Schneeflockensommer

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Schneeflockensommer
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Tyrolia-Verlag • Innsbruck–Wien

2015

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Nele Steinborn

unter Verwendung eines Fotos von 123rf.com

Layoutgestaltung: Nele Steinborn, www.steinborn.at Schrift: Neue Swift Pro, TStar Pro

ISBN 978-3-7022-3484-3 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3498-0 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at Internet: www.tyrolia-verlag.at

Teil 1

Marie sah den Blitz. Er ließ die Eisenbahnschienen im Tal aufglühen und der Donner, der folgte, klang wie das Rumpeln eines Güterzugs. Unschlüssig blickte sie hinab auf den Bahnhof und das ein Stück daneben liegende Dorf.

Ihr Kopf dachte ans Umkehren, ihre Füße aber gehorchten nicht. Vorwärts, nur vorwärts. Tiefer in den Wald. Der Pfad steil und steinig – da eine Abzweigung, rechts hinunter nach Späth und zur Burg Wannstein, geradeaus weiter zur Spitze des Wannerkogels. Der nächste Donner war ohrenbetäubend laut. Ein heftiger Wind kam auf. Er peitschte die Preiselbeersträucher und riss Zapfen und Zweige von den Fichten. Geduckt rannte Marie durch das Nadelgestöber.

Wieder erhellte ein Blitz den Wald. Sein Licht fiel auf das Häuschen abseits des Pfades, auf die Steinmauern, die nur angelehnte Tür. Verfolgt vom Heulen des Windes schlüpfte Marie ins Dunkel. Ein muffiger Gestank empfing sie: feuchte Erde, vielleicht Käse? Ihr Magen knurrte hoffnungsvoll, die Hoffnung aber verflog, kaum dass sich Marie umsah. Sie stand in einem Keller mit leeren Regalen. Schon hämmerte der Regen an das einzige Fenster. Sie floh vor ihm in den hintersten Winkel, kauerte sich hin und zog die Knie an die Brust, bohrte ihre Zehen durch die Löcher in den Turnschuhen. Wartete.

Sie war lange unterwegs gewesen, irgendwann schlief sie ein. Am Morgen regnete es noch immer. Marie blieb eine Weile mit geschlossenen Augen liegen und lauschte dem Prasseln. Sie wartete auf andere Geräusche – auf das Kläffen von Hunden im Park, erregte Stimmen vor einem Bahnhofsklo –, bis sie wieder wusste, wo sie sich befand.

Ihr Magen knurrte, also durchsuchte sie erneut den Keller, doch vergeblich. Sie trank den Wasserrest aus ihrer Plastikflasche und hielt sie dann durch den Türspalt, um sie neu zu füllen; trank, bis ihr von all dem Wasser übel wurde und sich ihr Magen bei jedem Schluck verkrampfte. Abermals schweifte ihr Blick durch den Keller. Es gab kein Essen zu erbetteln und keinen Mülleimer zu durchstöbern, auch keine Innentür oder Treppe, die ins Haus geführt hätte. Wenn sie hier blieb, würde sie verhungern.

Kaum aber wagte sie sich ins Freie, durchnässte sie der Regen bis auf die Knochen und trieb sie unter das Vordach der Haustür. Dort entdeckte Marie eine Schale mit Katzenfutter, das erstaunlich gut roch. Sie spähte nach allen Seiten, sah niemanden, schnappte sich die Schale und rannte damit zurück in den Keller.

Im hintersten Winkel verschlang sie die zerschnittene Hartwurst und die Klumpen feuchten Brotes. Die Wurst war scharf und gut und Marie leckte das Fett vom Porzellanrand, wie es eine Katze getan hätte, bevor sie das Schälchen zurückbrachte.

Zu Mittag war es wieder voll und auch am Abend. Marie dachte schuldbewusst an die Katze, doch sie kaute und schluckte und spülte das Wurstende mit Wasser hinunter.

Immer noch hämmerte der Regen ans Fenster. Wenn sie lange genug hinstarrte und lauschte, wurden ihr die Lider schwer und die Tropfen verschwammen vor ihren Augen zu einem dichten Flockengestöber. Das eintönige Trommeln lullte sie in den Schlaf. Sie träumte von Freibach, und dass es dort immerzu kalt war und schneite – bis ein Geräusch sie hochschrecken ließ: der Ruf eines Menschen oder vielleicht das Meckern von Ziegen?

Wer mochte da draußen sein? Hatte man sie entdeckt? Marie duckte sich tiefer hinter die Regale und presste eine Hand auf ihren Mund, bis ihr Herzklopfen und der Regen alles übertönten.

Als das Pochen schließlich verebbte und sie wieder lauschen konnte, waren die Geräusche fort. Sie wusste nicht, ob sie sich alles nur eingebildet hatte.

Die Nacht senkte sich herab und Marie konnte nun nicht mehr schlafen. Frierend lag sie wach, rief sich den Weg nach Freibach ins Gedächtnis und verglich die Entfernungen auf den Schildern, die sie während der letzten Tage gesehen hatte, mit der Karte in ihrem Kopf. Zu Fuß musste sie erst über den Kogel und dann …

Der Weg war noch weit. Ihr Magen knurrte. Unerbittlich fiel der Regen. Vielleicht, begann sie zu hoffen, wohnte niemand in dem Haus? Wenn es leer stünde und nur ab und zu ein Nachbar käme, um die Katze zu füttern, könnte Marie morgen ein Fenster einschlagen. Womöglich hatten die letzten Bewohner etwas dagelassen, das ihr helfen würde: Essen und trockene Kleider, vielleicht sogar Geld.

In der Früh mischte sich ganz deutlich Ziegengemecker ins Prasseln des Regens. Ehe Marie zum Katzenschälchen bei der Tür schlich, huschte sie ums Haus und versuchte in alle Fenster zu spähen, doch schwere, karierte Vorhänge nahmen ihr die Sicht.

Sie verzog sich wieder in den hintersten Winkel des Kellers, kaute Wurst und Brot und malte sich dabei für einen kurzen Moment aus, dass der Regen das Dorf im Tal überschwemmt, alle Dörfer überschwemmt und alle Menschen auf der Welt ertränkt hatte. Alle außer ihr.

Zu Mittag blieb das Katzenschälchen leer. Bis zum Abend hatte sich bloß ein Fingerbreit Wasser darin gesammelt. Maries Magen knurrte wieder lauter und irgendwann ertrug sie es nicht mehr: Sie huschte unter das Vordach der Haustür und rüttelte probeweise an der Klinke. Die Tür sprang sofort auf. Dahinter lagen ein Flur, so düster wie der Keller, und eine schmale Treppe, die nach oben führte.

Marie lauschte. Alles blieb still. Trotzdem wagte sie sich nicht auf die Treppe: Wenn dort oben jemand war und ihr den Rückweg versperren würde, wäre sie gefangen. Da erschnupperte sie einen verlockenden Essensduft und folgte ihm bis zu einer Stube mit rot-weiß karierten Vorhängen. Der Tisch war mit einem Teller und einem Becher gedeckt. Eine zweite Tür mochte in eine Speisekammer führen und daneben wartete auf dem Herd ein dampfender Topf.

Kaum aber trieb Maries Hunger sie hin, schoss eine Hand durch die Tür und packte sie. Die fetteste, hässlichste Frau der Welt wälzte sich aus der Speisekammer: ein Weib wie aufgegangener Germteig mit strähnigem Haar und einem Doppelkinn, das über den Kragen der Bluse quoll.

„Suchst du die Wurst?“, knurrte sie. „Ist keine mehr da.“

Ihr Griff war eisenhart. Marie wand sich, boxte und stieß mit den Ellbogen zu, doch sie konnte sich nicht befreien.

„Lassen Sie mich los! Ich habe nichts gestohlen! Es tut mir leid wegen der Katze!“

„Hab keine Katze.“ Die Frau ließ Marie los. „Ist keine Wurst mehr da“, wiederholte sie mürrisch. „Wenn du Brot und Speck magst, setz dich hin.“ Sie watschelte zurück in die Speisekammer. Von dort brachte sie Brot und Speck und aus dem Topf goss sie warme Milch in den Becher. Hungrig verschlang Marie das Brot und den Speck. Sie leckte sich die Finger ab und pickte damit nach den letzten Krumen, während die Frau einen Klumpen Honig in die Milch ploppte, dass es spritzte.

Erst als der Teller spiegelblank und kein Tröpfchen Milch mehr da war, sagte die Frau: „Das Wetter beleidigt meine alten Knochen, aber die Ziegen müssen gefüttert werden. Bekommst dafür trockene Kleider und ein Bett für die Nacht.“ Auffordernd starrte sie Marie an.

Der Speck lag schwer wie ein Stein in Maries Magen und die honigsüße Milch darin brannte. Marie nickte.

„Dann sag mir deinen Namen.“

„M-marie.“

„Natürlich.“

Die Frau räumte den Teller und den Becher ab. Sie musste dazu über Maries Ellbogen greifen und sie warf ihr dabei einen missmutigen Blick zu, als fragte sie sich, warum Marie noch hier saß.

Hinter dem Haus lag der Pferch, in dem sich ein halbes Dutzend scheckige Leiber und Hörner drängte. Marie fand einen Sack voll Heu und verstreute es zwischen den Ziegen im Matsch. Als sie zurück in die Stube kam, brodelte im Topf auf dem Herd das Wasser.

Die Frau warf ihr einen kurzen Blick zu und befahl: „Häng das nasse Zeug zum Trocknen auf.“

Über der Stuhllehne lagen eine graue Hose, ein graues Unterhemd und eine graue Strickjacke für Marie bereit. Gehorsam schlüpfte sie aus Jeans und Jacke, doch sie behielt ihr T-Shirt an, obwohl ihr die klamme Baumwolle eine Gänsehaut über den Rücken trieb.

„Willst du Kartoffeln essen? Dann kannst du welche schälen.“ Also goss Marie das Wasser ab und verbrannte sich beim Häuten die Finger.

In jedes Bein der grauen Hose hätte eine ganze Marie gepasst, und die Ellbogen der Strickjacke hingen erst in die Kartoffelschalen und dann beim Essen auf Maries Teller. Es gab Haferbrei mit Kartoffeln und Zwiebeln. Gegenüber auf der Bank schlürfte und schmatzte die Frau. Ihre Zunge schleckte auf, was ihr aus dem Mundwinkel rann, und der Blick ihrer Schweinsäuglein ruhte auf Marie.

Nach dem Essen schnalzte sie ungeduldig mit einem Geschirrtuch, bis Marie danach griff und ihr beim Abwasch half. Als Besteck und Geschirr wieder sauber im Schrank verstaut waren, scheuchte sie Marie in den Flur und die schmale, steile Treppe hoch. Oben befand sich eine Kammer, gerade groß genug für einen Schrank und ein Bett.

Ein Bett! In ihren geliehenen Kleidern kroch Marie unter die Decke. Verglichen mit dem Kellerboden und all den Parkbänken und Bahnhofsfliesen in den Nächten davor fühlte sich die Matratze viel zu weich an.

 

Marie wälzte sich in der Dämmerung hin und her, lauschte dem Regen, hörte die Frau in der Stube poltern und brummen. Bettwäsche und Vorhänge waren blau-weiß kariert. Wenn Marie blinzelte, schmolzen die weißen Karos – als ob es schneite.

Sie erwachte spät. Blaues Licht drang durchs Fenster. Die Frau mühte sich keuchend und schnaufend die Treppe hoch. Statt aufzuspringen, lag Marie still und hielt die Augen geschlossen, bis ihr mit einem Ruck die Decke weggezogen wurde.

„Bist noch immer da“, knurrte die Frau.

Marie nickte. Sie fror ohne die Decke. Verstrickt in die letzten Fetzen ihres Traums dachte sie mit Schaudern an Freibach, wo es immerzu schneien würde, selbst im Juli.

„Die Ziegen meckern nach ihrem Frühstück. Und dem Boden würd’s auch nicht schaden, wenn ihn mal einer schrubben wollte.“ Die Frau verstummte kurz und fügte dann hinzu: „Mich nennt man Berta.“

Unten in der Stube rührte Marie den Haferbrei um, während Berta die Milch fürs Frühstück wärmte. Auf dem Brei bildete sich eine schleimige Haut und er roch ein wenig verbrannt. Zu Maries großer Erleichterung rümpfte Berta nur die Nase und sagte kein Wort.

Beim Essen hatte Marie Mühe, nicht zu starren. Im Morgenlicht sah sie, dass Bertas halbes Dutzend Zähne schief und gelb war. Die Haut um ihre Schweinsäuglein hing in Falten, als hätte jemand einen prallen Luftballon zerstochen.

„Musst du aufs Klo?“, fragte Berta jäh.

Marie hörte auf zu zappeln und nickte verschämt.

„Bei den Ziegen. Pass auf, dass dich nicht der böhmische Wolf frisst. Aber besser dich als sie.“

Das Plumpsklo hinter dem Pferch stank und ins Prasseln des Regens mischte sich ein Hecheln und Knurren, sodass Marie heilfroh war, als die Haustür wieder hinter ihr zufiel.

Berta reichte ihr eine Bürste und einen Eimer voll Regenwasser. Den Rest des Tages kniete Marie auf der Treppe oder im Flur und schrubbte. Es war, wie Berta versprochen hatte, wirklich bitter nötig.

Abends hatte sie raue, rote Hände und Berta befahl ihr, sie vor dem Schlafengehen mit Ziegentalg einzuschmieren. „Die Treppe glänzt ja wie Gold. Nur schade, dass die Kammer dagegen wie Blech aussieht.“

So verstrich der nächste Tag mit Schrubben und der dritte. Die Ziegen meckerten ungeduldig im Pferch. Das Heu ging zur Neige. Berta schickte Marie im strömenden Regen Hasel- und Holunderzweige holen, dafür warteten in der Stube honigsüße Milch und staubtrockene Haferkekse zum Eintunken auf sie.

Müde fiel Marie jeden Abend in ihr Bett. Sobald sie die Augen schloss, wurden die weißen Karos auf den Vorhängen zu einem dichten Schneegestöber in ihrem Kopf, das sie an Freibach denken ließ.

Sie hätte sich längst wieder auf den Weg machen sollen und das Schuldgefühl drohte sie zu ersticken.

Später, versicherte sie ihm. In Freibach wird es auch später noch schneien.

Am vierten Morgen kitzelte plötzlich ein Sonnenstrahl ihre Nase. Marie lugte durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Die Fichtenwipfel glitzerten in der Morgensonne. Sie schloss die Augen und wünschte sich mit aller Kraft den Regen zurück, doch als sie wieder aus dem Fenster sah, strahlte dort über den Wipfeln noch immer ein wolkenloser Himmel. Das Wetter war perfekt und für sie gab es keine Ausrede mehr: Sie musste heute aufbrechen.

Schon der Gedanke an Freibach ließ ihr die Beine schwer werden, als sie aus dem Bett kroch. Auch ihr Kopf fühlte sich schwer an. Karierte Flocken tanzten vor ihren Augen. Vielleicht, durchfuhr sie ein jäher Hoffnungsschimmer, hatte sie Fieber? Mit Fieber würde Berta sie nicht einfach gehen lassen.

Oder sie könnte den Honigtopf auf der Treppe zerschlagen und wenigstens so lange bleiben, bis diese frisch geschrubbt wäre.

„Ich und verhungert?“, hörte sie Berta unten knurren. „Wenn der Speck in meiner Speis zur Neige geht, bleibt hier“, sie klatschte sich wohl dumpf auf den Bauch, „noch immer genug für einen ganzen Winter.“

Marie schlich hinab in die Stube. Dort stand Berta und vor ihr ein älterer Bursch, dessen Augen bei Maries Anblick groß wurden. „Berta, wer ist das?“

Berta erwiderte nur: „Marie, bring einen Teller, wenn ihr euch nicht deinen teilen wollt.“

„Bloß keine Umstände!“, wehrte der Bursch ab. „Ich bin nur wegen der Einkäufe gekommen und ich soll zum Mittagessen daheim …“, dann fiel sein Blick auf den Honigtopf und er verstummte.

Marie knallte ihm den Haferbrei schwungvoll hin: nicht weil er neugierig war, sondern weil er sich einfach so bei anderen Leuten zum Frühstück einladen konnte.

Er hieß Linus. „Wer bist du?“, fragte er wieder.

Marie schwieg, doch Berta antwortete an ihrer Stelle: „Sie bleibt eine Weile bei mir.“ Kein Zögern, kein Betteln. Marie musste nicht erklären, wer sie war – musste wenigstens heute nicht nach Freibach aufbrechen. Ein Gefühl von Dankbarkeit stieg in ihr hoch, auch wenn Berta sie bloß für die Ziegen und fürs Schrubben brauchte.

Linus redete für drei und schaffte es trotzdem, seinen Teller so rasch wie Marie ihren zu leeren. Er schwärmte vom Hasenbraten und vom Hirschragout seines Vaters, bis Marie dachte, der Vater müsse ein Förster oder Wilderer sein. Nach dem Frühstück trug sie die Einkäufe, die Linus gebracht hatte, in die Speisekammer: Eier und scharfe Würste, Brot und Milch und zwei Flaschen Most. Berta watschelte davon und kam mit dem abgezählten Geld zurück. Da wusste Marie, dass sie ihr trotz allem nicht traute. Sie tat wohl auch gut daran.

Marie hatte noch nie Ziegen gehütet.

„Ich helfe dir“, versprach Linus.

„Musst du nicht heim oder wildern?“, entfuhr es ihr.

Er blickte verdutzt drein. „Ich bin doch kein Wilderer! Ich …“

„Ein Holzapfel ist er“, unterbrach ihn Berta barsch. „Die isst man gedörrt oder gekocht.“

Linus grinste. Marie wagte nicht zu fragen.

„Mecki!“, rief Linus im Pferch, als würde er eine alte Freundin begrüßen. Er packte die schwarze Ziege bei den Hörnern und führte sie hinaus. Die anderen folgten willig.

Mit Stöcken trieben Linus und Marie das halbe Dutzend auf eine kleine, sumpfige Lichtung im Wald. Das Wasser sickerte durch Maries Turnschuhe und ihre dünnen Socken. Sie setzten sich auf einen entwurzelten Baum. Linus fing an zu pfeifen und wippte mit den Fersen im Takt.

„Wolltest du nicht bis Mittag daheim sein?“, fragte Marie wieder, doch er zuckte mit den Schultern. „Die wissen, wo ich bin.“

„Die“, das waren seine Mutter und sein Vater, der Wirt im „Ende der Welt“. Und der Kellner Vinzerl, der über der Gaststube wohnte. Wenn samstags und sonntags das ganze Dorf Späth zum Essen kam, half Linus an der Schank aus und zapfte das Bier, oder er servierte die resch herausgebackenen Schnitzel und den warmen Apfelstrudel mit hausgemachter Vanillesoße.

„Flecki, bleib da!“ Er fuchtelte mit seinem Stock, doch die schwarze Ziege starrte ihn ungerührt an.

„Das ist Mecki. Vorhin hast du die mit dem Fleck am Ohr Flecki genannt.“

„Macht nichts. Sie heißen alle Flecki oder Mecki“, erwiderte Linus fröhlich. Mecki-Flecki wackelte mit dem Kopf, als stimmte sie zu. Einmal in der Woche radelte Linus mit den Einkäufen hinauf zu Berta. Wenn Gäste kamen, schenkten die ihr alte Kleider sowie Nuss- oder Zirbenschnaps. Berta hatte geschworen, ihr Lebtag keinen Fuß mehr ins Dorf zu setzen.

„Wem hat sie das geschworen?“

„Dem Teufel, heißt es.“ Aber Linus wusste es auch nicht so genau.

Nach einer Weile trieben er und Marie die Ziegen heim.

„Ich muss jetzt wirklich los.“ Doch statt zu gehen, machte es sich Linus in der Stube auf der Tischkante bequem.

„Runter, Linus Holzapfel!“, knurrte Berta. „Wir sind hier nicht beim Zirkus.“

„Nicht?“, spielte er den Erstaunten. „Ich dachte, vielleicht beim Flohzirkus.“ Er rutschte von der Kante und blinzelte Marie zu. Berta schien ihm die Frechheit nicht übel zu nehmen. Sie bot ihm kalten Haferbrei an, den schlug er aus. Als er aber weiter trödeln wollte, befahl sie ihm dann doch unwirsch, Marie nicht länger von der Arbeit abzuhalten.

Nun wirkte Linus tatsächlich erstaunt. Scheinbar begriff er erst jetzt, dass Marie nur zum Arbeiten und nicht etwa zu Besuch hier war. Er schwang sich auf sein Fahrrad und klingelte zum Abschied.

„Kein fauler Apfel“, knurrte Berta, als er zwischen den Fichten verschwand, „aber ein Mundwerk für drei. Komm. Gibt Holz zu hacken.“

Sie führte Marie zum Hackklotz und den Scheiten, die entlang der Hausmauer gestapelt waren. Im Hackklotz steckte die Axt.

„Soll ich …?“

„Wenn du kannst.“

Marie zog die Axt aus dem Klotz und holte aus. Berta sah nur zu, sagte nicht „falsch“ und nicht „richtig“. Die Schneide der Axt glitt vom Scheit ab und verfehlte knapp Maries Bein.

Berta nahm ihr die Axt weg. Ihre fetten Arme zitterten wie Pudding, aber das Holz fiel unter ihrem Hieb glatt entzwei. „Bist mir keine große Hilfe“, grunzte sie.

Marie dachte an die blank gescheuerte Treppe und an die Ziegen. Sie versuchte zu widersprechen, kein Wort jedoch kam über ihre Lippen. Ihr Blick klebte an der Axt in Bertas Händen und sie roch den Schnee in der Luft.

Ihre Beine wollten wegrennen. Der Rest von ihr stand bloß da und wartete aufs Fallen der ersten Flocken.

Ein Holzscheit und noch eines splitterte unter Bertas Hieben. Sie ließ die Axt sinken und betrachtete Marie. „Bist zu schwach“, entschied sie. „Musst mehr essen.“

Am Abend nötigte sie Marie einen zweiten Teller Brei auf und kratzte noch die letzten Klumpen für sie aus dem Topf, bis Marie glaubte, der Hafer müsse ihr zu den Ohren herausquellen. Unter Bertas wachsamem Blick löffelte sie alles in sich hinein. Ans Verhungern zu denken half: Während sie kaute und schluckte, kaute und schluckte, rief sie sich angebissene Brote aus Mülltonnen in Erinnerung, zertretene Pommes auf Bahnhofsfliesen, steinharte Semmeln, die jemand für die Tauben verstreut hatte, und eine ranzig stinkende Thunfischdose, das Öl, das über ihre Finger rann, die Nägel blutig gekaut und schwarz vor Dreck.

Sie leerte ihren Teller und sagte Danke, wusch ab und erbrach sich später heimlich hinter dem Ziegenpferch, den ranzigen Gestank des Thunfischöls noch immer in der Nase.

Linus kam am nächsten Tag wieder. Er brachte einen Sack voll Äpfeln und behauptete, den habe er gestern daheim vergessen. Marie glaubte ihm nicht.

„Kann ich helfen? Ich weiß einen guten Platz für die Ziegen.“ Berta knurrte ihre Zustimmung und gab ihm sogar Äpfel als Jause mit, zwei für jeden. Da wagte Marie nicht zu widersprechen.

Linus redete den ganzen Weg über vom Essen im Wirtshaus und beschrieb jedes Gericht so anschaulich, dass Marie glaubte, schon vom Zuhören satt werden zu müssen. Dass er bei seinem Gerede dürr wie ein Zaunpfahl war, wunderte sie.

„In der Früh ess ich am liebsten Buttersemmeln. Und du?“

„Haferbrei mit Honig“, murmelte Marie, denn etwas anderes gab es bei Berta nicht.

Und mittags? Haferbrei mit Wurst.

Und abends? Haferbrei mit Kartoffeln und Zwiebeln.

Linus lachte. „Da bist du ja bei der Berta gut aufgehoben. Sie liebt ihren Haferbrei!“

Er selbst aß mit Vinzerl und den Gästen in der Stube Hasenbraten und Hirschragout, Schnitzel und Kraut und Gulasch und Knödel und zum Nachtisch den warmen Apfelstrudel mit Vanillesoße oder Eis. Aber eigentlich war ihm die nussige Hartwurst am liebsten.

„Die Wursthäute füllen wir noch selbst, obwohl mein Vater seit Jahren nicht geschlachtet hat – die letzte Sau zu meiner Geburt“, erzählte Linus mit einer Selbstverständlichkeit, als gingen Schlachten und Kinderkriegen immer Hand in Hand.

Sie bogen in die Forststraße ein, die auf der steilen Seite des Kogels zur Burg Wannstein führte. Marie sah schon die Zinnen zwischen den Fichtenwipfeln aufragen. Plötzlich aber lotste Linus sie und die Ziegen weg von der Straße auf einen Trampelpfad. Der verlief so steil abwärts, dass Marie Angst bekam, die Ziegen würden abrutschen und sich die Hälse brechen.

„Meinst du wirklich …?“

Doch Linus sprang unbekümmert voran und war schon halb unten, bevor sie den Satz beenden konnte. Auch die schwarze Mecki, die scheckige Schecki und Flecki mit dem Fleck am Ohr trabten furchtlos bergab. Ihre Zicklein drängten einander mit spitzen Hörnchen beiseite, weil jedes das Erste sein wollte.

Der Pfad endete am Fuß einer Steilwand. Nichts wuchs hier außer Farnen und ein paar Preiselbeersträuchern. Linus hatte gelogen: Das war kein guter Platz.

 

Er schien verschwunden zu sein. Kaum jedoch schaute sie um sich, steckte er den Kopf aus einer Höhle im Fels. „Komm! Ich zeig dir was.“

In der Höhle war es kalt und feucht. „Hörst du’s?“, raunte Linus. „Das Kratzen?“ Er legte den Kopf in den Nacken. Über ihm erahnte Marie ein dunkles Loch – einen Schacht? Sie hörte nur die Ziegen, doch sie nickte.

„Das sind Hunde. Im Burghof gibt es eine Falltür. Der Graf von Späth hat seine Feinde in das Loch geschmissen, und erst ein Jahr darauf sind seine Diener gekommen und haben weggetragen, was nach den Wölfen übrig war.“ Linus verstummte kurz. „Die Hanna, meine Kusine, fand das furchtbar grausig.“

Er schwieg erwartungsvoll, als müsse Marie nun sagen, dass sie es auch furchtbar grausig fand. „Einmal hab ich ihr einen Stein gezeigt und behauptet, es wär ein abgebrochener Zahn. Sie hat gekreischt, dass man sie bis zur Burg hören musste.“ Vergeblich suchte sein Blick den Boden nach einem passenden Splitter ab. „Der Mann, der damals die Burg in Schuss hielt, hatte Rottweiler. Sie kratzten an der Falltür und ich wartete immer darauf, dass einer zu uns durchbrechen würde.“

Nun hörte Marie das Kratzen.

„Aber die jetzt dort wohnen haben bloß zwei kleine Kläffer, mehr Ratten als Hunde. ‚Gulasch‘, sagt mein Vater: Muskat und Majoran dazu, einen Schuss Essig hinters Ohr, ein Lorbeerblatt zwischen die Zähne und ab in den Topf.“

„Und wenn einer gefallen wäre?“ Maries Stimme klang geisterhaft rau. „Was hättest du getan?“

„Wahrscheinlich nichts“, bedauerte Linus. Der Rottweiler hätte sich den Hals gebrochen. „Aber ich musste Hanna versprechen, ihn mit dem Schwert zu zerhacken. So ging unser Spiel: Ich war der Ritter Lancelot, der alle Drachen zerhackte, und Hanna hieß Esmeralda. Sie nähte sich dann Handschuhe aus den Drachenschuppen.“

Marie starrte in sein Grinsen und stellte ihn sich mit einem Schwert vor. Er wirkte nicht wie einer, der je einen Drachen oder Rottweiler zerhackt hatte.

Aber plötzlich stand eine Szene klar vor ihren Augen: wie Berta die Axt schwang, wie ein Schädel und ein zweiter vom Hackklotz fiel und wie die kopflosen Hunde im Kreis rannten. Sie floh aus der Höhle und würgte draußen, doch das Frühstück war lange her und der Haferbrei bereits verdaut.

Linus folgte ihr. „Bist du okay? Tut mir leid. Das ist ganz schön grausig, vor allem mit den Handschuhen. Ihr Mädchen seid so zimperlich.“

„Ich nicht!“ Sie sah an seinem Blick, dass er sie würgen gehört hatte. „Ich habe bloß Bauchweh.“

„Du kannst ruhig zugeben …“

„Ich bin nicht zimperlich! Ich musste nur kotzen.“

„Hat dir jemand Steine in den Bauch getan? Du weißt schon. Wie dem bösen Wolf“, versuchte Linus zu witzeln, doch als ihn Marie anfunkelte, sagte er nichts mehr. Sie trieben die Ziegen hinauf zur Straße und dann auf eine Lichtung. Linus spähte hoch zu den Wolken und runzelte die Stirn.

„Schecki, Mecki, Flecki, genug gefressen, ihr werdet fett!“ Zu Marie sagte er: „Wir werden rennen müssen.“

Sie rannten. Schon auf dem halben Rückweg begann es wie aus Kübeln zu schütten und die Fichten boten keinen Schutz.

„Ihr seid mir vielleicht zwei Narren“, knurrte Berta, als sie die Tür öffnete. Um Maries durchweichte Turnschuhe bildete sich eine Pfütze.

Sie wollte mit dem Hineingehen auf Linus warten, doch er schüttelte den Kopf: „Ich radle besser heim. Nass bin ich sowieso.“ Er stieg auf sein Fahrrad, klingelte kurz zum Abschied und holperte in den Wald. Von hinten ähnelte er einem struppigen Hund mit blondem Fell.

„Willst du da stehen bleiben, bis du anwurzelst?“ Berta scheuchte Marie ins Haus. „Zieh das aus, das an und hier, trink.“ Der erste Schluck Honigmilch schmeckte fast zu süß. Marie presste eine Hand auf ihre Lippen.

„Was ist mit dir los?“

Ich habe Bauchweh, wollte sie lügen, aber sie hatte Angst davor, was Berta tun oder sagen würde, wenn sie zu krank zum Arbeiten wäre.

Berta musterte sie lange. Dann stand sie auf, ging in die Speisekammer und kam mit einer braunen Flasche ohne Etikett zurück. Sie knallte sie vor Marie auf den Tisch. „Ein Zirbener! Ist gut für den Magen.“

Hastig lehnte Marie ab und log, dass sie bloß alle Äpfel gegessen habe, auch die von Linus. Trotzdem zwang ihr Berta einen halben Teller Haferbrei auf. Jeder Löffel davon sank schwer wie ein Stein in Maries Magen und machte sie zugleich hungriger.

Ein Mann aus dem Dorf kam zu Besuch und tags darauf zwei blonde Frauen. Berta befahl Marie, ihnen Brot und Speck zu bringen, und scheuchte sie dann hinaus zu den Ziegen.

„Wisst ihr, was die da drin bereden?“ Mecki zuckte mit dem rechten Ohr, Flecki mit dem linken und Schecki glotzte Marie verständnislos an.

Der Mann aß nicht annähernd so viel wie Linus und die Frauen aßen gar nichts. Während Marie gegen Ende ihres Besuchs das unberührte Brot und den Speck abräumte, sagte Berta: „Sie bleibt eine Weile bei mir.“

Die Blicke der Frauen wandten sich Marie zu, die dünnere der beiden öffnete den Mund. Hastig floh Marie mit dem Brot und dem Speck in die Speisekammer und wartete dort, bis die Frauen die Stube verlassen hatten.

Berta begleitete sie hinaus. Marie wischte mit gesenktem Kopf den Tisch ab und lugte verstohlen in den Flur. Der Mann hatte Berta zum Abschied eine Flasche Zirbenschnaps und einen Beutel Pfeifentabak geschenkt. Die Frauen gaben ihr eine Strickjacke. Marie hörte, wie eine der beiden nach ihrem Namen fragte, doch sie hörte Bertas Antwort nicht. Am Abend zog Berta die Jacke an, paffte ihre Pfeife und trank dazu ein Stamperl Zirbenen, weil der gegen beleidigte Knochen half.

„Hast du noch Bauchweh?“, fragte Linus, als er das nächste Mal mit den Einkäufen kam, und das klang fast, als hätte er Marie damals geglaubt. Sie verneinte.

Linus witzelte: „Wenn’s kein Stein in deinem Bauch war, dann vielleicht ein Zicklein.“ Er sah rüber zum Pferch – gab vor, die Zicklein zu zählen.

Ehe Marie etwas erwidern konnte, schüttelte er den Kopf. „Nein, das passt nicht. Der Wolf in den Geschichten ist nie ein Mädchen.“

Marie wusste darauf nichts zu sagen. Sie war froh, als er fragte: „Hilfst du mir?“ und ihr die Mostflaschen aus dem Fahrradkorb reichte.

Zwei Tage später holperte er ganz aufgeregt herbei und klingelte so laut, dass Marie, die draußen die Vorhänge wusch, sie vor Schreck in den Bottich fallen ließ.

„Ich muss dir was zeigen!“ Er sprang vom Rad. „Ein Märchen. Du wirst es mögen!“

„Ich arbeite“, sagte Marie. Ihr T-Shirt war bis zum Kragen nass gespritzt und ihre Arme waren mit Seifenlauge verschmiert.

„Dann helf ich dir.“ Linus griff nach einem Vorhang, doch Marie stieß ihn weg, weil seine Finger schmutziger waren als das Wasser.

„Komm! Ich weiß nicht, wie lange sie dort sitzt.“

„Wer?“

„Na, das Märchen. Rate!“

Marie dachte an Bertas böhmischen Wolf. An Steine im Bauch. „Rotkäppchen.“

„Noch mal.“

Oder hatte es mit der Burg zu tun? „Dornröschen.“

Linus schüttelte den Kopf und grinste, weil er sah, dass er sie neugierig gemacht hatte. „Ich geb dir einen Tipp“, begann er, doch in diesem Moment kam Berta aus dem Haus und Marie duckte sich so tief sie konnte über den Bottich.

„Darf ich Marie was zeigen?“, hörte sie Linus fragen. Sie rieb verbissen an einem Stoffzipfel und wagte nicht aufzusehen, bis Berta knurrte: „Lass die Vorhänge einweichen. Geht der Dreck besser raus.“ Mit diesen Worten machte sie kehrt und marschierte davon. Erwartungsvoll grinsend wandte sich Linus an Marie.

Die Forststraße endete am hohen, hölzernen Tor der Burg Wannstein, von dem Linus behauptete, Marie könnte nicht mal drüber sehen, wenn sie auf seinen Schultern stünde.

„Du auch nicht, wenn du auf meinen stündest.“

„Du bist ein Zwerg“, stimmte Linus zu. „Wenn ich auf meinen Schultern stehen könnte, ginge es.“

Er führte sie am Tor vorbei, dorthin, wo die Mauer noch Zinnen hatte. „Schau“, sagte er und beschattete seine Augen. „Da ist sie: Rapunzel.“

Zwischen zwei Zinnen schimmerte Gold. Erst hielt es Marie für eine Spiegelung der Sonne, doch dann erkannte sie glänzendes Haar und sah schnell weg.

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