Kleider machen Leute

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Kleider machen Leute
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Er trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut …

Der arme Schneidergeselle Wenzel Strapinski kommt auf seiner Wanderschaft in das schweizerische Städtchen Goldach und wird dort wegen seines vornehmen Aussehens für einen polnischen Grafen gehalten. Ein Verwechslungsspiel mit ungeahnten Folgen beginnt: Zunächst hegt Strapinski den festen Vorsatz, das Missverständnis rasch wieder aufzuklären, doch als ihm das Herz der schönen Amtsratstochter Nettchen zufliegt, ergibt er sich völlig in die Rolle des Grafen. Bis sein alter Lehrmeister in Goldach auftaucht und in Strapinski das arme Schneiderlein erkennt …

Gottfried Kellers berühmte Novelle über das bürgerliche Leben zwischen Schein und Sein wird in der einfühlsamen und kindgerechten Nacherzählung von Barbara Kindermann zum märchenhaften Lesespaß für die ganze Familie. Sybille Hein hat zu dieser heiteren Geschichte herrlich-schwungvolle Bilder mit vielen witzigen Details geschaffen.

»Die Reihe ›Weltliteratur für Kinder‹ im Kindermann Verlag Berlin ist durchgängig von sehr hoher Qualität. Die Neuerzählungen Barbara Kindermanns wurden mehrfach ausgezeichnet und sind uneingeschränkt empfehlenswert.« Arbeitskreis für Jugendliteratur


WELTLITERATUR FÜR KINDER

Kleider machen

Leute

nach Gottfried Keller

Neu erzählt von Barbara Kindermann

Mit Bildern von Sybille Hein




An einem kalten Wintertag wanderte ein armer Schneider auf der Landstraße von Seldwyla nach Goldach. Er trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, den er immer wieder zwischen den klammen Fingern drehte um diese etwas zu wärmen.

In Seldwyla war er bei einem bösen Schneidermeister in der Lehre gewesen, schließlich aber ohne einen Taler in der Tasche ausgewandert um in der weiten Welt sein Glück zu suchen.

Jetzt war er hungrig und fror und außer ein paar Schneeflocken hatte er noch nichts gefrühstückt.

Seine Armut sah man ihm allerdings nicht an, denn er trug einen selbst geschneiderten Mantel, der ausgesprochen elegant aussah. Dazu kam das lange schwarze Haar des Schneiderleins, sein gepflegtes Schnurrbärtchen und eine polnische Pelzmütze: eine wahrhaft vornehme Erscheinung!

Als der Schneider nun so traurig und frierend die verschneite Straße entlangschritt, hielt plötzlich ein stattlicher Reisewagen neben ihm. Aus Mitleid mit dem Wanderer bot der Kutscher ihm an: »Setzen Sie sich doch in den leeren Wagen, den ich meinem Herrn überbringen muss, und fahren Sie bis nach Goldach mit. Das Wetter ist gar zu schaurig.«

So kam es also, dass der Schneider wenig später in einer herrschaftlichen Kutsche in Goldach beim »Gasthof zur Waage« vorfuhr. Der Wirt, Kinder und Nachbarn stürzten sogleich herbei und umringten neugierig den prächtigen Wagen. Und als der verdutzte Schneider blass und schön in seinem eleganten Mantel aus der Kutsche stieg, waren alle sicher, dass er wenigstens ein geheimnisvoller Prinz oder Grafensohn sei.


Widerspruchslos ließ sich der Schneider ins Haus führen und saß kurz darauf in einem wohnlichen Gastraum. Der Wirt verbeugte sich eifrig: »Der Herr wünscht zu speisen? Gleich wird serviert werden, es ist eben gekocht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief der Waagwirt in die Küche und rief: »In drei Teufels Namen! Kocht das beste Essen, wir haben einen gar noblen Gast! Es muss zumindest ein fremder Graf sein, die Kutsche sieht aus wie die eines Herzogs!« Unterdessen saß der Schneider am Tisch und bekam es mit der Angst zu tun: Er war doch gar kein Graf und er hatte auch kein Geld um eine Mahlzeit zu bezahlen.

Obwohl er hungrig war, wünschte er sich schnellstens zu verschwinden. Er packte seine Pelzmütze und wollte sich eben davonstehlen, als ihm bereits die Kellnerin mit einem vollen Tablett entgegenkam.

Zu Anfang traute sich der Schneider kaum etwas anzurühren. Er aß bloß einen Löffel von der köstlichen Suppe und trank den Wein in kleinsten Schlucken. Doch endlich sagte er sich: »Ich wäre schön dumm, mich nicht wenigstens noch einmal richtig satt zu essen, bevor man merkt, dass ich nicht bezahlen kann. Was ich einmal im Bauch habe, kann mir kein König wieder rauben.«

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