustigen weißen Hunde mit den schwarzen Punkten?«

Die Frau seufzte. »Man weiß eben nie, was wirklich in einem Tier vorgeht. Auch wenn sie noch so harmlos aussehen, können sie zu gefährlichen Bestien werden.«

»Nicht meine Minna«, sagte Rosa entschieden. Sie hielt der Hundedame die Ohren zu, damit sie die bösen Worte nicht hören konnte.

Anton fand die geschwätzige Frau zunehmend anstrengend. Warum hatte sie sich ausgerechnet zu ihnen gesetzt?

»Stimmt es, dass Emil Kopf in einem Haus in Klosterneuburg wohnt?«, fragte Ernestine.

»Ja, ich bin auf dem Weg zu seiner Tochter. Klara und ich stehen immer noch in engem Kontakt.« Die Frau streckte ihre Hand über die geblümte Reisetasche. »Mein Name ist Martha Kolarik.«

»Sehr erfreut. Ernestine Kirsch.« Sie ergriff die Hand und schüttelte sie. Auch Anton und Rosa stellten sich vor.

»Ach, Sie sind gar keine Familie«, sagte Martha Kolarik überrascht.

»Doch«, mischte sich Rosa ein. »Ernestine gehört zur Familie. Zumindest sagt Mama das.«

»Wirklich?« Ernestine hob amüsiert die Augenbrauen.

Antons Wangen wurden heiß. Plötzlich fand er die Donau unglaublich interessant. Er sah konzentriert aus dem Fenster.

»Dann werden Sie wohl in der Stadt Klosterneuburg wohnen«, mutmaßte Ernestine.

Abwehrend wedelte Martha Kolarik mit der Hand. »Aber nein, ich besuche Klara in der Badehütte ihrer Tante.«

»Wir ziehen auch in eine Badehütte«, sagte Rosa.

»Wie schön. In welche denn?«, wollte Martha Kolarik wissen.

»In die von Herrn Böcks Freund Simon Goldblatt. Er hat derzeit keine Verwendung für die Hütte.«

»Nein, was für ein Zufall. Klaras Hütte liegt ganz in der Nähe. Ich kenne Herrn Goldblatt nur flüchtig. Nutzt er die Hütte überhaupt noch?«

»Simon ist nur sehr selten in Kritzendorf«, sagte Anton und wandte sich wieder vom Fenster weg.

Die Frau schien sich gut in der Sommersiedlung auszukennen.

»Ich komme Klara seit vier Jahren besuchen. Genau genommen seit sie aus dem Internat in der Schweiz zurückgekommen ist.«

»Fräulein Kopf wohnt nicht mehr bei ihrem Vater?« Ernestines Anteilnahme an ihren Mitmenschen war schier grenzenlos.

»Den Sommer verbringt sie in der Badehütte ihrer Tante. Herr Kopf und seine neue Frau haben ebenfalls eine Hütte in der Siedlung. Im Winter ließ es sich bisher nicht vermeiden, dass Klara hin und wieder auch im Haus ihres Vaters in Klosterneuburg lebt. Das wird sich bald ändern. Die Situation ist für alle Beteiligten äußerst unerfreulich.«

»Ich habe gelesen, dass Herr Kopf nach dem Tod seiner Frau wieder geheiratet hat.«

Es war erstaunlich, was Ernestine wusste. Würde Anton sich nicht ausschließlich dem Sportteil widmen, wüsste er vielleicht auch über das Leben bedeutender Künstler Bescheid. Immerhin war ihm bekannt, dass Emil Kopf als berühmtester Bildhauer und Maler der Gegenwart galt.

»Seine neue Frau, Elfriede, ist eine ganz schreckliche Person«, schimpfte Martha Kolarik.

Anton fand es außergewöhnlich, wie freizügig die ehemalige Kinderfrau Privates ihrer Dienstgeber ausplauderte.

»Nächste Station Kritzendorf!« Der Schaffner ging mit schneidender Stimme durch den Waggon.

»Oh, wir sind schon da«, sagte Ernestine. »Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man sich angeregt unterhält.«

»Das stimmt.« Martha Kolarik stand auf. »Ich bin sicher, dass wir uns in den nächsten Tagen wiedersehen werden. Kritzendorf ist klein und überschaubar. Man trifft sich im Strombad und begegnet dort auch den Menschen, denen man lieber aus dem Weg gehen will.« Sie lachte. »Damit meine ich natürlich nicht Sie.«

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