Buch lesen: «Verwundetes Herz»
Verwundetes Herz
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2017
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
1. ~ 1793
Der Wind rüttelte an den Fensterläden und blies unter den Türen hindurch, so daß der Herr, der im Privatraum am Feuer saß, vor Kälte zitterte.
Es war im Januar immer mit Stürmen im Kanal zu rechnen und die Überfahrt nach England würde in den nächsten vierundzwanzig Stunden unmöglich sein.
Sheldon Harcourt wußte, daß er sich glücklich schätzen konnte, eine komfortable Unterkunft mit einem Privatzimmer im Hotel d’Angleterre in Calais bekommen zu haben.
Monsieur Dessin, der Besitzer des Hotels, konnte über einen Mangel an Besuchern nicht klagen; die meisten von ihnen waren Engländer, die es eilig hatten, Frankreich zu verlassen und so schnell wie möglich in ihr eigenes Land zurückzukehren.
Die Nachricht von der Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. war wie ein Blitz bei den Engländern eingeschlagen.
In London hatte man diese Nachricht zuerst ungläubig, dann jedoch mit Entsetzen und einem Sturm der Entrüstung aufgenommen.
Unter den Touristen in Frankreich, die bereits zu glauben begannen, daß sich das Land langsam beruhigen würde, breitete sich die Angst vor Internierung aus.
Selbst den einfältigsten Reisenden war klar, daß England Frankreich den Krieg erklären würde.
Sheldon Harcourt hatte sich nur widerstrebend in das Unausweichliche gefügt und, wie er es ausdrückte, die „Flucht zurück über den Kanal“ angetreten.
Seine Freunde hatten ihn jedoch davon überzeugt, daß dies die einzige Alternative war.
Das Massaker unter den Aristokraten, Bischöfen und Priestern im vergangenen August und die Greueltaten der „Septembriseurs“ hatten aus Paris einen Ort des Entsetzens gemacht.
Manchmal glaubte Sheldon Harcourt, daß er nie wieder die Schreie der Menschen würde vergessen können, die aus ihren Häusern gezerrt und in die Gefängnisse geworfen wurden, um dann dem Mob zum Opfer zu fallen.
Jetzt saß er vor dem Feuer im Armsessel, unverkennbar ein Engländer, und war froh, dieses Land verlassen zu können, in dem er die letzten fünf Jahre verbracht hatte und das er auch schon als sein Zuhause betrachtet hatte.
Es war schwer, sich vorzustellen, daß es einen Mann gab, der noch schöner war und eleganter gekleidet als er.
Obwohl er gerade eine anstrengende dreitägige Reise auf schmutzigen und vernachlässigten Straßen hinter sich hatte, sah er doch aus, als würde er zu einem Empfang gehen.
Er trug seine perfekt sitzende Kleidung mit der den Engländern eigenen lässigen Eleganz. Während er jetzt ins Feuer sah, waren seine blauen Augen sehr ernst, die jedoch meistens ein trotziges Zwinkern dem Leben gegenüber zeigten. Sein zynisches Lächeln ließ die Linien zwischen Mund und Nase schärfer werden.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Monsieur Dessin mit einem Tablett eintrat, auf dem eine Flasche Wein und ein Glas standen.
„Darf ich annehmen, daß Sie sich wohlfühlen, Mylord?“ fragte er.
Für ihn waren alle Engländer adlig, so wie alle Fremden für die Engländer von niederer Herkunft und meistenteils Dummköpfe waren.
„Ich fühle mich sehr wohl“, erwiderte Sheldon Harcourt. „Aber ich hoffe, daß das Dinner nicht allzu lange auf sich warten läßt.“
„Bestimmt nicht, Mylord. Meine Frau bereitet gerade einige spezielle Gerichte nach Ihrem Geschmack vor. Gleichzeitig erbitten wir jedoch ein wenig Geduld von Ihnen, da das Hotel überfüllt ist.“
„Zu ihrem Vorteil!“ bemerkte Sheldon Harcourt.
Monsieur Dessin zuckte bedeutungsvoll die Schultern.
„Der Speisesaal ist voll von Reisenden, die unaufhörlich schwätzen, sich dauernd beklagen und wenig trinken.“
„Außerdem sind sie ausgesprochen laut“, fügte Sheldon Harcourt hinzu.
Durch die Tür konnte er die lauten Stimmen, das Gelächter und das ständige Rufen hören: „Garçon! Garçon!“
Monsieur Dessin füllte das Glas mit Wein und reichte es auf dem Tablett Sheldon Harcourt.
Dieser nahm einen kleinen Schluck, ließ ihn über die Zunge gleiten und nickte dann mit dem Kopf.
„Ausgezeichnet!“
„Er ist vom Besten, Mylord, ich würde nicht wagen, Ihnen etwas anderes anzubieten.“
„Sie sind sehr klug“, bemerkte Sheldon Harcourt.
Eine leise Warnung klang in seiner Stimme mit.
Monsieur Dessin zögerte.
„Mylord, ich möchte sie um eine Gefälligkeit bitten.“
Es entstand eine Pause und Sheldon Harcourt zog die Brauen in die Höhe.
„Eine Gefälligkeit?“ wiederholte er.
„Der Speisesaal ist voll und sowieso kein angemessener Ort für eine Dame von Rang, wie Sie wohl sicher verstehen werden.“
Er warf dem Engländer einen besorgten Blick zu, bevor er fortfuhr: „Würden Sie, Mylord, die Güte haben und eine Dame von hohem Rang einladen, mit Ihnen zu dinieren? Ich habe keine andere Möglichkeit, sie unterzubringen, absolut keine Möglichkeit.“
„Ich habe diesen Raum für meinen privaten Gebrauch gemietet“, antwortete Sheldon Harcourt.
„Ich weiß, Mylord, aber diese Dame ist jung und schön, und sie würde eine Menge Unannehmlichkeiten erleiden müssen, wenn sie gezwungen wäre, das Abendessen im überfüllten Speisesaal einzunehmen. Und ihr Schlafzimmer, Mylord, ist kalt, wenn Sie verstehen!“
Sheldon Harcourt warf Monsieur Dessin einen scharfen Blick zu, bevor er sagte: „Jung und schön? Sind Sie sicher?“
„Mais certainement, Mylord! Ich schwöre, Sie werden nicht enttäuscht sein. Madame ist schön - sehr schön!“
Als wolle er seine Worte unterstreichen, küßte Monsieur Dessin seine Fingerspitzen und machte eine altbekannte Geste, die mehr als alle Worte sagte.
„Nun gut“, sagte Sheldon Harcourt resignierend. „Sagen Sie der schönen Dame, daß es mir eine Ehre sein wird, mit ihr zusammen zu speisen. Sollte sich jedoch herausstellen, daß sie eine häßliche, pockennarbige alte Schalte ist, werde ich Sie erwürgen, Sie alter Schurke. Das verspreche ich Ihnen!“
„Mylord können mir vertrauen“, versicherte Monsieur Dessin und fügte dann mit einer Verbeugung hinzu: „Sie sind sehr großzügig.“
Mit einem breiten Lächeln verließ er den Raum und ließ Sheldon Harcourt in der Überzeugung zurück, seinen Willen von Anfang an durchgesetzt zu haben.
„Verdammt!“ dachte der Engländer bedauernd. „Und ich wollte einen ruhigen Abend alleine verbringen.“
Seit er Paris verlassen hatte, war er mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen, konnte jedoch zu keiner Entscheidung gelangen, was seine Zukunft anbetraf. Nun sagte er sich, daß die Einsamkeit heute abend vielleicht wirklich nicht das Beste gewesen wäre, ihm aus seiner Depression zu helfen.
Einige Minuten später wurde die Tür geöffnet. Er drehte sich erwartungsvoll um. Zu seiner Überraschung erschien jedoch keine Dame, sondern ein kleiner schwarzer Junge, der ein Seidenkissen trug, das beinahe größer war als er selbst.
Er war mit einem Brokatmantel gekleidet, der ihm bis zu den Fußgelenken reichte und auf seiner Brust mit goldenen Knöpfen geschlossen wurde.
Auf dem Kopf trug er einen Turban aus pfauenblauer Seide. Eine Diamantenbrosche hielt eine Reiherfeder an der Vorderseite des Turbans.
Der schwarze Diener ging auf das Feuer zu, verbeugte sich unterwürfig vor Sheldon Harcourt und legte dann das Seidenkissen in den Sessel, der gegenüber dem Kamin stand.
Dann verbeugte er sich noch einmal und verließ das Zimmer, ohne ein Wort gesprochen zu haben.
Sheldon Harcourt beobachtete ihn amüsiert.
Er wußte sehr wohl, daß es Mode unter den aristokratischen Damen Frankreichs war, einen schwarzen Diener in Diensten zu haben.
Ihre Aufgabe war es, die Handschuhe, den Fächer oder die Handtasche der Damen zu tragen! Sie mußten Nachrichten überbringen und hatten Tag und Nacht zur Verfügung zu stehen.
Oft genug hatte Sheldon Harcourt es erlebt, wie kleine schwarze Jungen, die kaum älter als Babys waren, vor Erschöpfung einschliefen, um sogleich von einem Schlag mit dem Fächer oder dem Stoß eines spitzen Schuhs wieder geweckt zu werden.
Dieser Junge jedoch war älter, als seine Größe es vermuten ließ, fiel Sheldon Harcourt auf. Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, kam Sheldon Harcourt der Gedanke, daß er wohl eher ein Zwerg war.
Er nahm einen Schluck von seinem Wein, als sich die Tür erneut öffnete. Diesmal erschien eine ältere Frau, das Gesicht von Falten zerfurcht. Über dem Arm trug sie eine Hermelindecke. Sie hielt die Tür hinter sich auf, ohne in das Zimmer zu treten.
Einen Augenblick später erschien dann ihre Herrin.
Sheldon Harcourt war sich bewußt, welch dramatischen Auftritt diese Dame sich hatte verschaffen lassen und es hätte ihn nicht erstaunt, jetzt auch noch eine Fanfare zu hören.
Langsam erhob er sich, während er feststellte, daß die Dame durchaus den Beschreibungen von Monsieur Dessin gerecht wurde.
Sie war eine liebliche Erscheinung. Das schwarze Haar war zurückgekämmt und auf der Stirn trug sie das Zeichen der Witwe. Ihre großen Augen waren von dichten dunklen Wimpern umrahmt, und die Zartheit ihrer weißen Haut wurde durch ihre schwarze Kleidung hervorgehoben.
Offensichtlich war sie in Trauer, jedoch trug sie ihre Trauerkleidung mit der den Franzosen eigenen Eleganz und Verführung, die keinerlei Traurigkeit aufkommen ließen.
Sie trug rauschende schwarze Seide mit kleinen weißen Tupfen und ein Dekolleté, das gerade noch anständig war.
Langsam und mit einer gewissen Zurückhaltung wandte diese liebliche Erscheinung sich Sheldon Harcourt zu und knickste vor ihm mit majestätischer Grazie.
Höflich verbeugte er sich vor ihr.
„Monsieur, der Besitzer dieses Hotels hat mir mitgeteilt, daß Sie die Großzügigkeit besaßen, mich in Ihre privaten Räume zum Dinner einzuladen. Ich bin Ihnen in der Tat sehr dankbar.“
Sie sprach ein ausgezeichnetes Englisch, das lediglich einen leichten faszinierenden Akzent hatte. Der Blick, den sie ihm zuwarf war ebenso einladend wie das Lächeln ihrer wohlgeformten Lippen.
„Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen zu Diensten zu sein, Madame, oder sollte ich Mademoiselle sagen?“
„Je suis la Comtesse de la Tour“, erwiderte sie, um sogleich einen kleinen Schrei auszustoßen.
Dann wandte sie sich ärgerlich an das Dienstmädchen, das noch immer in der geöffneten Tür stand.
„Fermez la porte, Franchine!“ rief sie aus. „Wenn du die Tür nicht schließt, wird man mich hören können und ich werde ebenso enden wie mein armer Mann - auf der Guillotine! Warum kannst du dich nicht besser um mich kümmern?“
„Pardonnez-moi, Madame!“
„Gib mir meine Decke, dann kannst du gehen. Und vergiß nicht: erwähne mit keinem Wort in diesem Hotel, wer ich bin.“
„C’est entendu, Madame.“
Die Magd brachte die Hermelindecke und legte sie auf den Sessel. Dann knickste sie vor ihrer Herrin und dann vor Sheldon Harcourt und verließ langsam den Raum.
„Diener sind so entsetzlich dumm, sie verstehen überhaupt nichts“, sagte die Comtesse mit einer ungeduldigen Geste.
Sheldon Harcourt bemerkte, daß sie einen Brillantring und einen Perlenring über ihrem goldenen Ehering trug. Um den Hals trug sie eine außergewöhnlich schöne Perlenkette. Dies war der einzige Schmuck.
„Sie müssen mir von sich erzählen, Comtesse“, sagte Sheldon Harcourt. „Wollen Sie sich nicht setzen?“
Sie setzte sich in den Stuhl, raffte alle ihre Röcke zusammen, und sah ihn unter den dichten Wimpern testend an, als ob sie sich davon vergewissern wollte, ob sie ihm Vertrauen schenken könnte oder nicht.
Dann stieß sie einen Seufzer aus, schlug die Hände ineinander und sagte: „Mein armer Mann! Ich habe ihn die Stufen zur Guillotine hinaufsteigen sehen! Er hat keinerlei Verbrechen begangen, außer daß er von adliger Herkunft war.“
„Es tut mir leid, daß Sie solches Leid ertragen mußten“, sagte Sheldon Harcourt. „Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?“
„Vielen Dank, aber ich möchte lieber warten, bis das Dinner serviert wird“, erwiderte die Comtesse.
„Sie waren dabei, mir von Ihrem Mann zu erzählen.“
„Wir lebten außerhalb von Paris, in Nogent-sur-Seine. Die Revolution schien so weit weg zu sein und uns nichts anzugehen.“
Die Comtesse bedeckte ihre Augen mit den Händen.
„Wenigstens ... bis vor einigen ... Monaten ... und dann ...“
Die Erinnerung schien sie zu überwältigen, so daß sie unfähig war, weiter zu erzählen.
„Ich verstehe“, sagte Sheldon Harcourt. „Dann haben Sie sicher viele Freunde verloren.“
„Sind Sie von Paris gekommen, Monsieur?“
„Ja, aus Paris“, antwortete er. „Und ich glaubte, daß die Dinge ein wenig besser geworden wären, bis dieser Narr, Barere, das Leben des Königs für die öffentliche Sicherheit forderte.“
„Le pauvre Roi!“ murmelte die Comtesse. „Mein Herz blutet, wenn ich an das Leid der Königin und ihrer Familie denke!“
Nach einer kleinen Pause fragte sie: „Und weil der König ermordet wurde, müssen Sie nach England zurückkehren?“
„Auf jeden Fall habe ich Paris verlassen müssen“, erwiderte Sheldon Harcourt. „Wie alle Engländer in Frankreich bin auch ich davon überzeugt, daß England diesem Land den Krieg erklären wird.“
„Aber für Sie bedeutet es wenigstens, nach Hause zu gehen“, sagte die Comtesse mit leiser Stimme. „Für mich ist es ... ein Schritt ... ins Ungewisse.“
„Haben Sie Freunde in England?“
„Sicher gibt es einige Emigranten, die ich kenne. Aber ich weiß nicht, wo sie sind und wo ich sie suchen sollte.“
Sheldon Harcourt sah sie erstaunt an.
„Sie unternehmen diese Reise also ganz allein?“
Die Comtesse lächelte.
„Ich habe Franchine, die für mich seit meiner Kindheit sorgt. Und Bobo, der mein persönlicher Diener ist und außerdem sehr viel stärker, als er aussieht.“
„Ich habe mir schon gedacht, daß er nicht so jung ist, wie es zuerst scheint“, bemerkte Sheldon Harcourt.
„Sie sind ein aufmerksamer Beobachter, Monsieur. Es ist wahr. Bobo ist wirklich schon fünfundzwanzig und außerdem sehr stark. Wenn irgendjemand mich angreifen würde, ich schwöre, daß Bobo ihn töten würde!“
„Ich bin sicher, daß dies in England nicht geschehen wird“, versicherte Sheldon Harcourt.
„Das ist auch der Grund, warum ich unbedingt dorthin möchte. Ich bin überzeugt, daß ich mich dort sicher fühlen werde und daß dieses liebenswerte Land mich mit einer Wärme empfangen wird, die es in Frankreich nicht mehr gibt.“
Sheldon Harcourt konnte nur hoffen, daß sie nicht enttäuscht werden würde.
Er wußte, daß London von Flüchtlingen aus Frankreich überflutet wurde und die sprichwörtliche Gastfreundlichkeit der Engländer sich langsam in unverhohlenen Ärger verwandelte.
Hinzu kam, daß die ersten französischen Flüchtlinge, die Frankreich bereits bei den ersten Anzeichen der Revolution verlassen hatten, sich als „Les Pures“, die Ehrlichen, bezeichneten. Sheldon Harcourt hatte dies von Engländern erfahren, die nach Paris gekommen waren.
Diese ersten Flüchtlinge betrachteten die jetzt ankommenden beinahe als Verräter, weil sie so lange in Frankreich geblieben waren.
Wenigstens, dachte er, sah die Comtesse nicht verarmt aus. Und für jemanden, der Geld hatte und außerdem noch schön war, konnte London ein erfreuliches Pflaster sein, selbst wenn er ohne Freund dort beginnen mußte.
Begleitet von zwei Dienstmägden und einem Kellner erschien Monsieur Dessin mit den ersten Gängen eines hervorragenden langen Dinners.
Das Hotel d’Angleterre war bekannt für sein ausgezeichnetes Essen, und Sheldon Harcourt dachte, daß dieser Ruf bestimmt nicht übertrieben war.
Die Spezialität des Hauses, frische Seekrabben, waren super, der Champagner hervorragend.
Die Geräusche aus dem Speiseraum erinnerte Sheldon Harcourt außerdem ständig daran, daß er sich glücklich schätzen konnte, noch ein Privatzimmer bekommen zu haben.
Draußen tobte der Sturm und rüttelte an den Fenstern. Von Zeit zu Zeit ging ein Luftstoß durch den Kamin und es schien, als würde das Hotel in seinen Grundmauern erschüttert.
„Es sieht so aus, als würden wir hier einige Zeit verbringen müssen“, bemerkte Sheldon Harcourt.
„Ich hoffe nicht“, erwiderte die Comtesse.
Dann jedoch fügte sie schnell hinzu: „Das klingt unhöflich, Monsieur, wo Sie so freundlich waren, mich einzuladen. Aber Sie werden sicher verstehen, daß ich um meine Sicherheit besorgt bin.“
„Selbstverständlich verstehe ich das“, antwortete Sheldon Harcourt mit seiner tiefen wohlklingenden Stimme. „Aber in Calais sind Sie verhältnismäßig sicher. Die Revolution ist noch nicht aus den großen wichtigen Städten Frankreichs herausgekommen. Die schlimmsten Greueltaten wurden in Paris verübt.“
„Die Revolution hat Nogent-sur-Seine auch erreicht“, sagte die Comtesse mit einem leichten Seufzer in der Stimme.
Sie hatten das Dinner jetzt beendet. Nur der Kaffee stand noch vor ihnen und Sheldon Harcourt hatte einen Brandy bestellt.
Die Comtesse streckte ihm die Hand entgegen.
„Werden Sie mir in England zur Seite stehen, Monsieur?“ fragte sie. „Sie sind eine so vornehme und wichtige Persönlichkeit. Ich bin sicher, daß ich mit Ihrer Hilfe und unter Ihrem Schutz keine Schwierigkeiten haben werde.“
Ein amüsiertes Glitzern war in Sheldon Harcourts blauen Augen zu sehen.
Er hatte sehr wohl bemerkt, daß die Comtesse während des Dinners versucht hatte, mit ihm zu flirten.
Er hatte seine Rolle bei diesem Wortspiel mit der Routine gespielt, die er in seinen Erfahrungen bei der Eroberung schöner Frauen gesammelt hatte.
Auch hatte er erwartet, daß die Comtesse ihn als Engländer um Hilfe bitten würde. Jedoch kam diese Bitte entschieden eher als erwartet.
Wie sie von ihm erwartete, nahm er ihre Hand und küßte sie.
„Sie müssen mir ein wenig mehr von sich erzählen“, sagte er.
Für einen Augenblick spürte er den Druck ihrer Finger, dann entzog sich ihm ihre Hand wie ein kleiner Schmetterling.
„Was möchten Sie denn wissen?“ fragte sie. „Mein Mann war sehr reich, aber ich bin mir nicht sicher, wie ich an unsere Güter herankommen kann.“
„Haben Sie Geld in England?“
„Ich bin ... nicht sicher. Sobald ich in London angekommen bin, muß ich einige Anwälte aufsuchen, um mir Rat zu holen. In der Zwischenzeit habe ich jedoch genügend Mittel, um ... gut zu leben.“
Nur für einen kurzen Augenblick berührten ihre Finger die Perlenkette an ihrem Hals und ihr Brillantring schien ihn anzublitzen.
„Wenn Sie mir raten würden, Monsieur, in welchem Hotel ich in London wohnen sollte, dann kann ich mich in Ruhe nach einer geeigneten Bleibe in einer angesehenen Gegend umsehen.“
Sie stieß einen kleinen Seufzer aus.
„Wenn ich nur bei... jemandem wohnen könnte, bis ich ... etwas Geeignetes gefunden habe.“
Ein leichtes Lächeln erschien auf Sheldon Harcourts Gesicht.
„Ich bedauere, daß ich nicht in der Lage bin, Sie in das Haus meiner Familie einzuladen“, sagte er. „Aber ich werde Ihnen bestimmt helfen, eine Unterkunft zu finden, bis Sie eine geeignete Bleibe gefunden haben.“
„Sie wissen nicht, was es heißt, Monsieur, allein in der Welt zu sein“, erwiderte sie mit zitternder Stimme. „Allein, ohne einen sorgenden Menschen..., ohne jemanden, der einen liebt.“
„Wie ich bereits sagte, es tut mir sehr leid.“
„Sie sind sehr freundlich. Wenn ich ein wenig älter und erfahrener wäre, vielleicht wäre alles viel leichter. Aber mein Mann... er hat alles für mich erledigt, mir alle Sorgen ferngehalten!“
„Und nun sind Sie allein. Es ist wirklich eine sehr traurige Geschichte.“
„Ich versuche, tapfer zu sein. So tapfer wie er es war, als er die Stufen zur Guillotine hinaufstieg. Ich höre noch immer seine Stimme, als er rief: ,Gott möge sich meiner Seele annehmen. Der Teufel soll Eure Seelen holen! “
„Einen kleinen Kognak?“ bot Sheldon Harcourt ihr an und griff nach der Karaffe.
Sie schüttelte den Kopf, und Sheldon Harcourt sagte: „Ich bin überzeugt, daß Sie bisher sehr tapfer waren. Aber es wäre ein Fehler, sich jetzt gehen zu lassen, so entsetzlich Ihre Erinnerungen auch sein mögen. Mut!“
„Mut ist es, was ich in Zukunft brauchen werde“, sagte die Comtesse.
Sie nahm die Hände vom Gesicht und fügte leise hinzu:
„Die Engländer sind so bewundernswert tapfere Menschen. Das liegt an dem guten Blut, das in ihren Adern fließt.“
„Sie sind sehr schmeichelhaft, Madame!“
Sie erhob ihr Glas und sagte, während sie ihm einen verführerischen Blick unter ihren langen Wimpern zuwarf:
„Und Sie sind ein außergewöhnlicher und schöner ,Gentilhomme‘!“
Sheldon Harcourt deutete eine Verbeugung an, ohne seiner Gesprächspartnerin jedoch zuzutoasten. Während er sie beobachtete, lehnte er sich bequem im Stuhl zurück.
Sie war wirklich eine Schönheit. Auch bei näherer Betrachtung behielt ihre Haut eine außergewöhnliche Zartheit und Reinheit. Ihre Gesichtszüge waren beinahe edel.
Als hätte sie die prüfenden Blicke bemerkt, errötete die Comtesse ein wenig.
„Sie sehen mich so - wie sagt man doch - abschätzend an“, sagte sie.
„Ihr Englisch ist erstaunlich!“ rief Sheldon Harcourt aus. „Wo haben Sie gelernt, es so fließend zu sprechen?“
„Das ist recht einfach... meine Mutter war Engländerin!“
„Daher also. Aber Sie sehen sehr Französisch aus.“
„Ich komme nach meinem Vater. Er war Franzose. Ich habe auch immer in Frankreich gelebt. Aber schon immer hatte ich den Wunsch, dieses Land zu besuchen, von dem meine Mutter mit so viel Liebe gesprochen hat.“
„Dann haben Sie ja Verwandte in England.“
Die Comtesse hob die Schultern in die Höhe.
„Es ist möglich ... ich weiß es nicht!“
Dann senkte sie die Augen und sagte: „Meine Mutter ist mit meinem Vater davongelaufen. Es war eine Mesalliance für den Sohn einer aristokratischen Familie. Man hatte bereits eine Heirat für ihn arrangiert, so wie das in Frankreich üblich war. Aber er war ein Rebell.“
Sie lächelte und ihre Augen schienen zu funkeln, als sie hinzufügte: „Jetzt verstehen Sie, Monsieur, warum ich hier bin.“
„Ja, ich verstehe, und ich sollte jetzt wohl sagen, daß ich sehr froh darüber bin, daß es Sie gibt?“
„Ich sprach davon, auf der Welt zu sein, nicht hier in diesem Zimmer“, erwiderte die Comtesse schmollend.
„Ich habe sehr wohl verstanden, was Sie meinten“, sagte Sheldon Harcourt. „Aber ich bin sehr selbstsüchtig. Ich bin froh, daß der Sturm, der die Überfahrt verhindert, und sogar die Revolution uns zusammengeführt hat!“
„Sie sind sehr freundlich und sehr... schmeichelnd.“
Mit gesenkten Augen erhob sie sich und ging auf das Feuer zu. Sheldon Harcourt erhob sich und stellte sich neben sie an den Kamin.
„Ich muß mich jetzt zurückziehen“, sagte die Comtesse. „Es war ein langer und anstrengender Tag. Ich bin recht müde.“
„Dann lassen Sie uns hoffen, daß der Sturm nachläßt und wir morgen übersetzen können.“
„Wenn es so ist, werde ich Sie dann wiedersehen?“
„Ich hoffe es.“
„Ich möchte Sie wiedersehen. Können Sie nicht verstehen, wie sehr ich Sie wiedersehen möchte?“
Sie sah zu ihm auf und ihre Gesichter näherten sich. Ohne ein Wort zu sprechen, streckte er seine Arme aus und zog sie an sich.
Sie leistete keinen Widerstand. Ihr Kopf fiel auf die Schultern zurück und sein Mund berührte ihre Lippen.
Ihre Lippen waren sehr weich und er fühlte, wie ein Schauer durch ihren Körper lief.
Sein Kuß wurde intensiver, fordernd, seine Arme hielten sie fest umschlungen, bis es ihr fast unmöglich war zu atmen. Sie machte eine Bewegung mit den Händen, als wolle sie sich gegen ihn wehren, da ließ er sie plötzlich los. Er hob den Kopf.
„Und jetzt, denke ich, werden Sie mir die Wahrheit erzählen!“'
„Die ... Wahrheit?“
Mit großen dunklen Augen starrte sie ihn an.
„Die Wahrheit“, wiederholte er.
„Was, was ... wovon reden Sie?“
„Sie sind nicht die Comtesse de la Tour!“
„W ... woher w ... wissen Sie das?“
„Ich habe die Comtesse kennengelernt und sie ist eine ganz reizlose uninteressante Frau.“
„Das ist Pech!“
„Großes Pech! Und noch etwas möchte ich gerne von Ihnen wissen.“
„Was ist es?“
„Warum tragen Sie einen Ehering? Ich bin sicher, daß Sie gar nicht verheiratet sind. Und ganz sicher sind Sie noch nie vorher geküßt worden.“
Mit einer schnellen Bewegung befreite sich die junge Frau aus seinen Armen.
„Tiens!“ rief sie aus. „Was habe ich denn falsch gemacht?“
„Überhaupt nichts“, erklärte Sheldon Harcourt. „Sie sind nur ein wenig unerfahren.“
„Kann jeder das feststellen?“
„Wahrscheinlich nicht.“
Sie stampfte mit dem Fuß auf.
„Warum haben Sie es denn bemerkt? Das ist ein unglückseliger Zufall, daß es gerade Sie waren, den ich heute traf. Es hätte doch jeder beliebige Mann sein können.“
Nach einem kurzen Augenblick fügte sie hinzu: „Und haben Sie die Comtesse de la Tour auch noch gekannt... bevor sie auf der Guillotine starb.“
Sheldon Harcourt mußte ob des Ärgers in ihrer Stimme lächeln.
„Wie wäre es, wenn Sie sich jetzt hinsetzten und mir alles erzählen würden?“
Er hatte den Eindruck, als zögerte sie. Dann, als hätte sie sich entschieden, ihm zu vertrauen, setzte sie sich und legte die Hermelindecke über ihre Knie.
„Was ... möchten Sie ... wissen?“ fragte sie zaghaft.
„Die Wahrheit! Sie haben mich neugierig gemacht!“
„Wenn ich Ihnen die Wahrheit erzähle, Monsieur, werden Sie mir dann helfen?“
„Das hängt davon ab, was Sie von mir erwarten.“
„Sie sind Engländer, ein Edelmann und reich - nicht wahr?“
Sheldon Harcourt lachte, goß sich noch einen Brandy ein und setzte sich in den Stuhl ihr gegenüber.
„Dies scheint ein Frage- und Antwortspiel zu sein“, sagte er. „Sie haben lediglich in einem Punkt Recht. Ich bin Engländer, aber ich bin kein Edelmann. Mein ,Titel‘ existiert nur in der Einbildung von Monsieur Dessin, und ich besitze kaum einen Sou.“
„Helas! Ist das wahr?“
„Das ist absolut wahr“, antwortete er. „Ich kehre als ,Emigrant‘ nach England zurück, ebenso wie Sie, meine Liebe. Und Sie können sich nicht darauf verlassen, daß ich Ihnen in Ihrer heiklen Lage von großer Hilfe sein kann.“
„Meine Lage ist noch viel schlimmer, als Sie annehmen.“
„Erzählen Sie mir“, sagte er. „Ich war offen und ehrlich zu Ihnen und ich erwarte, daß Sie es mir gegenüber auch sind.“
„Es ist wahr, ich bin nicht verheiratet“, begann die Frau zu erzählen. „Aber ich nahm an, daß ich besser als Witwe erscheine, wenn ich in London nur mit Franchine und Bobo ankomme. Eine Witwe braucht keine Anstandsdame.“
„Kannten Sie die de la Tours?“
„Mama und ich lebten im selben Ort, aber sie verkehrten nicht mit uns. Wir waren unter ihrer Würde.“
„Warum?“
Es schien, als zögerte sie und wählte die Worte sehr sorgsam. Dann jedoch schien sie sich entschlossen zu haben, nichts mehr zu verbergen.
„Mein Vater war der Duc de Valence. Er liebte meine Mutter und meine Mutter liebte ihn. Lange bevor sie sich begegneten, war mein Vater mit einer langweiligen einfallslosen Frau verheiratet worden, die die Kirche und die Gesellschaft des Priesters der meines Vaters vorzog.“
„So sind Sie also ein Kind der Liebe.“
Während er sie betrachtete, dachte er, daß ihre außergewöhnliche Schönheit und die Ebenmäßigkeit ihrer Züge ein Zeugnis für ihre noble Herkunft waren.
„Der Duc starb in Paris im letzten ... August.“
Der Schmerz in ihrer Stimme war diesmal echt.
„Ich erinnere mich, er war einer der 1200 Aristokraten und Bischöfe, die in dem Massaker ihr Leben verloren“, sagte Sheldon Harcourt.
„Mama konnte ohne ihn nicht leben“, fuhr die junge Frau fort. „Sie verblühte einfach und - starb.“
Ein kleiner Seufzer entfuhr ihr.
„Sie wurde zwei Wochen vor Weihnachten... begraben.“
„Und Sie sind jetzt also allein.“
Sie mußte kämpfen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Dann beantwortete sie seine Frage: „Ganz allein, bis auf Franchine und Bobo.“
Jetzt konnte er verstehen, warum niemand in London ihr helfen konnte, warum keine offene Tür für die Tochter eines französischen Duc da sein würde.
„Was haben Sie vor zu tun?“
„Ich habe vor zu heiraten!“
„Zu heiraten?“
„Selbstverständlich! Ich möchte angesehen sein.“
Ihre Stimme hatte jetzt einen harten Klang und es fiel Sheldon Harcourt schwer, das Lächeln zu unterdrücken.
„Wahrscheinlich wäre es leichter für Sie, einen Beschützer zu finden.“
Sie richtete sich auf und ihre Augen blitzten ihn an. „Glauben Sie, daß ich das will? Können Sie sich nicht vorstellen, daß ich genug darunter gelitten habe, verspottet und verachtet zu werden, nur weil mein Vater meiner Mutter keinen Ring an den Finger stecken konnte?“
Sie holte tief Luft.
„Ich will reich sein. Ich möchte eine Stellung im Leben einnehmen. Ich will angesehen sein und niemand ... niemand kann mich aufhalten!“
Fast spie sie ihm die Worte entgegen. Nach einem Augenblick der Überraschung lehnte er sich zurück und brach in Lachen aus.
„Sie sind großartig! Wenn irgendjemand sein Ziel erreichen wird, dann sind Sie es!“
„Und Sie werden mir helfen?“
„Wie kann ich das denn?“
„Sie können mir sagen, wo ich mich hinwenden muß. Sie können mich den richtigen Leuten vorstellen. Sie haben kein Geld, sagen Sie, aber Einfluß und das Kennen der richtigen Leute sind wichtiger als Wohlstand.“
Sie machte eine Pause.
„Wir treffen ein Abkommen - oui? Sie helfen mir, und ich werde Ihnen helfen. Ich heirate einen reichen Mann ... und wir teilen sein Geld!“
Wieder mußte Sheldon Harcourt lachen.
„Sie sind unverbesserlich. Noch nie ist mir ein solch fantastischer Vorschlag gemacht worden.“
„Warum ist das so fantastisch?“
„Glauben Sie wirklich, ich würde Ihr Geld annehmen?“
Sie sah ihn einen Moment forschend an.
„Warum nicht?“ fragte sie dann. „Sie sagen, Sie sind kein Edelmann, aber Sie sind ein Gentleman. Mein Vater hätte Sie akzeptiert. Und Sie können nicht vorgeben, daß Sie keinen Zutritt zur Gesellschaft und zu vielen angesehenen englischen Häusern haben.“
Der kostenlose Auszug ist beendet.