Totensee, oder Die Odyssee des van Hoyman (eine historische Erzählung) & Der viereinhalbte Mann (eine Kriminalgroteske)

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Totensee, oder Die Odyssee des van Hoyman (eine historische Erzählung) & Der viereinhalbte Mann (eine Kriminalgroteske)
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Barni Bigman

Totensee, oder Die Odyssee des van Hoyman (eine historische Erzählung) & Der viereinhalbte Mann (eine Kriminalgroteske)

Historischer Roman und eine Kriminalgroteske

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Inhaltsverzeichnis

Titel

„Totensee“ oder “ Die Odyssee des van Hoyman“

Prolog

Erzwungene Flucht

Ein voreiliger Schwur

Verschleppt

Höllenfahrt

Im Paradies

Freiheit

Triebe und Liebe

Steinige neue Heimat

Der Inquisitor

Piters Traum

„Der viereinhalbte Mann“

Kopfüber in die Hölle

Keine Leiche in Sicht

Mörder Katzenjammer

Denkste

Begehrlichkeiten

Bullen Katzenjammer

Holde Einfalt

Schnee von Gestern

Kopf voran in den Himmel

Erster Klasse durch den Himmel

Eine rabenschwarze Schwarze Witwe

Wieder aktiv

Reich und Schön

Tiefer gehende Ermittlungen

Eine gefährliche Ehe

Impressum neobooks

„Totensee“ oder “ Die Odyssee des van Hoyman“

Prolog

Hoch oben über dem großen Strom auf dem bewaldeten Kliff gab es eine Lichtung von der aus man sowohl flussabwärts als auch ein stückweit flussaufwärts schauen konnte. Obgleich es einige Tagesreisen weit bis zum Meer waren, waren Woche um Woche Schiffe zu beobachten, wie sie sich bei günstigem, achterlichem Wind mit der Flut den Strom hinauf quälten. Es war lohnend dieses Wagnis auf sich zu nehmen, und die Gefahren, die Inseln und Untiefen, die der Fluss für die Seefahrer bereit hielt, zu umschiffen. Stromaufwärts winkte ein sicherer Handelsplatz, welcher in diesen unsicheren, kriegsbesetzten Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert war.

An der Mündung eines kleineren Nebenflusses, umgeben von den Sümpfen des kleinen Deltas, entstand ein uneinnehmbarer Handelsplatz, der den Begehrlichkeiten von Kriegsherren und anderen marodierenden Banden trotzen konnte. Charakterlich ebenso fragwürdige, menschliche Untugenden, wie das Morden und Brennen marodierender Banden brachte der Handel mit sich. Geldgier und Wucherei waren durchaus akzeptierte, legitime Mittel, verliefen jedoch meist unblutig.

Von der kleinen Handelsniederlassung führte ein Pfad hinauf zum Kliff und durch den dichten Wald der das Kliff vollständig bis zur Abbruchkante bedeckte und ihn zu einem gespenstischen Ort werden ließ. Diesen Pfad, der auch Ochsenkarren Platz bot, nutzten häufig die Händler, welche in fernen Städten ihre Waren feilbieten wollten. Wenn dieser grausige Ort passiert war führte der Pfad nach wenigen Kilometern über eine Lichtung das Kliff wieder hinab, immer in Sichtweite des großen Stromes durch kleinere Niederlassungen und dann in die Haselmarschen hinein. Danach folgte sein Verlauf weiter dem Strom einige Tagesreisen bis zum Meer und zu den Inselfriesen, einem wehrhaften Volk mit rustikalen Sitten und Gebräuchen.

Dort, wo der Kliffwald landeinwärts endete, ging er in ein Hochmoor über. Weiter vom Strom entfernt mündete das Moor in einen langsam verlandenden See, dessen Schilfgürtel sich weit ins Binnenland erstreckte. Somit musste jeder Mensch, der das Kliff überwinden wollte den Pfad nehmen und konnte nicht auf anderen Wegen ausweichen.

Dieser See nun war zum Schilfgürtel hin nicht sehr tief, konnte aber, sofern man freies Wasser gewann über steinigem Grund einige Meter Tiefe erreichen. Der Fischreichtum hatte einen Fischer, der die Gefahren des großen Stromes nur allzu gut kannte dazu bewogen, sich im unzugänglichen hochgelegenen Moor anzusiedeln. Mit seinen drei Söhnen hatte er eine Hütte gebaut, welche vom Handelspfad aus nur äußerst schwer zu erreichen und nicht direkt auszumachen war.

Eigentlich war der Fischer kein schlechter Mensch, aber der Tod seiner Frau, die dem großen Fluss beim Reusen legen zum Opfer geworden war, hatte ihn hart gemacht. Auch seine Söhne, die er allein großgezogen hatte, waren recht raue Gesellen geworden. Ihnen graute es vor nichts und sie scheuten vor keiner Untat zurück. So geschah es, dass sie nicht nur den Fischen des Sees gewaltig zusetzten. Auch die reichen Kaufleute, welche zu Pferde oder mit dem Ochsenkarren auf dem Pfad vorbei kamen weckten ihre Begehrlichkeiten.

Von einigen dieser armen Seelen wurde in der Handelsniederlassung nie wieder etwas gehört und statt Fisch stand bei den Fischern so manches Mal Ochsenbraten auf dem Speiseplan. Handelswaren aller Art schmückten die Hütte und manches wurde im Wald vergraben. Die Gold und Silberstücke sowie die wertvollen Geschmeide nähte der Fischer in eine Ochsenhaut ein und fuhr damit hinaus auf den See, bis er freies Wasser gewann. Unweit der Stelle, wo bereits die früher hier ansässigen Stämme ihren Gerichtsplatz hatten und mancher Bösewicht „gewörgelt“ wurde, (das heißt in einen Sack gesteckt, ins Wasser geworfen und zu Grunde ging, biss er keine Blasen mehr schlug,) versenkte er die Ochsenhaut über steinigem Grund. Nur ein kleines Stück Holz an einer Schnur zeigte noch an, wo der Hauptlohn der Missetaten sich befand.

Eines Tages entlief das Pferd eines überfallenen Kaufmannes und lief schnurstracks zur Handelsniederlassung zurück. Nun vermutete man dort, dass das Verschwinden so manchen braven Mannes in greifbarer Nähe passiert sein musste. Bewaffnete Landsknechte strömten aus dem Tor zwischen den Barrikaden des kleinen Ortes hervor und das Kliff hinauf. Nach vielen Stunden der Suche wurden sie des Fischers und seiner Söhne habhaft und führten sie der gerechten Strafe, die sie sich „redlich“ verdient hatten, zu. Aber nicht nur die Fischer waren dem Tode geweiht, sondern auch der See. Viele, viele Jahre, in denen er weiter verlandete und zum Teich wurde, vergingen.

Erzwungene Flucht

Der Morgen war schon fortgeschritten, als Piter van Hoyman unter der großen Tanne, die ihn vor dem nächtlichen Regen geschützt hatte, hervor kroch. Am Abend zuvor hatte er hier vor dem rasch einsetzenden Starkregen Schutz gesucht und war dann ruhig eingeschlafen. Die Äste des Baumes hingen so tief, dass sie fast den Boden berührten. Darunter hatte sich ein weiches Polster aus Tannennadeln gebildet, das ihm einen ruhigen, zumindest wieder einmal einen alptraumlosen Schlaf beschert hatte. Aber auch viel Getier hatte sich vor dem Regen hierher geflüchtet, welches sich Piter nun aus dem Wams schütteln musste. Verschlafen blickte er in die Morgensonne, die bereits begonnen hatte, die Feuchtigkeit der Nacht in einen Schleier von Hochnebel zu verwandeln. Der Wald an dessen Rand er sein Nachtlager gefunden hatte, duftete wunderbar nach frischem Grün. Einige Tautropfen hingen noch träge an Gräsern, Halmen und Büschen, aber sie reichten nicht aus, seinen Durst zu löschen.

Pit, wie er von Freunden und der Familie genannt wurde, streifte die Tropfen des kühlen Nasses ab und leckte sie gierig von den Fingern. Bald verspürte er ein Knurren, mit welchem sein Magen eine heftige Hungerattacke einleitete. Das Bündel, dass Pit vorsichtshalber die Nacht über an seinem Stecken in den Baum gehängt hatte, um es vor den nächtlichen Räubern zu schützen, war in den letzten Tage bereits sehr geschrumpft und wesentlich leichter geworden. Der Käse und das Brot, welches die freundliche alte Erna ihm mit auf den Weg gegeben hatte, waren fast aufgebraucht und würden, selbst wenn er nicht zu gierig wäre, höchstens noch zwei Tage für ein karges Mahl reichen.

 

Ach ja, seufzte Pit. Was hatte er schon wieder einmal mit seinem vorlauten Schandmaul angerichtet. Piter van Hoyman standen die Tränen in den Augen. Musste er unbedingt mit dem Pfarrer über Gott diskutieren? Für ihn war es doch bereits eine klare Sache gewesen, dass es nur eine Erfindung der Kirche war, die ihre Schäfchen ungestört scheren wollte und manchmal noch mehr. Hätte er sich nicht auch verkneifen können zu fragen, warum es die Bibel nicht auch, wie bei den Abtrünnigen, in seiner Sprache geben würde? Schließlich hatte er bei Erna als einer der wenigen Bauernsöhne lesen und schreiben gelernt.

Hm, ja, die gute Erna. So richtig verstanden hatte er es nie, warum sie gerade auf dem Hof seines Vaters hängen geblieben war. Sie war ein richtiger Mutterersatz für ihn und seine zwei älteren Brüder geworden. Die Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben und der Vater Johann hatte sein Bestes versucht, die drei Rangen groß zu bekommen. Dann war Erna da. Vater hatte ihm erzählt, dass sie im Tross von Landsknechten, die etwas weiter vom Hof entfernt vorbeimarschierten, mitgekommen war und sich dann unbemerkt in die Büsche geschlagen hatte.

Vater hatte sie dann während der Feldarbeit aufgelesen und seit dem war sie einfach auf dem Hof geblieben. Was Erna alles hatte erleben und durchleiden müssen, hatte sie nie erzählt. Welches Unglück eine belesene, intelligente Frau in den Tross der Landsknechte verschlagen hatte, wagte er sich nicht vorzustellen. Jedenfalls hatte sie schnell sein Talent für Schrift und Sprachen entdeckt. So lernte er sich nicht nur im Holländischen, sondern auch im Mittelhochdeutschen leidlich auszudrücken. Dieses Talent würde ihm in seinem Leben noch manches Mal gut zu statten kommen. Auch im Rechnen war Pit sehr gewandt, was in seiner Familie außergewöhnlich und nicht sehr verbreitet war.

Als Pit mit dem Pfarrer der Nachbargemeinde derart in Feindschaft geraten war, dass dieser die ganze Macht der Kirche ausspielte, um seiner habhaft zu werden, war es mit der heimatlichen Idylle schnell vorbei gewesen. Das Schlimmste, was Piter sich in seiner Wut geleistet hatte, war, den Pfarrer zu fragen, warum zwei der Ministranten weinend, mit roten Hintern nach Hause gelaufen waren und warum der Herr Pfarrer sich keine Haushälterin halten würde.

Pit hatte mit seinem Schandmaul, welches er bei Angelegenheiten die er für die Wahrheit hielt, nicht im Zaum halten konnte, nicht bedacht, dass er eine Macht gegen sich aufbringen würde, die ihn vernichten konnte und auch sicher vernichten wollte. Es hatte keine vier Tage gedauert, bis die schwarzen Reiter der Inquisition auf dem Hof eintrafen. Der Pfarrer hatte sie so schnell erreichen können, da diese sich bereits in der Gegend herumtrieben um zu schauen, ob nicht irgend welche Hexlein im Lande wären, die zum Brennen gebracht werden könnten und der gute Pfarrer hatte ihn flugs der Ketzerei angeklagt.

Als Pit dann von der Feldarbeit heimkam, sah er schon von Weitem die Bescherung. Fünf fremde Pferde standen auf dem Hof. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Auch hörte er schon das Jammern und Wehklagen des Vaters und der guten Erna. Seine Brüder waren glücklicherweise noch auf dem Feld und hatten ihn früher nach Hause geschickt. Nach ein paar Stunden verließ die vermaledeite Kirchenbrut das Gehöft und die Schurken ritten gen Osten davon. Aber sie würden wieder und immer wieder kommen. Erna und der Vater waren windelweich geprügelt worden. Am Abend beratschlagten sie, was nun das Beste für ihn und die Familie sei. Schnell kamen sie zu dem Ergebnis, dass Piter nicht länger auf dem heimatlichen Hof bleiben könne. Es würde sie alle mit ins Verderben reißen. Piter musste baldmöglichst vom Hof und rasch das Weite suchen. So wie sich die Lage darstellte, war er auch sehr sicher, dass er es finden würde.

Die geschundene Erna nahm ihn weinend beiseite und erzählte ihm von einem Landstrich im Nordosten, wo die Kirchen noch nicht allmächtig wären. Sie hätte es von einigen Landsknechten, die ins Gespräch vertieft waren, aufgeschnappt. Diese waren die Kriege leid und wollten sich in eine große Stadt, die es dort geben sollte, durchschlagen. Er müsse die ganzen deutschsprachigen Lande durchqueren und über drei große Flüsse kommen. Allerdings würde dort in der fernen Fremde weder Deutsch noch holländisch gesprochen. Er müsse dann wohl eine weitere Sprache lernen, was ihm aber sicher nicht schwer fallen würde.

Rasch holte der Vater seine guten Wanderstiefel unter dem Bett hervor und Erna packte Brot, Speck und Käse als erste Wegzehrung in ein großes Tuch, was oben zusammengebunden wurde. Noch ein paar Silberlinge in den Beutel, ein schneller, tränenreicher Abschied mit weiteren wohlgemeinten Ratschlägen für seine Zukunft und er schritt in seiner besten Wanderkluft hinaus in die Nacht. Es war erbärmlich. Bei Nacht und Nebel musste er flüchten, wie ein geprügelter Hund. Die Angst saß ihm im Nacken, sodass er sich bei jedem Geräusch umdrehte und den Kopf wand wie eine Eule, bis er jeden Muskel der Schultern und des Nackens schmerzhaft spüren konnte.

In den Nächten verspürte er seine Angst am stärksten. Sinnvoller wäre es gewesen, tagsüber immer gespannt und auf der Hut zu sein, denn des Nachts sollte es mit dem Teufel zugehen, wenn sich die Kirchensöhnchen aus ihren warmen Furzmollen heraus trauen würden und durch dunkle Nächte streiften.

Nun war er schon fast einen Wochenmarsch von zu Hause weg. Immer auf kaum begangenen Pfaden und darauf besonnen, sich schnellstens in die Büsche schlagen zu können, falls sich Hufschlag nähern sollte. Er gab sich nicht der Illusion hin, dass die Kirche ihn vergessen würde. So unwichtig er auch als Mensch für diese war, so klar war ihm, dass er mit seinen Ansichten als gefährlich galt. Auch hatte ihn zwischenzeitlich wohl auch die weltliche Macht aus der Acht entlassen. Er war also kein achtbarer Bürger mehr und vogelfrei. Jeder Halunke konnte ihn nun ungestraft ergreifen und mit ihm Tun nach Belieben. Er war sich zwar sicher, dass ihm die Kunde über ihn noch nicht voraus geeilt war, aber wer wollte das beschwören.

Pit verspeiste am Wegrand, in der Sonne sitzend sein karges Mahl, ein paar Brocken Käse und ein Stückchen angeschimmeltes Brot. Der Speck hatte bereits leicht angefangen zu leben, sodass er nur noch über einem Feuer geröstet zu genießen war. Ein Feuer zu entzünden am helllichten Tag, traute Pit sich jedoch nicht. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, damit menschliches Geschmeiß anzuziehen; von dem tierischen ganz abgesehen. Sehnsüchtig sah Pit das nahe Feld hinunter, nicht nur, weil die dahinter liegende Senke etwas trinkbares Wasser verhieß, sondern auch, weil er an zu Hause denken musste, wo nun die Ernte des Getreides in vollem Gange sein würde. Vater Johann und seine Brüder würden es schon schaffen, ohne ihn die Feldarbeit zu bestreiten, aber wie gern wäre er dabei gewesen.

Piter musste weiter kommen. Das Jahr war schon weit fortgeschritten und er hatte kaum noch Vorräte. Wenn ihm nicht bald etwas einfiele, würde er verhungern oder zumindest im Winter erfrieren. Aber vorerst wollte er nicht verdursten und ging geschwind am Feldrand entlang hinab zur Senke. In dieser hatte sich nicht nur Regenwasser gesammelt. Ein kleiner Bach, den er vorher nicht wahrgenommen hatte schlängelte sich dort durch die Felder. Pit entledigte sich der hohen Stulpenstiefel, kühlte seine von den letzten Tagen und Märschen wunden, blasenbesetzten Füße, wusch sich und trank sich satt. Köstlich, wie die besten Suppen der guten Erna schmeckte das Wasser, das sich glucksend und sprudelnd um seine Füße wand.

So beschäftigt und mit sich selbst im Reinen wurde er plötzlich von hinten angesprochen. Sein Nackenhaar stellte sich auf und schnell wie der Wind drehte er sich herum. Da stand ein hochgewachsener, bärtiger Kerl neben seinen Stiefeln. Der Bart war gepflegt und die Spitzen des Oberlippenbartes zu kleinen Spiralen gedreht, während der Kinnbart nur sauber und ordentlich gestutzt war. Er sieht wie ein Bauer und gar nicht wie ein Strauchdieb aus, dachte Piter. Sogar seine Arbeitskleidung ist sauber.

Pit hatte das eiserne Messer, welches Erna wohl von einem Landsknecht wie auch immer bekommen und ihm mitgegeben hatte, immer im rechten Stiefel stecken. Unerreichbar war dieses für ihn nun. Aber der Kerl sah freundlich aus. „Wohin des Wegs junger Mann, „ tönte es Pit entgegen. „Wer seid Ihr und was tut Ihr auf meinem Land?“ Also doch ein Bauer. Pit fiel eine Last von der Seele und ein Stein vom Herzen.

„Solltet Ihr nicht bei der Ernte sein anstatt friedliche Wanderer zu erschrecken“, ranzte Pit zurück. Der lange Bartträger namens Hans Wilken lachte. „Mit der Friedlichkeit ist es wohl nicht weit her, wenn Ihr solche Erntegeräte in euren Stiefeln stecken habt.“ Er hatte das Messer gefunden und spielte damit, warf es von Hand zu Hand. „Na, ja, in solchen Zeiten ist es wohl angebracht so etwas dabei zu haben.“ Er steckte es in Pits Stiefel zurück. „Wenn ich dir etwas Böses gewollt hätte, wärest du nun nicht mehr am Leben. Aber ich will mir ja nicht meinen Bach versauen.“ Wieder lachte der lange Hans herzlich. „Siehst wie ein Bauer aus. Hast wohl was ausgefressen, dass du nun hier herumläufst?“

„Ich hab niemandem etwas zu Leid getan“, sagte Pit. „Nur etwas auf mächtigen Füßen herum getrampelt, weil ich mein Maul nicht im Zaum hatte.“ Hans schaute nachdenklich drein. „Die Ernte ist dieses Jahr reichlich. Könnte Hilfe gebrauchen. Wenn du mir helfen willst, sollst du Essen und Trinken auch über den Winter haben. Und niemand würde dich bei mir suchen, geschweige denn finden. Die Reiter waren bereits auf meinem Hof und sind dann weiter zur Stadt. Haben weder Hexen, noch Zauberer, noch Juden, noch dich gefunden.“

„Zum Teufel mit ihnen“, meinte Pit. „Na ja, die tun doch auch nur ihre Pflicht und die Kirche wird schon wissen, wozu das alles gut ist“, meinte Hans. „Ja, das wird sie wohl“, meinte Pit und hielt, sich auf die Lippe beißend, sein selbstplapperndes Schandmaul im Zaum. „Werd schon fleißig für dich arbeiten.“ sagte Pit. „Soll unser beider Schade nicht sein.“ Dabei machte er, dass er aus dem kalten Wasser heraus kam und kletterte die Böschung hoch. Die Stiefel angezogen und rasch dem Hans, der schon ein Stück vorangegangen war, hinterher. Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch kam der Hof von Hans Wilken in Sicht. Nicht, dass die Felder entlang der gesamten Strecke ihm gehörten. Nein. Er hatte Hans auf dem weit entferntesten Flurstück von mindestens fünf verstreut liegenden getroffen. Der Hof, wenn man ihn so nennen wollte, lag etwas entfernt vom Hauptweg, welchen sie nun kreuzen mussten.

Pit ließ sich seine Enttäuschung beim Anblick der Hofstelle nicht anmerken. Der Hof seines Vaters mit den nach außen gerichteten Pferdeköpfen am Giebel, welche den freien Bauern anzeigten, die Stallungen und die Scheune, die so weit vom Haupthaus entfernt lagen, dass der rote Hahn nicht übergreifen konnte, waren keinen Vergleich wert, mit diesem Anwesen. Augenscheinlich war Hans Pächter und wohl früher Leibeigen gewesen, denn die Pferdeköpfe wiesen nach innen und schauten sich an. Der Hof war so gebaut, dass alles, Vieh, Gerätschaften, die Ernte und auch das Gesinde und die Bauersleute darin Platz fanden. Das wahrhaft riesige Strohdach war beinahe bis auf den Erdboden heruntergezogen, sodass die kleinen, aber bereits mit Butzenscheiben verglasten Fenster von Weitem kaum zu erkennen waren.

Hans öffnete den unteren Teil der mächtigen, wuchtigen Dielentür und mit einer Verbeugung, weniger des „heiligen“ Spruches im Querbalken wegen, sondern eher, um sich nicht den Kopf zu stoßen, traten sie ein. Ein dumpfer, muffiger Geruch nach Kuh und Schwein empfing die müden Wanderer. Aber auch die Bäuerin Greten und Magd Lisa kamen ihnen entgegen und empfingen sie herzlich.

Nach der unvermeidlichen Vorstellungsprozedur gingen sie über die lange Diele, am Schweinegatter und Kuhstalltrakt vorbei in den Wohnbereich. Hier änderte sich der Duft ein wenig und ging vom Schweine- und Kuhmuff in einen verheißungsvollen Essensdunst über, welcher einem riesigen, eisernen Kessel über dem offenen Feuer der Herdstelle entsprang. Die große Herdstelle, einer in die Quermauer integrierten, riesigen Esse, welche sich nach oben hin verjüngte und in einen verrußten Schornsteinschlot mündete, war mit allerlei im Rauch hängenden Fleischwaren bestückt. Schinken und Würste hingen nebeneinander an einer langen Holzstange nahe dem Schornstein.

Linker Hand, neben der Esse war mannshoch dass Feuerholz gestapelt, während sich rechts die Tür zur guten Stube und den Räumen der Bauersleute anschloss. Vor der Herdstelle stand der lange, aus grob behauenen Eichenbohlen bestehende Esstisch, den zwei ebensolche Bänke auf beiden Seiten zu einem recht gemütlichen Ruheplatz machten. Ruheplatz? Pit schwante nichts Gutes, als er rechter Hand, gleich an den duftenden Kuhbereich anschließend das wahrhaft riesige, kastenartige Gesindebett wahrnahm. Die Butze. Ein Bett für alle.

 

Natürlich nicht für die Bauersleute, deren Alkoven gemütlich im gute Stuben Bereich gleich hinter der warmen Herdwand lag. Na ja, hinter dem warmen Kuhstall war es im Winter sicher auch auszuhalten. Pit fragte Hans, mit wem er als neuer Butzenmann noch das Bett teilen sollte. „Nur mit Lisa und dem Knecht Laars. Den hast du noch nicht kennen gelernt, weil er noch Äpfel für den Winter pflückt.“ „So, so“, entgegnete Pit. „Das kann ja lustig werden.“ Er schaute hinüber zu Lisa und rieb sich das Kinn.

Lisa war eine kleine gedrungene Frau, die ein hübsches, dralles Gesicht, Apfelbäckchen und, was am auffälligsten war, noch alle Zähne hatte. Ihre lange, bunte Schürze und ihr zauberhaftes Lächeln lenkten davon ab, dass sie außerdem ein kürzeres Bein hatte und deswegen hinkte. Nachts sind alle Katzen grau und alle Beine gleich lang, dachte Piter van Hoyman. Oh, lüsterner Knabe, beherrsche dein Streben und deinen sündigen Leib, poesierte er weiter in sich hinein und lenkte seine Gedanken in andere Richtungen.

Die Dielentür öffnete sich und herein kam Laars mit einer großen Kiepe bis oben hin voll mit rotbäckigen Äpfeln. „Wer´s das denn?“ Tönte es Pit entgegen. „Das ist euer neuer bi ba Butzenmann“, lachte Hans. „Nein, Laars, im Ernst, wir können doch Hilfe gebrauchen und wenn er uns im Winter nicht die Haare vom Kopf frisst, ist er bestimmt auch als Geschichtenerzähler ganz brauchbar.“ „Dieses Bürschchen soll Geschichten erzählen? Was soll der schon erlebt haben. Ist doch höchstens 14 Jahre.“ „Nein, 15 Lenze,“ erwiderte Pit. „Und du bist sicher auch nicht viel älter.“ „Na, ja, 17 bin ich schon, aber Geschichten? Lisa ist 20 und kann sicher auch schon schlüpfriges erzählen.“ Laars kicherte anzüglich. „Werde wohl im Winter Verstärkung brauchen.“

Pit lief rot an und Hans warf lachend ein: „Erst die Arbeit und, wenn ihr dann noch Flausen im Kopf habt, das Vergnügen.“ – „Aber keine Sauereien in diesem christlichen Haus. Nicht, dass die arme Lisa nachher mit einem Strohzopf geschmückt durch die Seitentür in die Kirche zur Trauung muss. Dass fällt alles auf den Bauern zurück und, obgleich der Hof abgelegen liegt, möchte ich doch nicht, dass das ganze Dorf über uns herzieht.“

Damit waren die Fronten vorerst geklärt und der Alltag hielt mit harter Erntearbeit Einzug. Die Arbeit war fast wie zu Hause. Zumindest hielt die harte Arbeit Pit vom Grübeln ab und ließ ihn fast vergessen, dass er immer noch ein Verfolgter war. Erst der Winter würde ihn vor den Nachstellungen der Kirchenhorde eine Zeit lang schützen. Die Zeit verging und noch einmal wurden von Laars und Pit schwarze Reiter gesichtet, welche jedoch eilig vor dem nahenden Winter in ihre Löcher flüchteten. Verrecken sollen Sie unter den Rockschößen der purpurnen Kutten, dachte Pit. Bei Hans und Greten durfte Pit dieses Thema nicht vertiefen. Sie glaubten und wollten und sollten den Glauben auch behalten. Er versprach zumindest Glück und Segen, was Pit sich selbst nicht zugestand und nach der Verfolgung schon gar nicht mehr.

Die Zeit brach an, zu der sich der ganze Hof auf den harten Winter einstellte. Beim Holz hacken dachte Pit an die nun zufrierenden Gräben und Kanäle in seiner Heimat, auf denen sie die scharfen Knochen unter die Schuhe gespannt, bis in die weit entfernte Stadt laufen konnten. Letzten Winter war der Schneefall aber so intensiv, dass auch dieses nicht mehr möglich war. Die Ernte war unter Dach. Die Äpfel lagerten kühl und sollten, gut eingeteilt, über den Winter reichen. Die Schweine wurden, bis auf zwei, geschlachtet und zerlegt. Nun hingen sie fein säuberlich über dem Herd im Rauch der Esse, wo sie hin gehörten und kein Futter mehr verlangten. Der beißende Räuchergeruch vertrieb den üblen Duft nach rohem Fleisch und Blut und dieser wich langsam dem verheißungsvollen Duft nach leckeren Würsten und Schinken.

Pit hackte Holz. Ganze Stämme, die schon einige Jahre unter dem heruntergezogenen Reetdach trockneten, hackte er in brauchbare Stücke. Holzhacken „anstatt“ dachte Pit. Laars war schon seit geraumer Zeit nachts mit Lisa in Gange. Auch wenn Pit dabei viel lernte, war es ihm doch jedes Mal sehr peinlich, wenn die beiden neben ihm in der Butze juchend und kreischend unter den üppig gefüllten Federbetten rummachten und die frisch aufgeworfene Strohunterlage bis auf die Holzbretter zerwühlten. Hoffentlich reißen sie sich Splitter in ihre Ärsche, fluchte Pit in sich hinein. Er zog sich wie immer die Decke über den Kopf, sodass er fast nicht mehr atmen konnte und schlief mit unkeuschen Gedanken ein.

Der Winter war schwer zu ertragen. Das Tagewerk wurde bestimmt von den immer wiederkehrenden, lebensnotwendigen Tätigkeiten wie Einheizen, die einzige Kuh melken und füttern und auch den Eber und die Sau, welche als einzige nicht im Rauch hingen, mit Futter zu versorgen. Es wurde schon untereinander gestritten, wer heute die Arbeit tun durfte. Einzig das Essen zuzubereiten war Gretens und Lisas Bereich.

Der Schnee lag inzwischen Meter hoch und der eisige Wind machte einen Aufenthalt außerhalb des Hauses so gut wie unmöglich. Das wenige Tageslicht welches noch durch die verschneiten Butzenscheiben bis in den Raum drang reichte nicht aus, um im Haus Karten zu spielen oder zu spinnen oder Handarbeiten zu machen. Dieses war nur im Schein einer Fettlampe oder auch mal einer Kerze möglich. Das ein oder andere Mal holte Bauer Hans auch seine Teufelsgeige hervor, die er von seinem Großvater geerbt hatte und leierte halbwegs erträglich eine Melodie, zu der alle reihum eine Strophe erfanden. Das war mal eine schöne Abwechslung. Dann, damit nicht zu viel Brennholz verbraucht werden musste, ging es wieder zu Bett.

Greten und Hans verschwanden durch die gute Stube in ihrem Alkoven. Lisa und Laars weckten mal wieder die Kuh auf und das dritte Rad am Karren, der höchst überflüssige Pit lag mit hochrotem Kopf und einem mächtigen Ständer daneben und lernte. Als Pit am frühen Morgen erwachte, lag Lisa dicht an ihn geschmiegt bei ihm. Auch Laars war erwacht und schaute ihn über die Decke hinweg breit grinsend an. Na, was ist? Tönte er, du weißt doch inzwischen wie es geht, du eiserne Jungfrau. Pit streichelte Lisa vorsichtig bis sie erwachte und ihn lächelnd ansah. Die knisternde Spannung entlud sich in einem „Einführungsritus“ zu dritt, den Pit sein ganzes Leben hinweg nicht mehr vergessen sollte. Nach diesem Befreiungsschlag wollte keiner so recht in Gang kommen und Hans, der zwar etwas argwöhnisch guckte, molk selbst die Kuh.

Die Tage gingen ins Land und die Nächte waren, auch mit der Mithilfe von Pit, sehr angenehm und immer wieder lehrreich. Angst vor dem reitenden Kirchenvolk brauchte Pit in dieser schneereichen Winterzeit wohl nicht zu haben. Aber auch der längste Winter mit seiner Tristesse, Langweiligkeit und Geilheit, geht einmal vorbei. Mit dem ersten Tauwetter kamen auch die sorgenvollen Gedanken wieder und eine innere Unruhe verhieß Pit, dass es bald Zeit zum Aufbruch sein würde, während das bäuerliche Leben auf dem Hof wieder erwachte. Auch, wenn es genügend Arbeit bei Hans Wilken gab, so war doch allen klar, dass Pit weder als Knecht bei Hans bleiben wollte, noch bleiben konnte. Er hätte auch diesen Hof nur gefährdet und der Willkür der Inquisition ausgesetzt.

Der Tag des Aufbruches war gekommen. Der Schnee war geschmolzen und die ersten Frühblüher steckten ihre Köpfe aus der noch kalten Erde. Pit grauste es vor den unsäglich kalten Nächten, die er im Freien verbringen würde. Aber der Abschied war unvermeidlich. Seine Häscher würden bald wieder auftauchen und dann wären auch die freundlichen Bauersleute nebst dem Gesinde mit ihm in Gefahr.

Der lange Hans hatte ihm erklärt, wie er die nahe Stadt weit umgehen konnte. Es war jedoch auf diesem Pfad nicht zu vermeiden, dass er nahe an einem großen Hafen vorbei kommen würde. Hier wäre verstärkt Vorsicht geboten. Hans und Greten dankten ihm noch einmal für die gute Arbeit und die erfreuliche Gesellschaft und staffierten ihn mit allerlei nützlichem Zeug aus. Brot, Schinkenspeck und eine warme Weste sowie eine Decke gehörten dazu.

Der Abschied war schwer. Lisa, die über Winter einen kleinen Bauch bekommen hatte und wohl bald, schnellstens, durch die vordere Kirchentür schreitend, den Laars heiraten musste, weinte bitterlich, als Pit sich anschickte, wieder das Weite zu suchen. Alle hatten Tränen in den Augen und verabschiedeten ihn herzlich. Als er um die Wegbiegung verschwand und nicht mehr winken musste, fiel ihm eine Last vom Herzen. Bei aller Trauer um das Verlorene, freute er sich doch neugierig und wissbegierig wie er war, auf die vor ihm liegenden Geschehnisse, die ihm abenteuerlich winkten.

Die große Stadt musste Pit umgehen. Nicht nur wegen etwaiger Schergen der Inquisition, sondern auch, weil er von einem Bettler, dem er einen seiner wenigen Kupfermünzen gegeben hatte erfuhr, dass dort die schwarzen Ärzte mit den Schnabelmasken umgingen und Leichen über Leichen wegschafften. Pit konnte es sich zwar nicht vorstellen, hatte aber genug Verstand auf den fragwürdigen Bericht des Bettlers zu hören. So wich er von dem Pfad, der in den Weg zur Stadt münden sollte ab und wanderte über das halb vereiste Ackerland und das darauf folgende Brachland, welches in Ermangelung von Menschen wohl nie bebaut würde. Von einem kleinen Hügel aus konnte Pit die Türme der Stadt sehen, die an dem ersten großen Fluss lag, welchen er überqueren musste um weiter nach Nordosten in das von der guten Erna beschriebene Land vordringen zu können.