Wenn die Kindheit Schatten wirft...

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Wenn die Kindheit Schatten wirft...
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Barbara Egert

Wenn die Kindheit Schatten wirft...

Beziehungen . Hochsensibilität . Narzissmus

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Einleitung

I. Wenn die Kindheit Schatten wirft…

Schatteneltern

Alles beginnt schon vor der Geburt

„Deine Mutter – Dein Schicksal“?

Der mütterliche Schatten

Ist die Mutter immer Schuld?

Mütter und Töchter

Mütter und Söhne

Die Schatteneltern von Frido Mann

Die Schatteneltern von Karin

Das Mutterproblem von Sonja

Mutterbindung: Antoine Saint-Exupéry

Mutterbindung: Thomas

Die Rolle des Vaters

Der väterliche Schatten

Väter und Söhne

Licht und Schatten: Hermann Hesse

Schatten ohne Licht: Franz Kafka

Väter und Töchter

Fallbeispiel: Jane und Henry Fonda

Die unterschiedlichen Vatertypen

Der sexuelle Missbrauch

Inzestopfer: Eva erzählt ihre Geschichte

Geschwisterbeziehungen

Was ist Hochsensibilität (HSP)?

Stärken und Schwächen

Welche Rolle spielen die Spiegelneuronen?

Hochsensible Kinder (HSK)

Doublebinds – Doppelbotschaften

II. Folgen einer missglückten Kindheit

Formen des Narzissmus

Die narzisstisch Verwundeten

Wie erkennt man narzisstisch Verwundete?

HSP und narzisstische Verwundung

Identitätsprobleme

Schuldgefühle und schlechtes Gewissen

Fallbeispiel: Anne

Beziehungsprobleme

Das Dilemma von Nähe und Freiheit

Trennungs- und Verlassenheitsängste

Die Täter/Opfer-Beziehung

Hochsensibilität und Beziehungen

Beziehungen zwischen HSP und Nicht-HSP

Beziehungen zwischen HSP und HSP

Wut und Aggression

Folgen der unterdrückten Wut

Umgang mit Wut und Ärger

Die passive Aggression

Angststörungen

Depression

Finsternis der Seele: Die Geschichte von Stefan

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung

Der Süchtige - Flucht in die Sucht

Essstörungen – Wenn die Seele hungert

III. Wie befreie ich mich von den Schatten der Kindheit?

Wie sinnvoll sind Therapien?

Trauerarbeit

Vergebung

Aufarbeitung durch Bewusstwerdung

Wer bin ich wirklich?

Innere Kraftquellen und Widerstandskräfte

Lebenssinn und Lebensthemen

Vertrauen entwickeln

Impressum

Impressum neobooks

Einleitung

Glaubt man den Biografien berühmter Autoren, so hatten die meisten eine wohlbehütete, sonnige Kindheit: der Vater streng aber gerecht, die Mutter einfühlsam und liebevoll. So wünscht man sich seine Eltern; kein Wunder also, dass wir unsere frühen Jahre romantisieren. Es kann und darf einfach nicht sein, dass es anders gewesen sein könnte. Denn wer lebt schon gerne mit einem missglückten Start ins Leben? Die Vorstellung einer heilen Kindheit trägt uns eine ganze Weile. Bei der ersten großen Krise kann es aber nötig sein, unsere Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen: realistischer, näher an der Wirklichkeit. War die Mutter wirklich so, wie wir sie gerne gehabt hätten, war der Vater nicht eher unerträglich als nur streng und gerecht? Wenn es uns gelingt, unliebsame Wahrheiten zu akzeptieren und Idealisierungen aufzugeben, sind wir auf dem besten Weg zu uns selbst.

Ich persönlich glaubte wie viele andere auch, eine völlig normale, sonnige Kindheit gehabt zu haben, bis ein harmloser Streit mit meiner Mutter über eine Einladung zu einem Weihnachtsessen, die ich mit gutem Grund absagen wollte, den Stein ins Rollen brachte. Und dieser Stein rollt noch heute, wenn ich aus einem Traum aufschrecke, in dem ich zu etwas genötigt werde, das mir widerstrebt. Oder wenn jemand meint, über mich verfügen zu können. Kein Wunder also, dass ich diesen Stein näher kennenlernen wollte, um nicht von ihm erdrückt zu werden. Also begann ich, meine Kindheit genauer zu betrachten.

Von Ferne gesehen, etwa aus der Perspektive meiner Geschwister, war alles völlig normal: niemand wurde bei uns misshandelt, keiner wurde geschlagen, von den üblichen Ohrfeigen abgesehen. Doch dann fielen mir Kleinigkeiten ein. Wenn ich krank war, wie verhielt sich meine Mutter da eigentlich? Nahm sie mich in den Arm, tröstete sie mich? Im Gegenteil: „Was hast Du denn jetzt schon wieder?“, das war alles. Überhaupt schien ich ihr eher lästig als willkommen zu sein. Wie ich später hörte, schob sie mich, praktisch wie sie war, samt Kinderwagen auf den Balkon: abgeschoben. Und dort begann mein lebenslanges Gefühl der Einsamkeit und die Angst, abgeschoben, verlassen zu werden. Als ich dann noch erfuhr, dass ich nicht nur unerwünscht, sondern gerade eben zwei Abtreibungen entkommen war, war es aus mit der Illusion meiner heilen Kindheit.

Viele haben Ähnliches erlebt. Bei mir kam noch etwas hinzu, das ich mir erst viel später, leider viel zu spät, erklären konnte: meine Hochsensibilität. Ich erinnere mich an einen Geburtstag, laut, ausgelassen, wie Kinder eben so sind, wenn sie feiern. Warum bekam ich, und nur ich, von all dem Lärm rasende Kopfschmerzen und brach in Tränen aus, weil mir alles zuviel wurde? "Was ist denn mit Dir schon wieder los?", war die einzige Reaktion meiner Mutter, die es nicht besser wissen konnte, obwohl ich sicher gehofft habe, wenigstens von ihr verstanden zu werden.

 

Heute, eigentlich erst seit zwei Jahren, ahne ich, was damals passierte: Reizüberflutung, typisch für Hochsensible. Inzwischen weiß ich mehr über dieses Phänomen, und dass ich zu jenen 20 Prozent gehöre, die sich endlich ihr sonderbares Verhalten nicht nur als Defizit, sondern als Begabung erklären können.

Wenn jener Stein ins Rollen kommt, der uns weismachen will, eine heile Kindheitswelt beschützen zu müssen, kann einem zunächst angst und bange werden. Fragen tauchen auf: Wie waren meine Eltern wirklich? War ich es eigentlich, der sich für einen Beruf, die sexuelle Identität, Vorlieben und Abneigungen entschied oder waren sie es? Bin ich wirklich ich selbst geworden oder immer noch, auch wenn sie längst gestorben sind, nur ein Abbild ihrer Wünsche und Hoffnungen, eine unter den vielen Figuren im Schachspiel ihres Lebens? Werde ich immer mehr wie meine Mutter, mein Vater, obwohl ich mir so sehr wünsche, mit mir selbst identisch zu sein? Wie dominant die inneren Eltern sind, merkt man, wenn jemand sagt, man rede fast schon so wie die eigene Mutter oder wir uns selbst einreden, dieses oder jenes nicht zu schaffen, ohne zu merken, dass das die Abwertung unseres Vaters war. Langsam erst beginnt man zu ahnen, wie selten man sein eigenes Leben lebt, sondern die Eltern einem immer noch zuflüstern, wie man zu leben habe.

Wie wichtig Antworten auf solche Fragen sind, spüren wir bei Angstattacken, Problemen in Beziehungen, in einer Krise oder wenn wir erkranken und ahnen, dass der Schlüssel zu unserer Gesundung in der Kindheit liegen könnte. Dann müssen wir uns erinnern und versuchen, sie neu zu interpretieren, alleine oder mit Hilfe eines Therapeuten. Kein Grund zu verzweifeln, eher der Beginn, sich und seine Besonderheit besser zu verstehen und sich endlich von den Schatten der Kindheit zu befreien.

I. Wenn die Kindheit Schatten wirft…

... doch wohin ich schaue, sehe ich das Gebot, die Eltern zu respektieren, nirgends aber ein Gebot, das Respekt für das Kind verlangt.“ (Alice Miller: Am Anfang war Erziehung)

Von Geburt an sind wir Erfahrungen ausgesetzt, deren Auswirkungen uns ein Leben lang begleiten, und wir werden von ihnen bestimmt, ob wir sie wahrnehmen oder nicht. Die in der Kindheit entstandenen inneren Konflikte und die daraus resultierenden Probleme haben unterschiedliche Schweregrade. Je nachdem, wie sehr man verwundet und misshandelt wurde, werden einen die Folgen und Auswirkungen später immer wieder heimsuchen und auffällig häufig um einen bestimmten Themenkomplex kreisen. Diese nachhaltigen Leiderfahrungen können nur gelöst werden, wenn man den Mut aufbringt, sich seinen dunklen Seiten zu stellen und um Bewusstwerdung zu kämpfen.

Ich möchte allerdings nicht nur auf die allerdunkelsten Schatten eingehen, die mit sträflichem Missbrauch verbunden sind, sondern auch die helleren Schattierungen aufzeigen, die in fast jeder Eltern-Kind-Beziehung zu finden sind. Sie hassen und verachten Ihre Eltern vielleicht nicht, sind ihnen aber auch nicht in besonders liebevoller Erinnerung verbunden, weil es große Differenzen gab und Verhaltensweisen der Eltern, die Sie so geprägt haben, dass Sie immer wieder in dieselben „Lebensfallen“ tappen. Eltern, von denen manche meinten, ihr Bestes gegeben zu haben, aber Scheuklappen für Ihr ursprüngliches Wesen und Ihre Bedürfnisse hatten. Welche unterschiedlichen Aufgaben haben Vater und Mutter? Wie nehmen Töchter und Söhne ihre Eltern wahr? Ein gelungenes Miteinander in der Familie hängt von allen Beteiligten ab, aber zunächst sind die Eltern für die gesunde psychische und physische Entwicklung ihrer Kinder verantwortlich.

In meinem nahen und weiteren Umfeld ist – wenn man genau hinsieht - fast jeder zweite Mensch seelisch verwundet, aber erst wenn die Schwierigkeiten und der Schmerz nicht mehr auszuhalten sind, wird nach Hilfe gerufen. Verwandte - vor allem die Eltern - sind in diesen Fällen weniger geeignet, da sie meistens in die Ursachen der desolaten Befindlichkeit verwickelt sind. Freunde, Psychotherapeuten und Astrologen werden heute viel eher und offener als noch vor Jahrzehnten um Unterstützung gebeten, um Licht in die Schatten der Kindheit zu bringen.

Ein gravierendes Problem besteht darin, dass man zwar ahnt, dass seine Schwierigkeiten mit den Erfahrungen seiner Kindheit verbunden sein könnten, aber einem fehlt die konkrete Erinnerung, oder aber man will sich lieber nicht an die ersten Lebensjahre erinnern. Und wenn man es dann doch wagt, weil die Belastungen zu groß geworden sind, dann fehlen einem viele Bruchstücke, und man kämpft vergebens mit den Gespenstern der Vergangenheit. Ich konnte Einblick in die schmerzhaften Erfahrungen so mancher Kindheit gewinnen, und mir wurde immer verständlicher, dass diese lieber nicht ins Bewusstsein gelassen, sondern verdrängt werden. Es ist die bewusste oder unbewusste Angst davor, der Realität der damaligen Erfahrungen und den Kräften, die heute noch vernichtend oder auch subtil in uns schlummern, nicht gewachsen zu sein. Wahrscheinlich halten wir an der Idealisierung unserer Eltern auch fest, da wir meinen, ohne diese vermeintlich positiven Vater- und Mutter-Bilder nicht überleben zu können.

Die Folge ist, dass wir immer wieder in innere Konflikte und äußere Situationen geraten, die Depressionen, Wut, Beziehungsdramen, Rückzug und diverse psychosomatische Krankheiten auslösen, sodass wir nicht in der Lage sind, unseren Lebensweg zufrieden, gesund und sinnvoll zu gestalten. Der Sinn eines Lebens ist oftmals erst zu erkennen, wenn wir wissen, warum diese vielen schmerzhaften Umwege und Erfahrungen notwendig waren und die Ursachen bewusst gemacht, erkannt und verarbeitet werden konnten. Aber es geht nicht nur um intellektuelle Bewusstmachung, sondern um die damaligen Emotionen, die nach-gefühlt werden sollten, denn: „…die Erinnerung, welche die damit verbundenen Gefühle heraufbringt, geben Anlass zur Hoffnung auf Bearbeitung der Kindheit und so auf Verheilung der Wunden.“ (Kathrin Asper: Von der Kindheit zum Kind in uns) Meist ist für diesen leidvollen Prozess eine Therapie notwendig, besonders wenn man ahnt, dass man es alleine nicht schafft, vor den inneren dunklen Dämonen zu kapitulieren. Aber dafür müssen wir mit Mut den Widerstand ersetzen, der uns abhält, unsere Kindheit zu erforschen.

Die meisten Menschen tun genau das Gegenteil. Sie wollen nichts von ihrer Geschichte wissen und wissen daher auch nicht, dass sie im Grunde ständig von ihr bestimmt werden, weil sie in ihrer unaufgelösten, verdrängten Kindheitssituation leben. Sie wissen nicht, dass sie Gefahren fürchten und umgehen, die einst reale Gefahren waren, aber es seit langem nicht mehr sind. Sie werden von unbewussten Erinnerungen sowie von verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen getrieben, die oft beinahe alles, was sie tun und lassen, in pervertierter Weise bestimmen, solange sie unbewusst und ungeklärt bleiben.“ (Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes)

Wenn wir aber nun kapitulieren, weil das innere und äußere Erleben unerträglich geworden ist, und wir uns einer psychologischen Therapie unterziehen wollen, dann wartet schon das nächste Problem auf uns: Wie finde ich einen Therapeuten, der mich empathisch begleitet, der die innere Realität meiner Kindheit anerkennt, der nicht das vierte Gebot über meine Gesundung stellt? Ist ihm das Thema der Hochsensibilität bekannt oder degradiert er mich als viel zu empfindlich? Darüber mehr im Kapitel „Wie sinnvoll sind Therapien?“.

Wenn unsere Kindheit Schatten wirft, dann können diese uns noch viele Jahre – meist lebenslänglich – verfolgen. Wir befinden uns in einer tiefen Dunkelheit, wir leiden und wissen nicht warum, dürfen und können nicht so sein, wie wir sind und sein wollen. Unsere Eltern erzeugten, manchmal ohne es zu wissen, eine Dunkelheit, eine Schattenlandschaft in uns, in die wir später, wenn uns bewusst wird, was mit uns geschehen ist, unter größten Anstrengungen Licht bringen müssen.

Schatteneltern

„Schatteneltern“ - so bezeichne ich jene Eltern, die auf unser Leben besonders dunkle Schatten werfen - sind ein Schicksal, das uns, aus welchen Gründen auch immer, aufgebürdet und als lebenslängliche Aufgabe mitgegeben wurde. Der psychologische Terminus „Schatten“ bezeichnet Wesensanteile, die auch von den Eltern deformiert wurden und die wir verleugnen müssen, sodass sie uns gar nicht bewusst sind. Eltern erzeugen also oftmals nicht nur einen dunklen Schatten in unserer Kindheit, sondern berauben uns auch unseres angeborenen Potenzials, sodass wir vor lauter Verdrängung und Unbewusstheit keine Ahnung von unserem wahren Wesen haben. Nur eines wissen und fühlen wir: Wir werden so, wie wir sind, nicht geschätzt und geliebt, und schließlich lieben wir uns auch selbst nicht. Da wir meistens sowohl Eltern als auch Kind sind, scheint mir eine Erhellung dieser Problematik doppelt notwendig.

Der „Tatort“ Elternhaus begegnet uns in allen sozialen Schichten. In meinen vielen Gesprächen mit Betroffenen kristallisierte sich ein erschreckendes Bild heraus. Es waren nicht nur die kaum zu verarbeitenden traumatischen Erfahrungen durch Gewalt, Inzest und anhaltende Bedrohung, die das Leben und die Entwicklung des Kindes so destruktiv beeinflussten, sondern ebenso die leisen Verletzungen: physische und vor allem psychische Vernachlässigung. Sexueller Missbrauch stellt unzweifelhaft die traumatischste Form einer Misshandlung dar, doch neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass emotionaler Missbrauch, also auch Vernachlässigung, und körperlicher Missbrauch ähnlich schwerwiegende Folgen für die Betroffenen haben können.

Aber Eltern sind keine Übermenschen und machen Fehler wie wir alle. Ein seit Stunden nörgelndes, schreiendes und nicht gehorchendes Kind erzeugt Wut, die manchmal schwer beherrschbar ist. Wenn wir unserem Kind einen leichten Klaps geben, wird es sicher nicht traumatisiert, aber dennoch sollten Eltern ihre Kinder niemals schlagen und ihre heftigen Wutimpulse kontrollieren. Wenn uns die Hand dann doch einmal ausgerutscht ist, sollten wir uns entschuldigen und dem Kind erklären, warum das passiert ist und dass es niemals mehr geschehen wird (hoffentlich). Unzulängliche Eltern sind meist nicht wirklich böse, aber durch ihr Fehlverhalten deformierten sie uns, und wir sind es, die mit den Folgen leben lernen müssen.

Wenn wir davon ausgehen, dass ein Mensch sich selbst (und andere) lebenslang so behandelt, wie er als Kind behandelt wurde, dann müssen wir uns dringend unsere Kindheitssituation im Spiegel unserer Eltern ansehen. Unser besonderes Augenmerk sollte auf die ursächlichen Probleme von Vater und Mutter gerichtet werden, die damals die familiäre Atmosphäre bestimmten und (manchmal eben auch uns) vergifteten.

Schwierigkeiten innerhalb der Ehe der Eltern haben ungeahnte und meist bleibende Auswirkungen auf die Psyche des Kleinkindes. Es ist erstaunlich, wie oft sich bewahrheitet, dass die ungelösten Probleme der Eltern untereinander im Kind wieder auftauchen. Heute glauben wohl nur noch die wenigsten, dass die kleinen Kinder „nichts mitkriegen“ von ihrem Umfeld und der gestörten Atmosphäre, dass sie nicht spüren, welche Wutenergien sie umgeben, manchmal unsichtbar, weil die Eltern ihre Fehden nicht vor dem Kind austragen, aber dennoch ebenso wirksam. Sie können sogar noch gefährlicher sein als offene Auseinandersetzungen, nach denen die Luft wieder rein ist. Hinzu kommt, dass durch die „participation mystique“, einer gefühlsmäßig erlebten Identität, das Kind mit all diesen Emotionen und Gedanken in Form von Energiemustern verbunden wird und ihnen ausgeliefert ist.

Ein Kind ist so sehr ein Teil der psychologischen Atmosphäre der Eltern, dass geheime und ungelöste Schwierigkeiten seine Gesundheit beträchtlich beeinflussen können. Die ‚participation mystique’, das heißt die primitive unbewusste Identität, lässt das Kind die Konflikte der Eltern fühlen und daran leiden, als ob sie seine eigenen wären. Es ist sozusagen nie der offene Konflikt oder die sichtbare‚Schwierigkeit, welche die vergiftende Wirkung hat, sondern es sind die geheim gehaltenen oder unbewusst gelassenen Schwierigkeiten der Eltern…Dinge, die in der Luft liegen und die das Kind unbewusst fühlt, die niederdrückende Atmosphäre von Befürchtungen und Befangenheit dringen mit giftigen Dämpfen langsam in die Seele des Kindes ein.“ (C.G. Jung: Über die Entwicklung der Persönlichkeit)

 

Unterdrückte Emotionen und lieblose Verhaltensweisen der Eltern untereinander werden sich meistens auch im Umgang mit dem Kind und besonders in ihm selbst fortsetzen, weil es seinen Zorn und andere Emotionen nicht zeigen darf oder nicht zeigen kann. Wenn Mutter und Vater selbst keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben, wissen sie oft nicht, was ein Kind fühlt, denn durch ihre eigenen leidvollen Gefühle in der Kindheit, die sie nicht zulassen durften, sind sie auch später noch von ihrer Gefühlswelt abgeschnitten. Für ein hochsensibles Kind ist die frühkindliche Situation so verfahren und deformierend, dass die gravierenden Folgen lebenslänglich spürbar sein können.

Es gibt so viele dysfunktionale Familien, dass man lange suchen muss, um ein wirklich intaktes Elternhaus zu finden. Eine gestörte Familie zeigt sich unter anderem im Missbrauch von Alkohol und anderen Drogen, in Zwängen (essen, putzen etc.), ständigem Streiten, Gesprächsverweigerung der Eltern untereinander und mit ihren Kindern sowie dogmatischen Festlegungen (Geld, Religion, Erziehung etc.). Auch wenn die Grenzen des anderen nicht respektiert, die Intimsphäre missachtet, Probleme nicht angesprochen und Gefühle nicht geäußert werden (dürfen), kann man eine Familie als dysfunktional bezeichnen. Wenn die Familienmitglieder ihre Erfahrungen, Bedürfnisse und Gefühle nicht ausdrücken, lernen sie nicht, ihrer eigenen Gefühlswelt zu trauen und schon gar nicht, ein Gespür für die wahren Gefühle eines anderen Menschen zu entwickeln.

Allerdings: „Auf der ganzen Welt scheint man davon überzeugt zu sein, dass die richtige Erziehung darin bestehen muss, konsequent Scham, Zweifel, Schuld- und Furchtgefühle im Kinde zu erwecken.“ (Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus)

Ob wir als Erwachsene uns nun selbst lieben und schätzen, hängt davon ab, ob unser wahres Wesen früher versteckt werden musste und wir mehr und mehr eine „Als ob“-Persönlichkeit entwickelten, um den Eltern (wenigstens ansatzweise) zu gefallen. In einer Kindheit mit einem emotional kühlen und reservierten Klima ohne liebevolle Anerkennung werden die fehlenden Gefühle oftmals durch Geschenke in Hülle und Fülle ersetzt: Materielle Zuwendungen statt liebevoller Zuneigung. Das alles hat zur Folge, dass wir anderen Menschen nicht spontan und mit offenem Herzen begegnen können, was wiederum zu Gefühlen von Verlassenheit, Leere und Entfremdung in uns selbst führt.

Eltern entdecken in ihren Kindern unweigerlich ihre eigene Kindheit und die oft schwierige Beziehung zu ihren Eltern wieder. Angesichts bestimmter Handlungen, Worte oder Einstellungen ihrer Kinder tauchen sie in die eigene Vergangenheit ein und erinnern sich an die Reaktionen ihrer Eltern. Gefühle von einst werden wach, manchmal nur für den Bruchteil einer Sekunde und deshalb meist unbewusst. Die Schläge, die sie selbst bekamen, verabreichen sie nun ihren Kindern. Dieser Ausbruch, mit dem sie sich abreagieren, verhindert dann, eine einstmals erlebte Demütigung oder Verletzung nochmals zu spüren. Sie lernten von ihren Eltern, dass Gewalt der angemessene Weg sei, Konflikte zu lösen. Um sich selbst zu schützen werden viele Kinder zwar bald vergessen, wie häufig und warum sie geschlagen wurden. Aber später werden sie dasselbe mit Schwächeren tun.

In meinem Umfeld gibt es einen Vater, der früher von seinem eigenen Vater verprügelt wurde und nun selbst sein kleines Kind schlägt. Die Mutter drohte ihm mit dem Rechtsanwalt, wenn er auch nur noch ein Mal dem Kind gegenüber gewalttätig würde. Er begründete seine Maßnahmen damit, dass er früher auch geschlagen worden sei und es ihm nicht geschadet habe. Seine Frau entgegnete ihm: Das glaubst aber nur Du! Sie hat vollkommen recht, denn er ist ein zutiefst gestörter Mensch, der keine Hilfe sucht, weil er seinen eigenen Schwächen und schmerzhaften Erfahrungen gegenüber blind ist.

Über einer Kindheit liegt fast immer ein elterlicher Schatten, aber wir können nicht alle Probleme und Krisen, die uns in unserem Leben begegnen, auf ein Fehlverhalten unserer Eltern zurückführen. In der „Schule des Lebens“ müssen uns eben Schwierigkeiten begegnen, an denen wir wachsen und reifen sollen, und so sind komplizierte Beziehungen, Krankheiten, Probleme am Arbeitsplatz und anderes mehr eine Aufgabe, die uns herausfordert und eine Lösung abverlangt.

Jedes Kind hat seine individuelle Wesensstruktur und jeweils unterschiedliche Bedürfnisse. Ein sehr sensibles Kind - vor allem ein hochsensibles Kind - braucht vielleicht dringend eine Kuschelmutter mit ganz viel Nähe. Ein Kind mit einer eher unabhängigen Natur fühlt sich eingeengt, wenn die Mutter es zu sehr bemuttert etc. Später hat es als Erwachsener Angst vor Trennung oder vor zu viel Nähe. Wenn wir oft kritisiert wurden, weil die Eltern es nicht besser wussten, ist unser Selbstwertgefühl geschwächt. Manche Eltern sind übervorsichtig und kontrollieren ängstlich die Wachstumsschritte ihrer Kinder, die sich somit nicht frei entfalten können und später selbst ängstlich bleiben. Man kann nun diesen Eltern keinen Mangel an Liebe vorwerfen, aber dennoch tun sie ihren Kindern nichts Gutes.

Eine missglückte Eltern-Kind-Beziehung hat unendlich viele Gesichter. Man ist zwar nicht traumatisiert und hegt auch keine Hassgefühle gegen seine Eltern, und doch erzeugen manche Erinnerungen Wut in einem, und man kann sich immer wieder über bestimmte Verhaltensweisen und Reaktionen seiner Eltern schrecklich aufregen. Wenn ich daran denke, dass ich mich nicht entsinnen kann, von meiner Mutter jemals in den Arm genommen worden zu sein, flammt noch heute ein kurzer „heiliger“ Zorn auf, ich fühle mich dann immer noch um die Mutterliebe betrogen. Ich kenne kaum einen, der sich nur positiv an seine Kindheit erinnert. So finden Sie also in den folgenden Kapiteln nicht nur die Dramen einer missglückten Kindheit, sondern auch die leiseren Verletzungen und deren Auswirkungen.