Das Geschenk der Psychothriller-Parodie

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10.

Hustend und prustend erwachte der Trickbetrüger aus seinem Tiefschlaf.

„Uärgh nugh nugh uarghhhh“, machte Merlan, als er versuchte, den Sabber herunterzuschlucken, der sich in seinem Mund angesammelt hatte. Sein Kopf kippte nach vorne, als hätte jemand seinem Nacken einen Schubs gegeben.

Er saß am Tisch, an dem sich zuvor der Autor und sein Agent unterhalten hatten. Vor ihm saß ein Mann komplett gekleidet in Rot-Weiß. Er roch angenehm nach einem Herrenduft, der inzwischen sicherlich nicht mehr hergestellt wurde, weil er nur als vorübergehendes Merchandising-Produkt gedacht war. Der merkwürdige Mann trug eine Zipfelmütze mit einem weißen Bommel, war korpulent und besaß einen langen weißen Rauschebart.

Und irgendetwas an ihm versprühte diese Aura der Geborgenheit. Als hätte ihn dieser Mann bei allem, was Merlan jemals getan hatte, beobachtet.

Erinnerungen aus Merlans Jugend flutschten durch seinen Kopf. Einzelne Stichwörter flammten auf. Er begann, sich zu schämen. Irgendwie kam ihm diese Person bekannt vor, doch er konnte sich einfach nicht erinnern, woher.

„Kann ich Ihnen etwas bringen?“, erinnerte sich Merlans Hirn, dass er in der Gastronomie tätig war.

„Eine große heiße Schokolade mit einer riesigen Portion Sahne“, sagte der Mann, lachte und sein Rauschebart wackelte.

„Kommt sofort“, sagte Merlan, stand auf und ging. Auf dem Weg zur Küche rieb er sich seine Hände in die Schürze.

Es gibt schon komische Dinge, dachte er sich.

Als er die Theke passierte, klingelte die Türe des Restaurants und neue Kundschaft trat ein. Dabei fiel Merlan auf, dass es draußen dunkel geworden war, was nicht sonderlich schwierig war. Immerhin musste dazu nur die Sonne untergehen, was bekanntlich von allein geschah. Meistens zumindest.

Dreißig Mann in dreißig Trenchcoats mit dreißig glatt rasierten Gesichtern, dreißig schwarzen Kurzhaarfrisuren und dreißig schwarzen Fedoras betraten das Restaurant.

„Guten Abend. Wir möchten gerne dreißig identische Mahlzeiten. Alle serviert zur gleichen Uhrzeit, mit der gleichen Temperatur und zum selben Preis. Was können Sie empfehlen?“ Die Stimme hatte etwas Unheimliches. Als gehöre sie einem Roboter und keinem Menschen. Es schien, dass nur der vorderste der Männer sprach, dennoch bewegten alle von ihnen ihren Mund.

Merlan schaute nervös drein. „Wie wäre es mit …“, sagte er und dachte nach, „Rührei?“

„Rührei“, wiederholte der vorderste. Seine Augen schienen zu flackern. „Gekocht aus der Substanz, in der Hühnerembryonen heranwachsen, die sich jedoch aufgrund der fehlenden Befruchtung des Eis nie ausgebildet haben. Sie werde die Eier aufbrechen, ohne Schale in ein Behältnis füllen, erhitzen, verrühren und uns auf einem Teller servieren?“

„So der Plan“, sagte Merlan zuversichtlich.

„Gut. Wir werden uns setzen.“

Die dreißig Männer marschierten an ihm vorbei, arrangierten sich mechanisch einen Tisch, der lang genug war, deckten noch schnell ein und nahmen Platz.

„Na, wenn das mal alle so machen würden“, sagte Merlan und ging in die Küche. Dort schlug er um siebzehn Uhr zweiunddreißig insgesamt zweimal sechzig Eier in sechs verschieden große Pfannen, welche er auf neun Herdplatten erhitzte und anschließend mit drei Gabeln anrichtete (zwei waren ihm heruntergefallen). Er brachte die dreißig Mahlzeiten auf vier Mal mit jeweils zwei Wegstrecken an den Tisch der dreißig Männer. Dabei besaß jeder Gang dreiundsechzig Schritte, wobei der zweite Rückweg sieben Schritte mehr besaß, denn der siebzehnte von den dreißig bestellte noch Getränke für alle, woraufhin Merlan dreißig Gläser hervorholte, die er mit vierzehn Flaschen Cola befüllte und wiederum an den Tisch brachte. Anzahl der Schritte und Gänge sollten entfallen, um nicht allzu sehr ins Detail zu gehen.1

Wie die dreißig da saßen und aßen, kam Merlan der Gedanke, dass er den Kaffee des Herrn in rot-weiß vergessen hatte. Eifrig bereitete er ihn zu und brachte ihn dem an den Tisch.

„Ich wollte eine heiße Schokolade mit viel Sahne!“, protestierte der.

„Oh, bitte entschuldigen Sie“, sagte Merlan und wollte schon wieder mit dem fälschlich zubereiteten Getränk davonlaufen, als ihn der Mann am Handgelenk packte. „Setz dich zu mir. Vergiss den Kakao, ich habe etwas, das ich dir geben möchte.“

„Lassen Sie los“, sagte Merlan. „Sie tun mir weh.“

Der Griff des weiß-rot gekleideten Mannes ließ nach. Rasch folgte eine saftige Ohrfeige, die Merlans Gesicht zur Seite verschob. „Au-a?“, sagte der fragend.

„Sag mir niemals“, sagte der rot-weiße Mann und zeigte mit dem Finger auf Merlan, „niemals, was ich zu tun habe. Hast du verstanden?“

Merlan rieb sich seine schmerzende Backe.

„Und jetzt setz dich hin und nimm dein verdammtes Geschenk entgegen. Äh Präsent meine ich. Ich habe Präsent gesagt!2“, der rot-weiße Mann lehnte sich vor, als würde ihn jemand abhören, und brüllte in alle erdenklichen Richtungen „Präsent Präsent Präsent!“.

Merlan nahm wieder am Tisch Platz, zog den Kaffee zu sich, schüttete den Zucker hinein und begann, umzurühren.

Der rot-weiße Mann schaute verdutzt zu, wie der trickbetrügende Koch und potenzielle Kindermörder sich seinen Kaffee zum Mund führte und auf die heiße Flüssigkeit blies.

„Also?“, fragte Merlan.

„Dein Gedächtnis ist hundsmiserabel, weißt du überhaupt, dass das mein Kaffee ist?“

„Wirklich?“, fragte Merlan verwundert und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. „Schmeckt hervorragend.“

„Du hast ihn mir gerade gebracht!“

„Ist das so?“

„Warum ersparst du mir nicht das Theater?“

„Wer sind Sie überhaupt?“

Der Mann in Weiß-Rot blickte drein, als habe Merlan gerade gefragt, welche Farbe Wasser habe.

„Wie bitte?“

„Ihren Namen, dürfte ich ihn erfahren? Guter Kaffee übrigens, danke.“

„Wird ja immer schlimmer …“, brummelte der weiß-rote Mann.

„Was?“

„Nichts. Ich bin der Weihnachtsmann.“

„Wirklich?“

„Ja du Allgemeinbildungsverweigerer.“

„Freut mich.“

Der Weihnachtsmann sah aus, als würden ihm gerade alle Sicherungen durchbrennen. Eine Vene trat auf seiner Stirn hervor und sein Kopf wurde knallrot.

„Ist alles in Ordnung? Möchten Sie einen Schluck von meinem Kaffee?“

„Pass auf, du Analvioline, ich bin hier, um dir …“, er schaute nach links und nach rechts, wie um zu überprüfen, dass sie alleine waren, „ich bin hier, um dir ein Geschenk zu übergeben“, flüsterte er.

„Ein Geschenk? Wowi!“, machte Merlan. „Ich liebe Geschenke. Oh was ist es, was ist es? Bitte, bitte, was ist es, ich muss es wissen!“, fing er an zu fleh-betteln.

Der Weihnachtsmann krustelte in einem Sack neben sich, förderte ein Paket zutage und reichte es Merlan. Der riss das Verpackungspapier ab und breitete den Inhalt fein säuberlich vor sich aus. In der großen Schachtel befanden sich Überschuhe, die man über die normalen Schuhe ziehen konnte, ein Haarnetz sowie ein Overall. Ferner Bleiche, ein Messer und einen Abholgutschein für 80 Liter Rohrreiniger, eine Klappschaufel und Kalk.

„Was soll ich denn damit?“

„Ups“, sagte der Weihnachtsmann und fegte den ganzen Krempel zurück in seinen Sack. „Das hatte sich dieses Jahr eine Frau Schwarzbrot gewünscht. Hat wohl vor, sich scheiden zu lassen, außergerichtlich nehme ich an.“

Er tauchte tief in seinen Sack hinab, bis nur noch die Beine herausschauten. Kurz darauf war der Weihnachtsmann vollständig in seinem Geschenkesack verschwunden. Merlan konnte Geräusche hören. Schwerter, die aneinander rasselten, ein T-Rex, der Feuer ausstieß, und ein Raumschiff, das seine Laserkanonen abfeuerte. Merlan hoffte, dass diese Dinge weitere Bedeutung in der Handlung hatten und nicht nur als einmalige Erscheinung für irgendwelche Effekthascherei herhalten mussten.

Mit einigen frischen Narben am Arm tauchte der Weihnachtsmann wieder aus seinem Sack auf.

„Hier ist es“, sagte er und schmiss ein rotes Geschenk mit einer silbernen Schleife auf den Tisch.

Und als Merlan es so sah, musste er plötzlich an den armen Hund denken, den er vorher verfolgt hatte. Ob es ihm wohl gut ging? Er wünschte sich in diesen Moment nichts sehnlicher, als dass die Box mit dem Geschenkpapier den Hund enthielt.

Und da geschah es.

Draußen schob sich eine Wolke am Mond vorbei. Der Weihnachtsmann stürzte zum Fenster.

Vollmond!

„Oh nein“, sagte er und sah in Merlans Richtung.

Der wand sich vor Schmerzen, schrie und ächzte. Er stürzte hinter dem Tisch hervor und riss sich die Haut in Fetzen vom Leibe. Eine spitze Schnauze mit messerscharfen Zähnen brach aus seinem Mund hervor. Merlans Zähne wurden bei der Verwandlung gewaltvoll aus dem Zahnfleisch gebogen und spritzten Blut aus dem Mund.

Die Verwandlung hatte begonnen!

Der Weihnachtsmann griff in seinen Sack voller Geschenke, zog ein geladenes Thompson Maschinengewehr hervor. Er entsicherte es.

RITSCH-RATSCH!

Er zog eine Zigarre aus seinem Mantel, feuerte eine Salve in die Decke und entzündete den Tabak mit der glühenden Mündung seines Maschinengewehrs.

Merlans menschlicher Körper fiel weiter in blutigen Fleischstücken zu Boden. Er hatte inzwischen das Doppelte an Größe und Muskeln gewonnen. Und mindestens das Siebenfache an Körperbehaarung.

Der Weihnachtsmann richtete das Maschinengewehr auf das Monster mit dem blutigen Fell, pustete den Rauch zu einem Mundwinkel hinaus und sagte: „Es wird Zeit, die Geschenke zu verteilen.“

 

Er drückte ab.

Wie Feuer brach der Kugelhagel aus dem Lauf seines Maschinengewehrs los. Und als sich dreißig identische Kampfroboter unter ihren Trenchcoats erhoben, brach im Restaurant „Frisch aus dem Fett“ in epischsten Ausmaßen die Hölle los.

Der Kampf dauerte bis tief in die Nacht hinein.

1 Schließlich will ich Sie nicht mit zu vielen Zahlen langweilen.

2 Passt schon.

11.

Zurück in der Gefängnisbücherei

„Warum glaube ich, dass diese Geschichte sehr freizügig ausgeschmückt wurde?“, sagte Hermes fragend.

„Genau so ist es passiert“, beteuerte Merlan. Seine Augen zuckten ungläubig hin und her.

„Du hast dich in einen Werwolf verwandelt und gegen den Weihnachtsmann und dreißig Kampfroboter gekämpft?“

„Ja, genauso war es“, sagte Merlan. „Und ich habe gewonnen. Und wenn ich nicht die Wahrheit sage, soll Gott mich hier und jetzt niederstrecken.“

Merlan blickte nach oben an die Decke der Gefängnisbücherei. Hermes und Candy machten vorsichtig einen Schritt zur Seite. Alle drei erwarteten insgeheim, dass Donner zu hören war, und ein Blitz durch die Decke fahren würde, um Merlan zu grillen. Doch nichts dergleichen geschah.

Die Glühbirne über ihm begann zu flackern und erlosch.

„Huh“, machte Merlan. „So was … Ihr wollt also sagen, dass ihr Wert auf die Wahrheit legt?“

„Vielleicht nicht unbedingt die Wahrheit“, bemerkte Candy, „aber zumindest einen Hauch von Realismus. Wir sitzen eine ganze Zeit zusammen ein. Wie sollen wir uns besser kennenlernen, wenn du uns behandelst wie deine dritte Liebhaberin in einem anderen Land?“

„Genau!“, sagte Hermes.

„In Ordnung“, sagte Merlan und kratzte sich am Leberfleck neben seinem rechten Ohr.1

„Dann will ich weitererzählen“, fuhr Merlan fort, „sofern ich mich erinnern kann. Oder auch nicht. Lasst mir etwas kreative Freiheit, ja? Ich frage ja auch nicht ständig nach, warum ich im Gefängnis sitze. Was mich wirklich interessieren würde.“

Seine beiden Mitinsassen schauten verlegen in verschiedene Richtungen. Candy pfiff vor sich hin, Hermes kontrollierte mit ausufernder Sorgfalt die Uhrzeit an seiner Armbanduhr, welche er sich beim Frühstück aus Haferflocken und einem defekten Löffel gebastelt hatte. Richtige Armbanduhren waren im Gefängnis nicht erlaubt.

„Gut“, sagte Merlan. „Dann wollt ihr bestimmt wissen, was in dem Geschenk war.“

„Geschenk?“, fragte Hermes. „Ach das Paket, welches der Weihnachtsmann dir geben wollte.“

„Richtig. Ich hab es natürlich genommen. Wer in einer Frittenbude arbeitet, die davon träumt, ein richtiges Restaurant zu sein, sollte nicht zu wählerisch sein, was Geschenke angeht. Egal, wer sie verteilt.“

Die Luft um die drei Insassen begann zu wabern und in einer Art Hitzeschlieren zu verschwimmen. Das Bild wurde unscharf, Musik ertönte und der Übergang zur nächsten Rückblende war da.2

Doch mit einem Mal war das Bild wieder scharf.

Merlan hatte noch etwas zu sagen.

„Bevor es weitergeht, kommt noch eine klitzekleine andere Szene.“

„Muss das sein?“, fragte Hermes.

„Hey, wollt ihr ein spannendes Buch oder eines, das nur albern ist?“

„Eines, das sich schnell ausliest …“, lästerte Candy kleinlaut.

„Ruhe auf den billigen Plätzen“, fuhr Merlan ihn an. „Also, wo waren wir?“

Hitzeschlieren. Flimmern. Unschärfe!

1 Wieder wird ein literarisch sträflich vernachlässigtes Körperteil von eurem Bastian Litsek ins Rampenlicht gerückt. Betrachtet man den Lesestoff unserer Zeit, sollte man meinen, Leberflecken würden gar nicht existieren. Mein ganzer Rücken ist voll davon! Auch Merlan hat welche. Und ich bin mir sicher, auch Sie verstecken ein oder zwei. Sehen Sie, das ist es, was einen guten Autor ausmacht. Sie entdecken sich in meiner Figur wieder. Gut möglich, dass auch Sie ein vergesslicher Mann sind, der hin und wieder lügt und irgendwo Leberflecke am Körper trägt. Und wenn sie keiner sind, befindet sich zumindest einer in Ihrer näheren Umgebung. Vielleicht sogar abends im Bett neben Ihnen?

Wenn Sie jemanden sehen, auf den diese Beschreibung passt, stecken Sie ihm ein Stück Schokolade in den Mund (Männer muss man nicht fragen, bevor man sie anfasst, die mögen das) und streicheln Sie ihm mit einem „Ei-di-dei“ über den Kopf. Wenn er schnurrt, dumm dreinschaut oder Sie fragt: „Was soll das?“, haben Sie alles richtig gemacht und können weglaufen.

2 Seufz …

12.

Merlan fand sich in einen weißen Raum mit zwei schwarzen Stühlen wieder. Auf dem einen saß er, auf dem anderen eine Frau. Offensichtlich die Paartherapeutin aus dem anderen Kapitel, die sich billig und nur äußerst schlicht verkleidet hatte.

Sie trug einen Schnauzer, eine Perücke, die ihre Dreadlocks nicht vollständig verbarg, und hatte sich das Gesicht mit Sommersprossen verziert, die sie mit Faschingsschminke aufgemalt hatte.

„Äh“, machte Merlan. „Wo bin ich?“

„Das ist nicht die richtige Frage. Die richtige Frage ist, wann sind Sie.“

„Wie bitte?“

„Wir befinden uns im Jetzt.“

„Das Jetzt?“, fragte Merlan verdutzt. „Ich dachte, als ich in der Gefängnisbücherei war, war das das Jetzt.“

„Das hier ist die Gegenwart“, sagte die Paartherapeutin.

Merlan verzog die Augen zu ungläubigen Schlitzen. „Wie ist Ihr Name?“, fragte er scharfsinnig.

„Mein Name ist … Doktor … Leid.“

„Leid? Wie das Gegenteil von Freud?“

„Richtig.“

„Das ist aber nicht sonderlich kreativ.“

„Vielleicht spiele ich noch eine viel tragendere Rolle, als Sie bisher erahnt haben? Vielleicht habe ich Sie entführt und halte Sie unter Drogen gesetzt gefangen, um Sie zu quälen?“

„Wir befinden uns also im Jetzt“, versuchte Merlan, zu Dingen zurückzukehren, die ihn weniger verwirrten.

„Richtig. Momentan befinden wir uns in der absoluten Gegenwart. Der nisi verum praesenti sozusagen. Der postultimativen Gegenwart. Der einzig wahren Zeit.“

„Dann war die Sache in der Gefängnisbücherei also …“, Merlan zählte eins und eins zusammen, kam aber nicht sonderlich weit.

„… Die Vergangenheit, richtig“, bestätigte Frau Doktor Leid.

„Und meine Erzählung über die Geschehnisse im Restaurant und mit Tabea sind dann was?“

„Die gewesene Vergangenheit.“

„Ich glaube, so etwas gibt es gar nicht“, sagte Merlan und sah sich um. Der Raum war weiß. Alles war weiß. Es gab nicht mal einen Raum. Nur zwei Stühle mit ihnen darauf und eine weiße Sphäre, die sich aus Unendlichkeit zu erstrecken schien. Merlan stand auf, ging rechts neben Frau Doktor Leid aus dem Bild. Er kam zur linken Bildseite wieder hereingelaufen.

„Abgefahren“, sagte er und drehte sich um.

Dann nahm er den Stuhl und schleuderte ihn mit voller Wucht aus der rechten Bildhälfte. Mit voller Wucht traf ihn das Sitzmöbel am Rücken. Es war einfach zur linken Bildhälfte von hinten wieder herangeflogen gekommen.

„Sie sind ein bemerkenswerter Deppschlauch, wissen Sie das?“

„Haben Sie mich gerade als Diskussions-Geisterfahrer bezeichnet?“

Die Therapeutin machte sich eine Notiz. „Selektive Intelligenz, die zu kommen und zu gehen scheint … sehr interessant“, murmelte sie. „Hören Sie zu, Merlan, ich bin hier, um einige Dinge klarzustellen. Was früher war, ist jetzt vorbei. Und was Sie vorher erzählt haben, findet noch immer statt, während wir hier sitzen und uns unterhalten. Das Erzählte befindet sich jedoch in der Vergangenheit, die noch zur Zukunft wird, beeinflusst von unserem Gespräch und der Art, wie Sie erzählt haben, was damals wie gewesen sein könnte. Die Wahrheit ist eine schwammige Angelegenheit.“

„Versuchen Sie, mich zu verwirren?“

„Funktioniert es?“

„Durchaus“, gab Merlan zu. Er setzte sich wieder.

„Beantworten Sie mir folgende Frage“, sagte sie und lehnte sich zu Merlan vor. „Warum haben Sie Tabea umgebracht? Warum haben Sie Ihre eigene Frau ermordet?“

Der Trickbetrüger, welcher auch ein Gefängnisinsasse war, und nun scheinbar ein potenzieller Mörder schaute verwirrt drein. „Tabea ist tot?“

„Natürlich. Wir befinden uns hier am Ende der Geschichte. Die Handlung ist vollzogen und die Dialoge gesprochen“, sagte die Therapeutin. „Oder warum, glauben Sie, ist hier alles weiß?“

„Eine Frage der Raumgestaltung?“

„Sie sind wirklich schwer unterbelichtet worden, was?“, sagte Frau Dr. Tulpenstein.

„Wie genau ist Tabea denn gestorben?“, fragte Merlan. Wie er die Frage gestellt hatte, tauchte eine Erinnerung aus dem maroden Hirnkasten seines Gedächtnisses auf.

Sie war hässlich und brutal. Und er sah sich selbst, wie er über der leblosen Tabea stand. Seine Hände schmerzten. Ein Schock überkam ihn.

„Was habe ich ihr angetan?“, fragte Merlan.

Und warum?, fragte er sich.

Das Weiß des Raumes verschluckte ihn wie eine große Welle.

13.

Das Geschenk, in rotem Papier verpackt, stand auf dem Tisch zwischen dem potenziellen Frauenmörder und dem Weihnachtsmann.

„Ich will meinen“, sagte Merlan und schmunzelte, „dass wir uns irgendwo her kennen. Hmm …“, machte er und musterte sein Gegenüber. Weißer Rauschebart, rotes Samtoutfit mit weißen Rändern. Die vertrauenswürdigsten Augen, die er je erblickt hatte.

„Ich habe es!“, rief Merlan und schnipste mit den Fingern. „Haben Sie nicht eine Zeit lang Coca Cola verkauft?“

Der Weihnachtsmann rollte mit den Augen. „Ach das, ja …“, sagte er und winkte ablehnend mit der Hand. „Auch der Weihnachtsmann muss ab und an los, um Kohle ranzuschaffen. Wenn Frau Weihnachtsmann das Haus renovieren möchte oder ich ein paar neue Rentiere brauche.“

„Ich dachte, die Rentiere wären unsterblich?“

„Wieso sollten sie das sein? Es sind normale fliegende Rentiere“, sagte der Weihnachtsmann.

„Ah, natürlich.“

„Die nutzen sich ab wie alle anderen Nutztiere auch, Merlan. Und inzwischen sind es alte, verbitterte Säufer, die nur noch von damals reden.“

„Wow …“, sagte Merlan entsetzt.

„Zugegeben“, sagte der Weihnachtsmann und gestikulierte zugestehend, „die Schuld dafür liegt auch bei mir. Ich habe schlecht für ihre Rente vorgesorgt und Aufstiegschancen waren praktisch nicht vorhanden.“ Der Weihnachtsmann lachte über seinen eigenen Witz. „Aber im Ernst, was weiß ich schon von gerechten Arbeitsbedingungen? Die Geschenke werden alle von versklavten Elfen gebaut, die ich von einem anderen Planeten entführt habe. Wusstest du, dass es Oberelfen gibt, die die anderen verpetzen und beaufsichtigen wie kleine Gefängniswärter? Die Furcht hält sie zusammen, und die Wärterelfen glauben so, ein besseres Leben führen zu können. Was auch der Fall ist. Sie müssen nicht in den Baracken mit den anderen Elfen schlafen und bekommen unverdorbene Lebensmittel zu essen.“

„Das klingt absolut scheußlich“, sagte Merlan.

„Hey“, sagte der Weihnachtsmann und wies mit einer Handbewegung alle Schuld von sich. „Was glaubst du, wie ich jahrein, jahraus Millionen von Gratisgeschenken verteile? Sklavenarbeit, mein Freund. Es ist nicht so, als ob ich viel davon hätte. Ich verlange ja kein Geld für meine Dienstleistung.“

Merlan kam nicht darüber hinweg, dass der Weihnachtsmann, wie er ihn von Kindheit an kannte, nichts anderes war als einer der alten Pharaonen, die Sklaven zu Tode schuften ließen, um ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen. In diesem Fall bekam er lieber kein Geschenk.

„Ich möchte das hier nicht mehr“, sagte er und schob die verpackte Schachtel von ihm weg in Richtung Weihnachtsmann.

„Komm schon, Merlan“, sagte der und schob das Geschenk zurück. „Nimm es. Ich hab den weiten Weg auf mich genommen, und außerdem ist es wichtig für die Handlung.“

„Handlung … pah“, machte Merlan. „Dass ich nicht lache. Das Meiste hier sind halbgare Anekdoten und wahllose Aneinanderreihungen. Wollen wir ernsthaft so tun, als wenn wir wüssten, worum es geht? Wir sind auf Seite 83 und kaum etwas vom Klappentext ist bisher eingetreten.“

Der Weihnachtsmann zupfte nachdenklich an seinem Bart.

 

Merlan kratzte sich an seinem Leberfleck.

„Es würde mir viel bedeuten, wenn du es öffnest“, sagte der Weihnachtsmann.“

„Werde ich aber nicht“, gab Merlan zurück und verschränkte die Arme.

„Und wenn ich dir sage, dass bei der Herstellung zwei Elfen gestorben sind? Würdest du ihren Tod in die Bedeutungslosigkeit stoßen, nur weil du ihre Arbeitsbedingungen nicht gutheißen kannst?“

Merlan klimperte mit den Augen. Weit aufgerissen.

„Sie sind ein ziemlicher Barbar, wissen Sie das?“

„Wie tun alle, was wir müssen, um zu überleben“, sagte er. „Bis auf die beiden Elfen, die dein Geschenk erschaffen haben. Die sind toter als Kim Jong Un. Mausetot. Asche …“

„Gut, gut“, ging Merlan dazwischen. „Ich hab es verstanden. Was ist denn drin?“

Der Weihnachtsmann blickte abwertend zur Seite. Jetzt war er es, der die Arme verschränkte. „Dafür musst du es aufmachen, du Dummbartel.“

Merlan riss das Geschenkpapier von der Schachtel und hielt plötzlich eine Dose mit Tabletten in der Hand.

„Was genau bewirken diese Tabletten?“

Der Weihnachtsmann grinste bis über beide Ohren und nickte wie ein Verrückter, der endlich sein innigstes Geheimnis verraten durfte.

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