Buch lesen: «Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen»

Schriftart:

Barbara Lux

Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen

Eine kontrastive Untersuchung phonologischer und grammatischer Aspekte

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

[bad img format]

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0005-2

Inhalt

  Vorwort

  1. Einleitung

 2. Gegenstand der Untersuchung2.1 Darstellung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands2.2 Typologie deutscher und schwedischer Kurzwörter2.2.1 Akronyme2.2.2 Kurzwörter im engeren Sinne2.2.3 Sonderfälle2.3 Abgrenzung des Phänomens2.4 Literaturüberblick2.4.1 Forschung zu deutschen Kurzwörtern2.4.2 Forschung zu schwedischen Kurzwörtern

  3. Vorgehensweise und erste Ergebnisse 3.1 Zeitungskorpora 3.2 Wörterbuchkorpora

 4. Phonologische Eigenschaften von Kurzwörtern4.1 Silbenzahl4.1.1 Deutsch4.1.2 Schwedisch4.2 Silbenstruktur4.2.1 Endsilben4.2.2 Die Silbenstruktur ganzer Kurzwörter4.3 Vergleich der silbischen Eigenschaften deutscher und schwedischer Kurzwörter4.4 Weitere Aspekte

 5. Die Pluralbildung von Kurzwörtern5.1 Die Pluralbildung deutscher Kurzwörter5.1.1 Die Pluralbildung im deutschen Normalwortschatz5.1.2 Die Pluralbildung im deutschen Kurzwortschatz5.2 Die Pluralbildung schwedischer Kurzwörter5.2.1 Die Pluralbildung im schwedischen Normalwortschatz5.2.2 Die Pluralbildung im schwedischen Kurzwortschatz5.3 Vergleich der Pluralbildung deutscher und schwedischer Kurzwörter

  6. Diskussion einzelsprachlicher Unterschiede 6.1 Phonologische Unterschiede 6.2 Grammatische Unterschiede 6.3 Orthographische Unterschiede 6.4 Die Integration weiterer peripherer Wortschatzeinheiten in den Untersuchungssprachen

  7. Fazit und Ausblick

  Literaturverzeichnis

  Verzeichnis der Symbole und Abkürzungen

 AnhangAnhang 1: Deutsches Zeitungskorpus (Süddeutsche Zeitung)Anhang 2: Deutsches Wörterbuchkorpus (Rechtschreib-Duden)Anhang 3: Schwedisches Zeitungskorpus (Dagens Nyheter)Anhang 4: Schwedisches Wörterbuchkorpus (Svenska Akademiens Ordlista)

Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2015 an der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen wurde. Den langen Weg zur abgeschlossenen Promotion haben viele Personen begleitet, denen ich danken möchte.

Irene Rapp hat mich schon während meines Studiums in meiner Leidenschaft für Sprachwissenschaft bestärkt. Ihr danke ich für das in mich das gesetzte Vertrauen und die Betreuung und Begutachtung meiner Arbeit.

Damaris Nübling danke ich dafür, dass sie trotz vielfältiger weiterer Aufgaben bereit war, die Zweitbegutachtung meiner Arbeit zu übernehmen, für viele konstruktive Hinweise und angenehme Begegnungen.

Stefanie Gropper hat mir im Studium der Skandinavistik viel Raum gegeben, meinen linguistischen Herzensthemen nachzugehen und mich auf dem Weg zur Promotion immer unterstützt, wofür ich ihr herzlich danke.

Elke Ronneberger-Sibold, Torsten Leuschner, Ruth Lemey und Damaris Nübling haben mir schwer zugängliche Literatur zur Verfügung gestellt – herzlichen Dank dafür.

Stefan Engelberg danke ich für hilfreiche Anmerkungen und seine Teilnahme am Promotionskolloqium.

Hans Raab und Charlotta Gullberg danke ich dafür, dass sie als schwedische Muttersprachler viele Fragen zum Kurzwortgebrauch beantwortet haben.

Ein besonders herzliches Dankeschön gilt Sebastian Veelken für das Betreiben von www.doktorandenforum.de, das mir immer wieder eine große Hilfe war. Ohne die Unterstützung meiner wunderbaren Mitstreiter im virtuellen Schreibtreff hätte ich diese Arbeit nicht abschließen können; ihnen danke ich von Herzen für Motivation und Gesellschaft.

Ich danke Matt Smith, der mir stets ein Vorbild an Durchhaltevermögen war, für seine Inspiration und Kreativität.

Johannes Hilliges und Dorothea Kuhmann danke ich für hilfreiche Gespräche.

All meinen Freunden danke ich dafür, dass sie mich auf dem Promotionsweg ermutigt und unterstützt haben.

Meinem Mann und meinen Kindern danke ich von Herzen für ihre fortwährende Unterstützung und ihre Geduld, die in manchen Arbeitsphasen stark strapaziert wurde.

1. Einleitung

Sowohl im Gegenwartsdeutschen als auch im Gegenwartsschwedischen sind Kurzwörter verschiedener Art wie dt. Abi < Abitur, Kripo < Kriminalpolizei und LKW < Lastkraftwagen oder schwed. mick < mikrofon, koll < kontroll und mc < motorcykel ‚Motorrad‘1 nicht nur im schriftlichen, sondern auch im mündlichen Sprachgebrauch ein häufiges Phänomen. Nachdem sie im 20. Jahrhundert von sprachpflegerischer Seite oft als Sprachverfall gegeißelt wurden, z.B. als „Hottentottensprache“ in Muttersprache (1927: 250) oder von Webinger (1944:108f.) als „Unart“, „Verkrüppelungen“ und „Verstümmelungen unserer heiligen Muttersprache“, sind Kurzwörter heutzutage in vielen Fällen selbstverständlicher Bestandteil der Kommunikation. Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Phänomen der Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen aus synchroner Sicht und untersucht anhand von eigens für diese Arbeit erstellten Kurzwortkorpora vor allem phonologische und grammatische Aspekte von Kurzwörtern in den Untersuchungssprachen.

Gerade schwedische Kurzwörter sind noch eher spärlich erforscht. Bis auf einige kürzere Arbeiten, die in Kapitel 2.4.2 vorgestellt werden, existieren keine detaillierten Beschreibungen schwedischer Kurzwörter. Besonders Untersuchungen, die auf einer größeren Datengrundlage basieren, waren bislang ein Desiderat (vgl. Nübling 2001:196, Nübling/Duke 2007:231). Die vorliegende Arbeit soll den Auftakt dazu bilden, diese Forschungslücke zu schließen und eine produktive Forschung zu schwedischen Kurzwörtern zu etablieren. Da diese Arbeit einen der ersten Schritte auf dem Weg zu einer empirisch begründeten schwedischen Kurzwortforschung darstellt, lag eine kontrastive Ausrichtung der Untersuchung nahe. Auf diese Weise können die Ergebnisse der deutschen Kurzwortforschung produktiv für das Schwedische genutzt werden. Aufgrund der engen Verwandtschaft mit dem Schwedischen und der Tatsache, dass zu deutschen Kurzwörter bereits eine produktive Forschung vorhanden ist, bot sich das Deutsche als Vergleichssprache an. Trotz der engen Verwandtschaft der Untersuchungssprachen zeigen sich neben Gemeinsamkeiten auch deutliche Unterschiede zwischen deutschen und schwedischen Kurzwörtern, die sowohl strukturelle und grammatische Aspekte betreffen als auch auf grundlegendere Unterschiede zwischen den Untersuchungssprachen zurückzuführen sind. Neben generellen Unterschieden im phonologischen System geht es dabei auch um die Frage, in welchem Umfang Kurzwörter und andere periphere Wortschatzelemente in das jeweilige Sprachsystem integriert werden. Aus praktischen Gründen beschränkt sich die Analyse auf die Standardvarietäten der Untersuchungssprachen, d.h. dialektale Besonderheiten und regionale Kurzwörter werden nicht berücksichtigt. Es liegt auf der Hand, dass in einer sprachvergleichenden Arbeit die Ausführungen zu den Einzelsprachen weniger detailliert ausfallen als bei einer Arbeit, die sich auf eine Untersuchungssprache beschränkt. Im Gegenzug lassen sich gewisse einzelsprachliche Charakteristika erst im Vergleich zu einer anderen Sprache deutlich erkennen.

Das Phänomen der Kurzwortbildung berührt faszinierenderweise sehr viele Teilbereiche der Sprachwissenschaft wie Phonologie, Morphologie, Semantik, Pragmatik, Lexikologie und Soziolinguistik, die allesamt zu detaillierten Betrachtungen einladen. Im Rahmen einer einzelnen Untersuchung ist es jedoch keinesfalls möglich, all diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen, ohne dass die Diskussion in Oberflächlichkeiten verharrt. Statt eines Rundumschlags, der versucht ist, sämtliche interessanten Aspekte der Kurzwortbildung zu berücksichtigen, soll der Fokus vielmehr auf einige ausgewählte Punkte gelegt werden, die auf der Basis von eigens für diese Arbeit erstellten Korpora ausführlich diskutiert werden. Hierbei handelt es sich um die Fragen nach den präferierten phonologischen Strukturen bei Kurzwörtern in den Untersuchungssprachen sowie nach dem Verhalten von Kurzwörtern bei der Pluralflexion. Zu diesen Fragen werden jeweils detaillierte Korpusauswertungen vorgenommen, auf deren Grundlage Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem Deutschen und dem Schwedischen diskutiert werden. Eine derartige Beschäftigung mit grundsätzlichen Fragen zu präferierten Strukturen bei Kurzwörtern ist notwendig und schafft die Voraussetzungen dafür, dass in späteren Arbeiten weitere Aspekte kontrastiv untersucht werden können.

Als übergeordnete Thematik hat sich dabei die Frage herauskristallisiert, in welchem Verhältnis Kurzwörter in den Untersuchungssprachen zueinander und zu den restlichen Lexemen des Wortschatzes der jeweiligen Sprache stehen. Zu diesem Zweck wird schließlich auch eine Analogie zu Fremdwörtern gezogen, womit gezeigt wird, dass Kurzwörter wie auch Fremdwörter zur Peripherie des Wortschatzes einer Sprache gehören und dass solche peripheren Lexeme in einzelnen Sprachen in unterschiedlichem Umfang in das Sprachsystem integriert werden. So ist das Schwedische im Hinblick auf diverse Aspekte wie Orthographie, Aussprache und Flexion weit integrativer als das Deutsche, das Kontraste zwischen peripheren und zentralen Wortschatzelementen weitgehend erhält.

Die vorliegende Untersuchung beginnt mit der Erläuterung des genauen Untersuchungsgegenstandes und der Vorgehensweise, ehe phonologische und grammatische Eigenschaften der gesammelten Kurzwortbelege ausgewertet werden und schließlich die Ergebnisse im Hinblick auf den Grad der Integration von Kurzwörtern in das jeweilige Sprachsystem der Untersuchungssprachen diskutiert werden. In Kapitel 2 wird zunächst der Untersuchungsgegenstand dargestellt und eine Typologie verschiedener Kurzworttypen vorgestellt, anhand derer sowohl die deutschen als auch die schwedischen Belege klassifiziert werden. Außerdem werden Kurzwörter von weiteren Phänomenen abgegrenzt, die in dieser Arbeit nicht behandelt werden. Schließlich folgt noch ein Überblick über die bisher erfolgte Forschung zu deutschen und schwedischen Kurzwörtern, wobei besonderes Augenmerk auf die bislang wenig rezipierten schwedischen Arbeiten zur Kurzwortbildung gelegt wird. Dabei fällt auf, dass die in der deutschen Forschung verwendete Terminologie zwar nicht immer einheitlich ist, sich im Schwedischen dagegen bislang noch gar keine Kurzwortterminologie etablieren konnte, was auch daran liegt, dass das Phänomen der Kurzwortbildung im Schwedischen mitunter sehr unterschiedlich weit gefasst wird.

Darauf folgt in Kapitel 3 eine Darstellung der genauen Vorgehensweise bei der Erstellung der Kurzwortkorpora, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Gleichzeitig werden erste Ergebnisse präsentiert, was die Häufigkeiten von Kurzwörtern insgesamt und die Verteilung einzelner Kurzworttypen in den Korpora angeht, wobei zentrale von weniger zentralen Kurzworttypen abgegrenzt werden. Der Großteil der Korpusauswertung erfolgt jedoch in den Kapiteln 4 und 5. Zunächst werden in Kapitel 4 phonologische Aspekte der in den Korpora enthaltenen Belege diskutiert, genauer gesagt die Silbenzahl und die Silbenstruktur, d.h. das Vorkommen von offenen und geschlossenen Silben. Dies führt zu der Feststellung, dass in den Kurzwortschätzen der Untersuchungssprachen tendenziell solche Strukturen bevorzugt werden, die einen Gegensatz zu den Lexemen der entsprechenden Normalwortschätze bilden. Diese Tendenz ist jedoch einzelsprachlich unterschiedlich stark ausgeprägt. Kapitel 5 widmet sich schließlich einem grammatischen Aspekt, nämlich der Pluralflexion, die besonders gut geeignet ist, um Unterschiede zwischen den Untersuchungssprachen und den Zusammenhang zwischen phonologischer Struktur und Pluralmarkierung aufzuzeigen. Hierzu werden die substantivischen Belege der Kurzwortkorpora ausgewertet und im Hinblick darauf untersucht, mit welchen Mitteln sie Plural markieren. Dabei zeigt sich, dass bei deutschen Kurzwörtern überwiegend andere Wege der Pluralmarkierung beschritten werden als im restlichen deutschen Sprachsystem. Statt des üblichen Reduktionssilbenplurals bilden deutsche Kurzwörter meist eine Pluralform mit dem Suffix -s. Bei dem Kurzworttyp der Buchstabierwörter wie LKW < Lastkraftwagen tritt außerdem eine weitere Besonderheit auf: Belege dieses Typs bilden häufig endungslose Pluralformen, was jedoch nicht dem im deutschen Pluralsystem bekannten Nullplural entspricht, sondern als Flexionslosigkeit, also eine Art Pseudo-Nullplural, einzustufen ist. Schwedische Kurzwörter nutzen zur Pluralmarkierung dagegen weitgehend die üblichen Mittel des schwedischen Pluralsystems und unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich von anderen schwedischen Substantiven.

In Kapitel 6 werden schließlich die Ergebnisse der Auswertungskapitel zusammengeführt. Die in den vorigen Kapiteln festgestellten Kontraste zwischen den Untersuchungssprachen lassen sich auf tiefer liegende Unterschiede zurückführen. Im Hinblick auf silbenstrukturelle Präferenzen beruhen die Gegensätze darauf, dass das Deutsche eher als Akzent- oder Wortsprache, das Schwedische jedoch eher als Silbensprache anzusehen ist, in beiden Sprachen jedoch im Kurzwortschatz ein gewisser Gegenpol zum Normalwortschatz geschaffen werden soll. Die unterschiedliche Art der Pluralflexion von Kurzwörtern wird als Indiz dafür gesehen, zu welchem Grad Kurzwörter und andere periphere Wortschatzeinheiten in das deutsche und schwedische Sprachsystem integriert werden. Zu diesem Zweck wird eine ausführliche Analogie zu der Behandlung von Fremdwörtern in den Untersuchungssprachen hergestellt, die zeigt, dass Fremdwörter, die wie auch Kurzwörter zur Peripherie des Wortschatzes zu rechnen sind, in beiden Sprachen ähnlich wie Kurzwörter behandelt werden. Sowohl Kurzwörter als auch Fremdwörter zeigen im Deutschen deutlich stärkere Unterschiede zu zentraleren Wortschatzeinheiten als im Schwedischen, sodass man von Tendenzen zur Isolation peripherer Wortschatzeinheiten im Deutschen und von Tendenzen zur Integration derselben im Schwedischen sprechen kann. Kapitel 7 fasst schließlich die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zusammen und gibt einen Ausblick auf weitere Aspekte zur Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen, deren Erforschung lohnenswert wäre. Im Anhang sind abschließend die Belege der Kurzwortkorpora aufgeführt.

2. Gegenstand der Untersuchung

Um eine fundierte Diskussion der Eigenschaften von deutschen und schwedischen Kurzwörtern zu ermöglichen, müssen zunächst natürlich einige grundlegende Punkte geklärt werden. Daher widmet sich dieses Kapitel der Darstellung des genauen Untersuchungsgegenstandes und der Erläuterung der in dieser Arbeit verwendeten Kurzworttypologie sowie einer Abgrenzung von verwandten Prozessen, ehe schließlich ein Überblick über die bisher erfolgte Forschung zu deutschen und schwedischen Kurzwörtern erfolgt.

2.1 Darstellung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands

Zwischen Kurzwörtern und anderen Wortbildungsprodukten wie Komposita, Derivaten oder Konversionsprodukten bestehen fundamentale Unterschiede: Während bei den Wortbildungsverfahren Komposition und Derivation der Komplexitätsgrad zunimmt und bei der Konversion zumindest erhalten bleibt, ist ein Kurzwort weniger komplex als seine Ausgangsform, die im Folgenden Vollform genannt wird. Des Weiteren findet bei der Kurzwortbildung weder ein Wortartwechsel statt noch entsteht anfangs eine neue Bezeichnung. Aufgrund dieser Besonderheiten der Kurzwortbildung wird sie von einigen Autoren1 auch nicht zur Wortbildung gerechnet (z.B. Nübling 2001:169f., Fleischer/Barz 2007:52, Ronneberger-Sibold 2007:276) oder als Sonderfall derselben eingestuft (z.B. Kobler-Trill 1994:20). In anderen Arbeiten wird Kurzwortbildung dagegen als eigener „Wortbildungstyp“ (Schippan 1963:63) aufgefasst. Es ist die Rede von „subtraktiver Wortbildung“ (Bellmann 1977:142 und Fleischer 2000:894), „Reduktion“ (Greule 1996:203) oder „reduzierende[n] Wortbildungsarten“ (Donalies 2007:95). Zur Wortbildung wird Kurzwortbildung unter anderem auch bei Polenz (1980:170), Barz (2006:720) und Römer/Matzke (2010:157) gezählt. Wie im Laufe dieser Arbeit gezeigt werden wird, können sich Kurzwörter außer in der Wortlänge durchaus in etlichen Punkten von ihren Vollformen unterscheiden, weshalb ich Kurzwörter als Wortbildungsprodukte und nicht nur als bloße Varianten ihrer Vollformen betrachte, auch wenn die Kurzwortbildung ein weniger prototypisches Wortbildungsverfahren als beispielsweise Komposition und Derivation darstellt.2

Jedes Kurzwort wird aus einer längeren Vollform gebildet, die ein mehrsilbiges Lexem oder auch ein Syntagma wie dt. Gesellschaft mit beschränkter Haftung > GmbH oder schwed. automatisk databehandling > adb ‚elektronische Datenverarbeitung‘ sein kann. Aus dieser Vollform, die zumindest zum Zeitpunkt der Kurzwortbildung noch parallel zu dem betreffenden Kurzwort existiert, wird eine kürzere Form gebildet, die sich sowohl graphisch als auch lautlich von der längeren Vollform unterscheidet. Je nach Kurzworttyp können unterschiedliche Segmente der Vollform wie Buchstaben, Silbenteile, Silben oder Morpheme Bestandteil des Kurzworts werden. Die genaue Bildungsweise verschiedener Kurzworttypen in den Untersuchungssprachen wird in Kapitel 2.2 erläutert.

Dass ein Kurzwort und seine Vollform zumindest anfangs parallel im Wortschatz existieren, bedeutet, dass zunächst ein Synonym der Vollform entsteht. Wie eng diese Synonymie zu verstehen ist, wird in der Literatur sehr unterschiedlich gesehen. Für einige Autoren gehört die Synonymie von Kurzwort und Vollform zwingend zur Definition eines Kurzworts, so auch in der spärlich vorhandenen Literatur zu schwedischen Kurzwörtern (Wessén 1958:19, Tekniska Nomenklaturcentralen 1977:45). Bei deutschen Autoren ist die Rede von „semantischen Dubletten“ (Kobler-Trill 1994:20) und „Kurzwortvarianten“ (Bellmann 1980:374), die an Stelle der Vollform gebraucht werden können. Weber (2002:457) ist dagegen der Ansicht, ein Beharren auf eine mögliche Variation mit der Vollform enge „den Gegenstand unzweckmäßig ein, weil sie die semantisch interessanteren Fälle von vornherein ausklammert“. Michel (2011:159) nimmt wiederum ein Kontinuum zwischen totaler und partieller Synonymie von Kurzwort und entsprechender Vollform an, wobei die letztere laut Michel überwiegt. Die meisten Autoren gehen davon aus, dass sich Kurzwort und Vollform zumindest im Hinblick auf Konnotationen unterscheiden und daher auch nicht in allen Kontexten austauschbar sind. Völlige Synonymie zwischen Kurzwort und Vollform, die nicht nur den semantischen Gehalt, sondern auch Konnotationen, Stilebene, Register etc. umfasst, wird meines Wissens von keinem Autor postuliert. Wenn auch die Meinungen über den genauen Grad der anzunehmenden Synonymie auseinandergehen, herrscht doch weitgehend Einigkeit darüber, dass zwischen einem Kurzwort und seiner Vollform gewisse funktionale Unterschiede bestehen, sodass beide Formen eben nicht in sämtlichen Kontexten problemlos austauschbar sind.

In der Diskussion um die Synonymie von Kurzwort und Vollform wird meines Erachtens zu wenig berücksichtigt, dass das Verhältnis eines Kurzworts zu seiner Vollform nicht statisch, sondern dynamisch ist, worauf bereits Hofrichter (1977:19) hinweist. Wie alle Wortschatzeinheiten unterliegen sowohl Kurzwörter als auch ihre Vollformen einem gebrauchsbedingten Wandel (vgl. z.B. Bellmann 1980:380), d.h. die Inhaltsseite eines Kurzworts und/oder seiner Vollform kann sich durch einen bestimmten Sprachgebrauch oder zusätzliche Konnotationen verändern3, was auch die Synonymie zwischen den beiden Wortschatzeinheiten verändern bzw. sogar auflösen kann. Eine mögliche Verdrängung der Vollform, wie sie im Deutschen beispielsweise bei Kino < Kinematograph und im Schwedischen nahezu bei bil < automobil erfolgt ist, wird auch von diversen Autoren angesprochen (vgl. z.B. Pohl 1991, Schröder 2000:97f., Weber 2002) und wäre durchaus eine eigene, groß angelegte diachrone Untersuchung wert. Da der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit jedoch auf phonologischen und grammatischen Gesichtspunkten liegt, kann eine ausführliche Diskussion semantischer Aspekte der Kurzwortbildung in diesem Rahmen nicht erfolgen.

Gerade bei Eigennamen ist häufig zu beobachten, dass sich der Bezug der Kurzform4 zu seiner Langform auflöst. In etlichen Fällen ist die Vollform gar nicht mehr in Gebrauch, wie etwa bei dt. DEKRA < Deutscher Kraftfahrzeug-Überwachungsverein. Nicht einmal die DEKRA selbst verwendet heutzutage noch die Vollform ihres Namens. In diesem Fall hat außerdem ein Genuswechsel vom Maskulinum zum Femininum stattgefunden, was ein weiteres Indiz für die Verselbständigung dieser Kurzform ist. In einigen Fällen hat die Kurzform sogar eine Änderung der Vollform überdauert. So wurde die Organisation REFA 1924 als Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung gegründet. Im Lauf der Jahre wurde der Verband mehrfach umbenannt, die Kürzung REFA jedoch beibehalten. Seit 1995 lautet der vollständige Name REFA – Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung e.V. und enthält demnach keinen Verweis mehr auf die ursprüngliche Vollform der Kürzung. Eine ähnliche Situation liegt bei dem schwedischen Beleg AMF < arbetsmarknadsförsäkring ‚schwed. Versicherung‘ vor. Die Vollform ist außer Gebrauch gekommen und der offizielle Name des Versicherungsunternehmens lautet inzwischen AMF Pensionsförsäkring AB. Solche Belege, bei denen synchron keinerlei Beziehung mehr zwischen Kurz- und Vollform festzustellen ist, wurden nicht in die Belegsammlung aufgenommen. In anderen Fällen ist dagegen der Bezug zur Vollform noch nicht völlig verblasst; derartige Belege wurden berücksichtigt, auch wenn davon auszugehen ist, dass die Relation zur Vollform irgendwann ganz verschwinden wird. Wie bei der Diskussion des Grades der Synonymie zwischen Kurzwort und Vollform bereits angeklungen ist, nehme ich generell an, dass die Beziehung eines Kurzworts zu seiner Vollform dynamisch und einem stetigen Wandel unterworfen ist. Einzelne Kurzwortbelege befinden sich demnach an unterschiedlichen Punkten auf einer Skala zwischen enger und völlig gelöster Beziehung zu ihrer Vollform. Eine detaillierte und systematische Darstellung solcher Loslösungsprozesse bleibt aktuell jedoch ein Desiderat für künftige Arbeiten mit einer stärkeren diachronen Ausrichtung.

Eigennamen werden in früheren Arbeiten zur Kurzwortbildung unterschiedlich behandelt. Nübling (2001:170) schließt diese z.B. explizit aus ihrer Betrachtung aus und konzentriert sich lediglich auf „Appellativa, die von reduktiven Techniken Gebrauch machen“. Andere Autoren wie Vieregge (1983), Greule (1996), Schröder (2000) oder Steinhauer (2007) untersuchen jedoch auch Eigennamen. Ronneberger-Sibold (1992:24) weist darauf hin, dass die Sprachbenutzer im Fall von Eigennamen nur eine geringe Freiheit haben, eine Kürzung zu akzeptieren oder zu verändern, da durch die Präsenz des Eigennamens in den Medien etc. „ein gewisser normativer Zwang“ bestehe. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass in den jeweiligen Einzelsprachen für Eigennamen und Appellativa dieselben Kürzungstechniken zur Verfügung stehen. Im Laufe dieser Arbeit zeigt sich, dass bei sämtlichen Kurzworttypen tatsächlich sowohl appellativische als auch propriale Belege vorkommen, bei der Verteilung jedoch starke Frequenzunterschiede bestehen.

Zwischen Eigennamen und Appellativa besteht ein wesentlicher Funktionsunterschied. Während Appellativa das Objekt, auf das sie referieren, gleichzeitig beschreiben, identifizieren Eigennamen es nur. Da Eigennamen keine Bedeutung oder lexikalische Semantik haben, referieren sie direkt und eindeutig auf den Namenträger (vgl. Nübling/Fahlbusch/Heuser 2012:28–38). Diese Unterschiede zwischen Eigennamen und Appellativa machen eine gesonderte Betrachtung sinnvoll, weshalb Eigennamen bei der Erstellung der Korpora als solche gekennzeichnet und in die Belegsammlungen aufgenommen wurden. Die in den deutschen und schwedischen Zeitungskorpora belegten Eigennamen sind überwiegend den Namenklassen der Objektnamen und Personennamen (z.B. dt. Schweini < Bastian Schweinsteiger, schwed. Bäckis < Nicklas Bäckström) zuzurechnen. Zu den Objektnamen zählen vor allem Namen von Unternehmen und Institutionen (z.B. dt. DJB < Deutscher Judo-Bund, schwed. ABF < Arbetarnas bildningsförbund). Aus Platzgründen liegt der Schwerpunkt der Analysen in den folgenden Kapiteln allerdings in erster Linie auf den Appellativa; es wird jedoch auch immer ein kurzer Ausblick auf die Situation bei den Eigennamen gegeben.

Die bisherige Forschung zu deutschen und schwedischen Kurzwörtern wird in Kapitel 2.4 diskutiert. Eine längere, sprachvergleichende Untersuchung zur Kurzwortbildung in den beiden Sprachen liegt bislang allerdings noch nicht vor. Lediglich die kürzeren Arbeiten von Nübling (2001), Wahl (2002) und Nübling/Duke (2007) beschäftigen sich erstmals mit einem Vergleich deutscher und schwedischer Kurzwörter.5 Einige der in diesen Texten angesprochenen Punkte sollen in der vorliegenden Arbeit auf der Basis einer empirischen Grundlage ausführlich betrachtet werden. Durch die kontrastive Betrachtungsweise können einzelsprachliche Besonderheiten, was den Umgang der Untersuchungssprachen mit Kurzwörtern oder auch weiteren peripheren Lexikoneinheiten angeht, besser herausgearbeitet werden.

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
462 S. 87 Illustrationen
ISBN:
9783823300052
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:

Mit diesem Buch lesen Leute