Wie ein Traum aus der Nacht

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Wie ein Traum aus der Nacht
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Wie ein Trauma us der Nacht

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2017

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

Wie ein Trauma us der Nacht

Vivian Carrow betrachtete mit großen Augen ihre Umgebung. Aus dem Casino erklang Musik sowie das Stimmengemurmel der Menschen, die in den Spielsälen ein- und ausgingen. Kostspielig angezogene Frauen, die mit Juwelen behängt waren, behaupteten lautstark, sich völlig ruiniert zu haben. Ein paar besessene Spieler eilten mit abgegriffenen Systemkarten in der Hand vorbei, ohne den prächtig angezogenen Gästen auf der Terrasse auch nur einen Blick zu gönnen. Frauen und Männer, die sich zur europäischen Gesellschaft zählten, saßen in unmittelbarer Nähe von Kokotten aus allen Ländern. Man schrieb das Jahr 1936 und die Stammgäste der Spielbank, die ständig in Monte Carlo lebten und sich einer höchst unsicheren Existenz erfreuten, begaben sich zu ihrer täglichen Sitzung an den grünbezogenen Tischen.

Für Vivian war das alles neu und aufregend, weil ihr Leben sie bisher mit dieser farbigen und künstlichen Welt nicht in Berührung gebracht hatte.

Vivian war nicht nur im landläufigen Sinne hübsch zu nennen. Ihr Gesicht strahlte eine ungeheure Anziehungskraft aus. In den dunklen, weit auseinanderstehenden Augen unter den schön geschwungenen Brauen war Charakterstärke zu lesen. Das vollkommen geformte, ovale Gesicht mit dem entschlossenen Kinn wurde von dunklen Locken mit kupfernen Lichtern darin umrahmt. Ihr voller Mund ließ Leidenschaft erahnen.

Vivians Gesellschaft war ruhig und unauffällig. Am Kopfende der Tafel residierte ihre Tante, Lady Dalton, eine Dame mit graumeliertem Haar, einer Schnur kleiner aber makelloser Perlen um den Hals und einem geschmackvollen Kleid, das einer Sechzigjährigen angemessen war.

Einen umso auffallenderen Kontrast dazu bildete die Gastgeberin am Nebentisch, deren Hände und Hals keinen Zweifel an ihrem Alter aufkommen ließen. Vor allem ihr Gesicht konnte trotz aller kosmetischer Hilfsmittel nicht verbergen, daß die Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten. Ein Kleid aus rosa Chiffon, das einem jungen Mädchen gut zu Gesicht gestanden hätte, enthüllte welke Schultern, Weder die funkelnden Brillanten noch ein riesiges Orchideengesteck vermochten darüber hinwegzutäuschen, daß hier eine Frau vergeblich gegen das Alter ankämpfte.

Vivian kräuselte ein bißchen verächtlich die Lippen, als sie sah, mit welchen Aufmerksamkeiten die ältliche Frau von ihren beiden männlichen Begleitern überschüttet wurde, die eher ihre Söhne oder die Verehrer ihrer Tochter hätten sein können. Diese kehrte soeben an den Tisch zurück und war nicht weniger auffallend als ihre Mutter, besaß aber im Gegensatz dazu das unschätzbare Geschenk der Jugend.

Aber es war nicht die Tochter der alten Frau, die Vivians Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern der Mann in ihrer Begleitung. Groß, gutaussehend und mit dem unmißverständlichen Flair guter Herkunft behaftet, wirkte er in dieser vulgären Gesellschaft äußerst fehl am Platze. Er schob seiner Partnerin den Stuhl zurecht, setzte sich ebenfalls und hob sein Champagnerglas an die Lippen, über dessen Rand er Vivian zulächelte.

Als ihre Blicke sich trafen, erstrahlte ihr Gesicht von innen heraus. Einen Augenblick hielten sich ihre Augen fest, dann wandte sich jeder mit einer beiläufigen Bemerkung seinem Tischnachbarn zu.

Vivians düstere Stimmung war wie weggewischt. Sie zog den pensionierten Admiral, der zu ihrer Linken saß, ins Gespräch und veranlaßte ihn durch ihr spontan gezeigtes Interesse dazu, ihr von seinem Leben in der guten alten Zeit zu erzählen. Dabei war er bald so sehr vom Klang seiner eigenen Stimme berauscht, daß ihm völlig entging, daß sie ihm nur ein paar Sekunden zuhörte, weil ihre Gedanken abgelenkt wurden. So sehr sie sich freute, in Monte Carlo zu sein, so sehr bedauerte sie es, sich nicht in der gleichen Gesellschaft wie Jimmy zu bewegen.

Trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre war dies Vivians erster Besuch in dem eleganten Mittelmeerparadies. Ein über das andere Jahr hatte sie ihren Vater bei seinen Reisen in fremde Länder begleitet, die Zwischenzeit hatte sie zu Hause verbracht. Zu Hause bedeutete ein ruhiges, kleines Dorf in Worcestershire, wo sie entweder die nächste Reise vorbereiteten oder die Ergebnisse und Informationen sichteten und zusammenstellten, die ihr Vater in den vergangenen Monaten zusammengetragen hatte.

Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr, nachdem ihre Mutter gestorben war, begleitete Vivian Professor Carrow auf seinen Forschungsreisen. Er galt in England, wenn nicht in der Welt, als größte Kapazität auf dem Gebiet der Mineralogie und verfertigte außerdem Landkarten. Wo immer es ein Stück Land gab, das kartenmäßig noch nicht erfaßt war, machte sich Professor Carrow an die Arbeit, reichte seine Karten bei der Geographical Society ein, die diese dann in ihre Atlanten aufnahm.

Dieses ein wenig seltsame Leben für ein Mädchen behagte Vivian, bis ihr vor drei Monaten im Club ihres Vaters in Pall Mall Jimmy Loring vorgestellt wurde.

Er nahm dort mit seinem Onkel den Lunch ein, und die beiden älteren Männer waren in ein angeregtes Gespräch vertieft, als Vivian mit geröteten Wangen und schuldbewußt im Club auftauchte, weil ihre Einkäufe sie über Gebühr aufgehalten hatten.

Als sie sich mit einer Entschuldigung in dem etwas trübseligen Speiseraum einfand, der beiderlei Geschlechtern zugänglich war, stellte sie ihr Vater General Loring und seinem Neffen vor. Später konnte sich Vivian nicht mehr daran erinnern, worüber sie beim Essen gesprochen hatten. Sie stellte nur mehr als überrascht fest, wie schnell die Zeit verflogen war.

„Schon drei Uhr! Das darf doch nicht wahr sein“, rief sie entsetzt, als die Uhr auf dem Kaminsims die volle Stunde schlug. „Und dabei hatte ich um Viertel vor drei eine Verabredung.“

„Ich werde Sie hinfahren“, schlug Jimmy Loring vor.

„Würden Sie das wirklich tun?“ fragte sie, zögerte aber dann. „Vielleicht bedeutet das einen ziemlichen Umweg für Sie. Ich wollte nämlich zu Harrods.“

„Ich bringe Sie gern hin“, versicherte er.

Der Professor nickte ihr freundlich zu.

„Du brauchst nicht auf uns zu warten, liebes Kind“, sagte er. „Schließlich trifft man nicht alle Tage einen alten Freund. Wir werden noch ein Stündchen über unserem Portwein sitzen bleiben.“

Vor dem Club wartete Jimmys kleiner Sportwagen. Seinen Vorschlag, das Dach zu schließen, damit es ihr nicht zu windig würde, wies sie weit von sich.

„Ich bin an Wind gewöhnt“, erklärte sie. „Vater und ich kommen gerade aus dem Norden Kanadas zurück; London hat daher im Augenblick etwas Erstickendes für mich.“

An jenem Nachmittag geriet der Besuch bei Harrods in Vergessenheit. Sie fuhren im Park herum und sprachen über ihr Leben und ihre Hoffnungen, bis die blasse Frühlingssonne hinter dem Kensington Palast verschwand.

„Ich hole Sie um neun Uhr ab“, versprach Jimmy, als er sie vor dem ruhigen Familienhotel absetzte, wo sie und ihr Vater abgestiegen waren.

Vivian hatte brennende Wangen und ein stark klopfendes Herz, so lief sie die Treppe hinauf. Ich liebe ihn, dachte sie, als sie die Abgeschiedenheit ihres Zimmers erreicht hatte.

„Ich liebe dich“, flüsterte sie Jimmy zwei Abende später zu, als er sie zum ersten Male küßte.

Der Sommer verging wie in einem goldenen Rausch und hinterließ eine Fülle glücklicher Erinnerungen. Ganze Tage, an denen sie auf einem Kahn auf dem Avon-Fluß dahintrieben oder Nachmittage mit Ausflügen, die sie der Erforschung der näheren und weiteren Umgebung des schwarz-weißen Hauses aus dem sechzehnten Jahrhundert widmeten, das für Professor Carrow und Vivian der schönste Fleck in England war.

Manor House war ein recht anspruchsvoller Name für ihr gemeinsames Heim. Die Zimmer waren nur klein, und für mehr als zwei Gäste gleichzeitig entschieden zu eng. Dem Professor jedoch genügte das Haus in jeder Beziehung, und für Vivian bedeutete es im wahrsten und tiefsten Sinne ihr Zuhause.

„Ob wohl jemand außer uns so glücklich ist?“ fragte Vivian Jimmy, als sie nebeneinander auf der Flußböschung saßen und dem Sommerwind lauschten, der die Blätter leise fächelte.

„Diese Bemerkung dürfte schon sehr oft gemacht worden sein“, erwiderte Jimmy neckend.

„Lach mich nicht aus“, bat sie, „antworte lieber.“

Er zog sie an sich und küßte sie.

„Niemand kann so glücklich sein wie wir“, versicherte er ernsthaft.

Es folgten sechs unbeschreiblich schöne Wochen, dann nahte der Augenblick der Trennung. Jimmy mußte nach London fahren, um eine Stellung bei einer Versicherungsgesellschaft anzutreten.

„Mein Onkel hat das für mich arrangiert, deshalb habe ich auch an jenem Tag mit ihm zu Mittag gegessen“, erklärte Jimmy Vivian, die ihre Hand in die seine gleiten ließ.

„Natürlich komme ich jedes Wochenende zu Besuch“, versprach er, „aber in der Zwischenzeit muß ich hart arbeiten. Wenn du dir den Grund dafür nicht denken kannst, wirst du ihn von mir nicht zu hören bekommen.“

Da sie sich den Grund tatsächlich vorstellen konnte, träumte sie von da ab nur noch von ihrer Hochzeit mit Jimmy und ihrem gemeinsamen kleinen Eigenheim.

Eines Tages verkündete Jimmy, daß er nach Monte Carlo eingeladen worden war.

„Die Leute heißen Stubbs und sind so reich, daß sie mir sehr nützlich werden können“, erklärte er. „Ich muß daher fahren, Liebling, aber kannst du nicht auch hinkommen? Kennst du nicht jemand, dessen Gastfreundschaft du in Anspruch nehmen könntest?“

 

„Vaters Schwester, Tante Geraldine, besitzt eine Villa dort und hat mich schon oft eingeladen, was ich bisher immer abgelehnt habe.“

„Aber das ist ja großartig“, meinte Jimmy begeistert. „Besser könnte es gar nicht passen. Du mußt ihr sofort schreiben. Monte Carlo wird dir gefallen, es gibt keinen schöneren Ort auf der Welt.“

„Bisher habe ich mich nie mit diesem Gedanken anfreunden können“, gestand Vivian. „So viele elegante Leute machen mich befangen. Ich fürchte mich vor ihnen.“

„Wenn ich bei dir bin? Du bist eine kleine Gans. Setz dich hin und schreib sofort deinen Brief.“

Vivian gehorchte. Wenige Tage später traf ein herzliches Einladungsschreiben ihrer Tante ein.

Gleich nach der Ankunft stellte Vivian fest, daß Monte Carlo in jeder Beziehung so war, wie sie erwartet hatte: Blauer Himmel und blaues Meer, viele halbnackte Menschen, die in bequemen Liegestühlen lagen und sich sonnten, lackierte Fuß- und Fingernägel, eingeölte Rücken, mit Brillanten besetzte Zigarettenetuis, luxuriöse Autos und Essen mit vielen Gängen.

Auch jetzt saß sie bei einem Dinner und ließ ein Gericht nach dem anderen über sich ergehen. Dabei beobachtete sie, wie die Lichter an der schwimmenden Bühne kontrolliert wurden, auf der demnächst eine Monstershow beginnen würde. Am Himmel funkelten die Sterne, während unten die Scheinwerfer bewirkten, daß das alte Casino einem Märchenschloß glich.

Das schrille und laute Lachen von Mrs. Stubbs schreckte sie so plötzlich aus ihren Träumen auf, daß ihr beinahe übel wurde.

„Ist Ihnen nicht gut?“ erkundigte sich der Admiral besorgt.

„Mir ist ein bißchen schwindelig, aber das hat nichts zu bedeuten“, erwiderte sie. „Die Hitze macht mir zu schaffen.“

„Hier ist es aber auch wie in einem Backofen“, stimmte er zu, „trotzdem dürfen Sie sich nicht beklagen, wenn Sie an uns arme Männer denken. Denken Sie daran, zu welcher Art Kleidung wir verurteilt sind.“

Vivian lachte und überlegte, wie oft sie diese Bemerkung schon gehört hatte.

„Was halten Sie von einem Tanz auf dem Dachgarten“, schlug er vor, „vielleicht ist es dort kühler.“

„Das ist eine gute Idee“, erwiderte Vivian, die froh über die Ausrede war, sich entfernen zu dürfen.

„Bleib nicht so lange aus, Liebling“, sagte Lady Dalton. „Die Show wird in zehn Minuten anfangen.“

Vivian versprach, rechtzeitig zurück zu sein und folgte dem Admiral in das überfüllte Foyer, von wo man zum Dachgarten und den Spielsälen gelangte. Hier blieb der Admiral stehen, um Bekannte zu begrüßen. Vivian, die auf ihn wartete, fühlte plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter und wußte, ohne sich umzudrehen, wer das war.

„Ich muß dich sehen“, flüsterte Jimmy.

„Das kannst du dir kaum mehr wünschen als ich“, gab sie zurück. „Oh, Jimmy, während der letzten drei Tage habe ich dich kaum zu Gesicht bekommen.“

„Ich weiß“, erwiderte er. „Wann können wir uns treffen?“

„Wann und wo du willst.“

„Dann komme ich in ungefähr zwei Stunden in das kleine Sommerhaus im Garten der Villa.“

Ohne auf ihre Antwort zu warten, verschwand er im Gewühl.

„Dort steht der gefährlichste Mann von ganz Europa“, erklärte der Admiral, während sie langsam nach einer getragenen Melodie über die Tanzfläche glitten.

„Wo?“ fragte Vivian.

„Sehen Sie den Inder neben der Säule, der sich mit der dicken, mit Rubinen behängten Amerikanerin unterhält?“

„Wer ist denn das?“ fragte sie.

„Dhilangi“, erwiderte der Admiral.

„Von dem habe ich schon gehört“, sagte sie. „Ist er nicht so etwas wie ein zweiter Ghandi?“

„Leider weit gefährlicher, meine Liebe. Übrigens werden Sie gerade Zeuge, wie Geschichte gemacht wird.“

„Inwiefern?“

„Die Frau mit den Rubinen ist Mrs. Michael Mackie, die Witwe des amerikanischen Ölkönigs.“

„Und was hat es mit der Geschichte auf sich?“ fragte Vivian. „Will sie ihn finanzieren oder so etwas Ähnliches?“

„Die Antwort auf diese Frage beschäftigt in diesem Augenblick die Großen dieser Welt.“

„Was geschieht denn, wenn sie es tut?“

„Das weiß der Himmel“, erwiderte er. „Dhilangi ist einer der gefährlichsten Männer, mit denen wir es in Indien je zu tun hatten. Er ist nicht nur skrupellos, sondern auch noch ein Fanatiker. Wo er geht und steht verbreitet er Unsicherheit und Aufruhr. Die Menschenleben, die er auf dem Gewissen hat, sind nicht zu zählen. Sein einziges Handikap war bisher, daß er kein Geld hatte. Im Gegensatz zu Ghandi ist er nämlich kein Asket. Er liebt den Luxus und alles, was man mit Geld kaufen kann. Wenn er Mrs. Mackie dazu bringt, ihn finanziell zu unterstützen oder sogar zu heiraten - und ich glaube, daß er selbst davor nicht zurückschreckt - dürfte eine überaus ernste Situation entstehen.“

„Ist sie denn so reich?“

„Ihr Vermögen läßt sich nicht einmal abschätzen“, erwiderte der Admiral. „Das schlimmste aber ist, daß sie in diesem Mann eine Art modernen Messias sieht und sich sozusagen als seine Muse betrachtet.“

„Das klingt wie eine Sensationsgeschichte aus der Zeitung“, stellte Vivian fest. „Meinen Sie das im Ernst?“

„Es ist auch nicht sehr witzig, soviel kann ich Ihnen versichern. Natürlich setzt man alle Hebel in Bewegung, um diese Verbindungen zu verhindern, aber was kann man in unserer zivilisierten Welt schon tun, wo die Freiheit des Individuums alles bedeutet.“

„Soll hier in Monte Carlo die Entscheidung fallen?“ fragte Vivian.

„Es ist anzunehmen, nachdem Dhilangi extra hergereist ist, um die Dame zu treffen.“

Während sie sich langsam über die Tanzfläche bewegten, betrachtete Vivian voller Neugier den kleinen, dünnen Inder, dessen verlebtes Gesicht trotzdem eine ungeheure Vitalität ausströmte. Seine Bewegungen hatten etwas Wildes und Ungezähmtes.

„Er erinnert mich an einen zum Sprung bereiten Tiger“, sagte Vivian. „Das mag banal klingen, aber auf mich macht er diesen Eindruck.“

„Das ist ein sehr passendes Beispiel“, entgegnete ihr Partner kurz.

Die Darbietung machte Vivian keinen Spaß, selbst das große Finale nackter Beine, Straußenfedern und Hüten aus Spiegelglas rauschte fast unbemerkt an ihr vorüber, weil sie ständig versuchte, einen Blick auf Jimmy zu erhaschen, der mit seiner lauten Gesellschaft am anderen Ende der Terrasse Platz genommen hatte.

Insgeheim bedauerte sie ihn, mit solchen Leuten zusammen sein zu müssen. Geschichten über Mrs. Stubbs, die im Strandhotel für sich und ihre Gäste eine ganze Etage gemietet hatte und ihre drei von schwarzen Chauffeuren gesteuerten Hispano-Suizas, waren in Monte Carlo in aller Munde. Jeder kannte die überdimensionalen Anzeigen des Waschmittels, mit dem Mr. Stubbs in wenigen Jahren ein Vermögen gemacht hatte.

Wenn Jimmy seine Versicherung abschließen konnte, bedeutete das vielleicht, daß sie bald heiraten konnten, war Vivians einziger Trost.

Um ein Uhr äußerte Lady Dalton den Wunsch aufzubrechen. Sie fuhr mit Vivian zur Villa an der oberen Corniche, während der Wagen die anderen Gäste zu ihren Hotels und Villen brachte.

„Es hat mir gut gefallen, Tante Geraldine“, sagte Vivian.

„Ich fürchte, daß wir ein bißchen zu alt für dich sind“, erwiderte ihre Tante. „Meine Bekannten sind alle schon etwas betagt.“

„Unsinn“, lachte Vivian. „Der Admiral war so munter wie ein Fisch und hat das Tanzen sehr genossen.“

„Er schon, ob du dich aber amüsiert hast, steht auf einem anderen Blatt.“

Vivian wartete in ihrem Schlafzimmer, bis ihre Tante sich zur Ruhe begeben hatte, dann schlich sie sich auf Zehenspitzen über die mit Teppichen belegte Treppe hinunter, öffnete behutsam die Fenstertür zum Garten und trat ins Freie.

Der Garten war nicht sehr breit, reichte aber den Abhang hinunter bis zu einer Straße, hinter der das Meer lag. Hier stand ein kleines von süß duftenden Kletterrosen überwachsenes Sommerhaus. Alles war ruhig und friedlich. An der Küste blinkten in regelmäßigen Abständen die Scheinwerfer eines Leuchtturmes auf, sonst waren nur die Lichter von Cap Ferrat und die Sterne am Himmel zu sehen.

Das Geräusch eines näherkommenden Wagens ließ Vivian hochfahren, er hielt jedoch vor dem nächsten Gartentor an. Die Bewohner der Nachbarvilla waren nach Hause gekommen. Von Neugier geplagt spähte Vivian durch die Hecke in den Garten der Villa Sebastian hinüber. Dort stiegen mehrere Leute aus einem Rolls Royce, eine laut redende Amerikanerin, zwei mehr oder wenig betrunkene Männer und zwei Personen, die Vivian erkannte, Mrs. Mackie und Mr. Dhilangi.

Vivian mußte lachen, daß sie ausgerechnet Tür an Tür wohnten. Vielleicht wird er sich ihr hier im Garten erklären, und ich weiß als erste die Antwort auf die Frage, die ganz Europa beunruhigt, dachte sie.

Vivian ging wieder die Stufen zum Sommerhaus hinauf, wo sie ungeduldig auf Jimmy wartete. Endlich hörte sie einen Wagen anhalten, es näherten sich Schritte, dann war er da.

„Jimmy“, rief sie und streckte ihm die Arme entgegen. „Liebling, ich dachte schon, du würdest niemals kommen.“

Seine steife Haltung und sein Schweigen kamen ihr merkwürdig vor. Er trat einen Schritt zur Seite und blickte auf das Meer hinaus.

„Was ist los, Jimmy?“ fragte sie besorgt.

Da wandte er sich zu ihr um und nahm ihre Hände in die seinen.

„Vivian, ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen, aber jetzt weiß ich nicht, wie ich das anfangen soll.“

Seine Stimme ähnelte so wenig der, die sie kannte und liebte. In ihr stieg eine unbestimmte Furcht.

„Du mußt es mir sagen“, erwiderte sie.

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sprach Jimmy, als ob es ihn schreckliche Mühe kostete.

„Ich werde Marjorie Stubbs heiraten.“

Vivian stand ruhig da.

Es mußte fast eine Minute vergangen sein, ehe sie mit überraschend fester und klarer Stimme fragte: „Warum?“

Erst jetzt gab er ihre Hände frei.

„Kannst du dir das wirklich nicht denken?“ erwiderte er mit rauher Stimme. „Weil sie Geld hat natürlich, ohne das ich nicht leben kann. Ich hasse das Büro. Ich verabscheue das Leben, das ich in London geführt habe: Jeden Pfennig herumdrehen müssen, eine armselige Bleibe, das zweitklassige Essen, der ewige Kampf ums Dasein, das ich nicht mehr ertragen kann. Jetzt bietet sich mir eine Chance, da herauszukommen, ich werde sie ergreifen.“

Vivian hatte das Gefühl, in einem Theaterstück mitzuspielen. Das war nicht sie, die da mit trockenen Augen dem Mann zuhörte, dem sie Herz und Seele geschenkt hatte. Alles erschien ihr so unwirklich, daß sie beinahe laut gelacht hätte. Der Jimmy, den sie gekannt und geliebt hatte, wollte sie verlassen.

Wieder entstand ein langes Schweigen, bevor Jimmy weitersprach.

„Es tut mir sehr leid, Vivian“, begann er. „aber bitte sag ein Wort. Klag mich an, verfluche mich, alles was du willst nur schweige nicht länger. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich selbst für mein Verhalten verabscheue, und doch kann ich nicht anders.“

Als er ihre übernatürliche Ruhe nicht länger ertragen konnte, riß er sie an sich und küßte sie auf den Mund. Genau so gut hätte er eine Tote küssen können, sie zeigte nicht die geringste Reaktion. Immer noch spielte sie eine Rolle und beobachtete wie eine Fremde die Gefühle einer Fremden.

Fast grob gab Jimmy sie frei, drehte sich auf dem Absatz um und ging die Steinstufen hinunter. Eine Wagentür schlug zu, ein Motor wurde angelassen. Vivian war allein.

Sie ließ sich auf die kleine, hölzerne Bank sinken. Ihre Hände verkrampften sich, sie bohrte sich die Nägel ins Fleisch, ohne zu merken, daß sie sich selbst Schmerz zufügte. Mit großen Augen starrte sie ins Leere, dann liefen bittere Tränen über ihre Wangen.

Als sie auf der Straße einen Wagen hörte, sprang sie auf die Füße und lauschte zitternd, bis die Scheinwerfer verschwunden waren. Da streckte sie verzweifelt die Arme aus und rief Jimmys Namen. Ihre Stimme brach und ihr ganzer Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Sie barg ihr Gesicht in den Händen, ihr liefen die Tränen zwischen den Fingern hindurch. Die Knie gaben unter ihr nach, sie fiel auf die Bank, auf der sie nun halb saß, halb lag.

Im Garten war alles ruhig. Bäume und Blumen standen wie erstarrt und würden nie wieder blühen, da ihre Liebe gestorben war.

Plötzlich wurde die Stille von einem lauten Knall gestört, ein Knall, der von der Fehlzündung eines Autos oder einem Schuß herrühren konnte. Dieses Geräusch ließ Vivians Tränen versiegen. Sie erhob sich aus ihrer unbequemen Lage und holte tief Luft.

 

Ein Mann kam mit schnellen Schritten auf das Sommerhaus zu und blieb unmittelbar davor stehen. Er trug Abendkleidung, das weiße Hemd mit den weißen Manschetten hob sich deutlich gegen die dunkle Umgebung ab.

Sie wollte fragen, was er wollte, brachte aber nur einen unartikulierten Ton aus der Kehle.

Er trat näher, was sie mit Angst erfüllte. Dann fragte seine tiefe und kultivierte Stimme ein wenig beruhigend auf Englisch: „Wer ist da?“

Als sie nicht sofort antwortete, zog er eine Schachtel aus der Tasche und zündete ein Streichholz an, das er mit vorgehaltener Hand vor dem Erlöschen schützte.

„Schauen Sie mich nicht an“, sagte Vivian schnell.

Sie senkte die geschwollenen Lider, bis die Illumination erlosch und ein gnädiges Dunkel sie wieder einhüllte.

„Miss Carrow, ich bitte Sie, mir zu helfen“, sagte der Fremde ruhig.

„Sie kennen mich?“ fragte Vivian überrascht. „Wer sind Sie denn?“

„Lassen wir das jetzt“, erwiderte er leise. „Hören Sie mir gut zu. Es kann sich nur um Minuten handeln. Ich weiß nicht nur, wer Sie sind, sondern auch, daß Sie Ihrem Vater schon in schwierigen Situationen zur Seite gestanden haben. Wenn Sie jetzt tun, was ich Ihnen sage, werden Sie Ihrem Land einen großen Dienst erweisen.“

„Aber wie ...“ wandte sie ein, ohne daß er Notiz von ihrer Unterbrechung nahm. „In wenigen Minuten werden ein paar Männer hier auftauchen“, fuhr er so leise fort, daß sie ihn gerade noch verstehen konnte. „Lassen Sie sie denken, daß wir schon einige Zeit zusammen sind. Sie brauchen nicht zu sprechen, das werde ich erledigen. Haben Sie mich verstanden?“

„Aber warum das Ganze?“ flüsterte sie.

In diesem Augenblick erklangen Schritte, der Fremde nahm ihre Hand. Sie hatte keine Zeit mehr, sich über ihre Handlungsweise klar zu werden, da soeben zwei Männer vor dem Sommerhaus erschienen. Der Strahl einer Taschenlampe entlockte ihr unwillkürlich einen leisen, erschrockenen Ausruf. Das Licht traf sie so unerwartet, daß sie ihre freie Hand über die Augen legte.

„Was ist los?“ erkundigte sich ihr unbekannter Gefährte.

„Pardon, Monsieur, aber haben Sie vielleicht jemand durch den Garten laufen sehen?“

Der Fremde trat einen Schritt vor, ließ aber Vivians Hand erst los, als er sicher sein konnte, daß diese Bewegung im Licht der Taschenlampe nicht unbemerkt geblieben war.

„Hier ist niemand durchgegangen. Welches Recht haben Sie zu dieser Frage?“

„Wir sind von der Polizei, Monsieur.“

„Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen“, erklärte der unbekannte Engländer. „Ist etwas passiert?“

„Es hat Schwierigkeiten in der Nachbarvilla gegeben“, erwiderte der Polizist. „Sind Sie schon lange hier, Monsieur?“

„Ungefähr zwanzig Minuten, länger nicht. Mademoiselle und ich haben ...“ er zögerte eine Sekunde, bevor er fortfuhr ... “uns unterhalten.“

Wieder richtete sich der Strahl der Taschenlampe auf Vivian, ihr tränenverschmiertes Gesicht und ihre zitternden Finger, in denen sie ein durchnäßtes Taschentuch herumdrehte.

Zwei Hände fuhren an die Mützen.

„Mille excuses, Monsieur. Bon Soir, Mademoiselle.“

„Gute Nacht“, erwiderte der Fremde und Vivian schloß sich ihm mit einem leisen „Gute Nacht“ an.

Die Polizisten verschwanden in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und Vivian und ihr Gefährte lauschten, bis sie sie nicht mehr hören konnten. Dann wandte er sich ihr zu. „Vielen Dank, Miss Carrow, das haben Sie gut gemacht.“

„Wollen Sie mir jetzt endlich erklären, was das alles zu bedeuten hat?“ fragte sie.

Statt zu antworten nahm er sie an der Hand.

„Ich bringe Sie jetzt zum Haus“, sagte er. „Es ist höchste Zeit für Sie, schlafen zu gehen.“

„Zuerst müssen Sie mir sagen, wer Sie sind“, erklärte sie.

„Bitte glauben Sie mir, daß ich meine guten Gründe habe, zu schweigen. Im Übrigen bitte ich Sie noch um einen Gefallen, auch wenn Ihnen das sehr schwierig erscheint.“

„Und das wäre?“

„Vergessen Sie bis zum Morgen alles, was geschehen ist, und reden Sie mit niemand darüber.“ Als sie nicht gleich antwortete, fügte er hinzu. „Geben Sie mir Ihr Wort darauf?“

Seine autoritäre Art hätte zu jeder anderen Zeit ihren Widerspruch erregt, jetzt war sie zu müde und erschöpft, um sich mit ihm zu streiten.

„Ich verspreche es“, erwiderte sie daher nur.

Vor der Treppe, die zur Villa hinaufführte, blieb er stehen.

„Gute Nacht, Miss Carrow“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. „Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe und Ihr Versprechen, nichts zu verraten.“

Vivian legte ihre Hand hinein.

„Gute Nacht“, erwiderte sie leise.

„Und seien Sie nicht allzu unglücklich“, fügte er hinzu. „Das Leben ist voller Abenteuer, vergessen Sie das nicht.“

Bevor sie etwas entgegnen konnte, drehte er sich um und ließ sie stehen. Da er über das Gras ging, war sein Verschwinden nicht geräuschvoller als sein Kommen.

Vivian saß im Blauen Zug, der sie vor einer Woche gen Süden gebracht hatte, damals voller Vorfreude, weil sie sich mit jeder zurückgelegten Meile dem Mann näherte, den sie liebte.

Sie hatte ihrer Tante nicht mitgeteilt, warum sie so eilig nach Hause fahren wollte. Nachdem sie ihre Nichte zum Bahnhof begleitet hatte, fuhr Lady Dalton zu ihrer Villa zurück. Auf der oberen Corniche kam ihr ein langgestreckter Sportwagen entgegen, in dem Jimmy und Marjorie Stubbs saßen. Jimmy war barhäuptig und trug ein am Hals offenes blaues Seidenhemd, das ihm hervorragend stand. Er lachte, während die Wagen aneinander vorbeifuhren.

Lady Dalton erinnerte sich an Vivians Gesichtsausdruck, als sie am Morgen herunterkam und ihre Abreise ankündigte. Was mochte zwischen den beiden jungen, so gut zusammenpassenden Menschen vorgefallen sein?

In Gedanken noch mit dieser Frage beschäftigt, betrat sie ihre Villa und fand auf dem Tisch in der Halle einen großen Rosenstrauß, der an Vivian adressiert war. Vielleicht war das Kind zu voreilig gewesen, so schnell nach London zu fahren, ohne auf ein Wort der Versöhnung zu warten.

Als sie den kleinen Umschlag öffnete, der den Blumen beigefügt war, steckte darin lediglich eine Karte, wie ihn die Blumengeschäfte ihren Kunden zur Verfügung stellen.

Zwei Worte standen darauf: „Vielen Dank.“

Lady Dalton konnte sich keinen Reim darauf machen und ging in ihr Wohnzimmer. Sie nahm die Karte mit, weil sie sie einem Brief an ihre Nichte beizulegen gedachte. Bei diesem Vorhaben störte sie Marie, die alte Köchin, die aus der Küche gestürzt kam.

„Haben Madame schon von der Tragödie gehört, die in der Villa nebenan passiert ist?“ fragte sie aufgeregt.

„Nein, Marie, davon müssen Sie mir berichten.“

Vivian erfuhr erst am folgenden Tag, was in der Villa Sebastian geschehen war. Als sie müde und niedergeschlagen in Dover das Schiff verließ, fand sie dort zu ihrer Erleichterung ihren Vater nicht auf sie warten. Sie hatte befürchtet, daß ihre Tante ihm ihre Ankunftszeit telegrafiert haben könnte. Sie nahm dankbaren Herzens zur Kenntnis, daß ihr noch ein paar Stunden blieben, bevor sie ihm gegenübertreten mußte.

Als sie im Zug nach London saß, öffnete sie die in Dover gekaufte Zeitung und blätterte gelangweilt die Seiten um, bis eine Überschrift ihr einen entsetzten Ausruf entlockte.

Dhilangi in Monte Carlo gestorben. Die Polizei in Monte Carlo gibt bekannt, daß Mr. Dhilangi, der berüchtigte indische Revolutionär, in den frühen Morgenstunden des Mittwochs im Garten der Villa Sebastian tot aufgefunden wurde. Der neben ihm liegende Revolver läßt auf den Selbstmord des weltweit bekannten Mannes schließen.

Die Gründe dafür dürften in der Tatsache zu suchen sein, daß Mr. Dhilangi in den letzten Monaten mit ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.

Der Casinoleitung zufolge hat er an diesem Abend eine beträchtliche Summe verloren. Freunde halfen ihm aus, trotzdem muß ihn das so belastet haben, daß er den Freitod wählte. Heute nachmittag wird die Leichenbeschau stattfinden.