Buch lesen: «Reise im Glück»
Reise im Glück
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2018
Copyright Cartland Promotions 1982
Gestaltung M-Y Books
1. ~ 1880
Lord Harleston ließ den Blick durch den Ballsaal von Marlborough House schweifen und gähnte diskret.
Es war schon spät. Die ,Pflichttänze‘, wie er sie nannte, hatte er hinter sich gebracht, und plötzlich verspürte er kein Verlangen mehr, auch nur mit einer der schönen Frauen, von denen der Prince of Wales stets umgeben war, zu tanzen.
Nicht allein deshalb, weil er sich im Moment für keine besonders interessierte, nein, er hatte einfach die königliche Aura satt, die Marlborough House anhaftete, obschon die Gesellschaften amüsanter waren als alle anderen in ganz London.
Ich werde wohl alt, sagte sich Lord Harleston.
Noch vor wenigen Jahren hätte er einen solchen Abend in vollen Zügen genossen und sich keine Sekunde gelangweilt. Und jetzt war er das alles auf einmal leid.
Da für den Prince of Wales eine Party nach der anderen gegeben wurde, hatte Lord Harleston das Gefühl, diese Gesellschaftsabende seien alle gleich, ob sie nun von führenden Gastgeberinnen Londons veranstaltet wurden, die sich darum rissen, Seine Königliche Hoheit einzuladen, oder ob sie im Marlborough House stattfanden, wo die unvergleichliche Princess Alexandra residierte.
Mehr noch, die Witze, die zum besten gegeben wurden, ähnelten einander ebenso wie die zur Schau gestellte Extravaganz, die exquisiten Speisen und die unzähligen Flaschen herrlicher Weine.
Da er diesen Abend unter einem gewissen Vorbehalt sah, zeigte Lord Harleston auch nicht wie üblich Interesse für die Gemälde und das Haus selbst.
Er gehört zu jenen Freunden des Prince of Wales, die Kunst und Architektur zu würdigen wußten. Das an der Pall Mall gelegene Marlborough House, von Sir Christopher Wren für den ersten Herzog von Marlborough erbaut, entzückte ihn bei jedem Besuch von neuem, da es auf seine Weise ein Kunstwerk war.
Natürlich hatte das Haus auch eine Geschichte. 1817 war es Princess Charlotte und Prince Leopold zur Verfügung gestellt worden, anschließend hatte Königin Adelaide bis zu ihrem Tod im Jahre 1849 darin gelebt. Königin Victoria hatte das Parlament ersucht, Marlborough House per Dekret dem Prince of Wales an dessen neunzehntem Geburtstag zu übertragen.
Seit damals hatte die Regierung sechzigtausend Pfund für Renovierung und Anbauten aufgewendet, das Mobiliar und der Wagenpark hatten zusätzlich einhunderttausend Pfund verschlungen.
Nach Lord Harlestons Ansicht war das Geld vernünftig und gut verwendet worden, mochten die Öffentlichkeit und radikalere Abgeordnete auch anders darüber denken.
Der Prince of Wales, der mittlerweile auf die Vierzig zuging, besaß mit Marlborough House und Sandringham zwei komfortable Residenzen, die er zu wahren Schmuckstücken gemacht hatte.
Dies war im Moment jedoch kein Trost für Lord Harleston. Nach einem weiteren verstohlenen Gähnen entschied er, es sei höchste Zeit, sich diskret zurückzuziehen. Kaum war dieser Entschluß gefaßt, als er lautes Gelächter aus jener Ecke des Raumes hörte, in der sich der Prince und seine Freunde offenbar köstlich amüsierten.
Die Freunde des Thronfolgers stellten einen weiteren Zankapfel dar, und die Königin stand mit ihrer Mißbilligung nicht allein.
So hatte die Times seinen Umgang mit amerikanischen Viehtreibern und Preisboxern gerügt, während andere Kritiker es ihm ankreideten, daß er Umgang mit Männern pflegte, die sich durch Reichtum und nicht durch ihre Herkunft auszeichneten.
In diese Kategorie fiel Lord Harleston gewiß nicht. Sein Ruf als Verführer und Lebemann aber, der, wie er zugeben mußte, nicht ungerechtfertigt war, hätte mit Sicherheit den Unwillen der Königin erregt.
Seinem blendenden Aussehen, seinem Reichtum und seiner sportlichen Begabung hatte er es zu verdanken, daß es in der Gesellschaft um den Prince of Wales praktisch keine Dame gab, die es sich nicht zum Ziel gesetzt hätte, ihn einzufangen, und sei es auch nur für kurze Zeit.
Seine Affären waren tatsächlich immer nur von kurzer Dauer, da sich Lord Harleston mit Frauen ebenso rasch langweilte wie auf Partys. War die Zeit des Werbens, des Eroberns und Erobert Werdens vorüber, dann brachten diese Affären selten Überraschungen.
Im Lauf der Jahre hatte er den Ruf eines Herzensbrechers erworben, und seine Flatterhaftigkeit von einem Boudoir zum anderen und von einer Schönheit zur anderen war allgemein bekannt.
Wieder hörte man das laute Lachen des Prinzen, in das der Rest der Gruppe sofort einstimmte. Lord Harleston war sicher, daß der Marquis de Soveral, der überaus amüsante portugiesische Botschafter, den Grund für die allgemeine Heiterkeit geliefert hatte. Der für seinen Witz und Charme bekannte Marquis spielte in der Runde des Thronfolgers eine Rolle, die der des Hofnarren früherer Zeiten ähnelte.
Lord Harleston zögerte unschlüssig, ob er sich der Gruppe um den Prinzen anschließen oder versuchen sollte, sich davonzustehlen. Doch da hatte ihn der Prinz bereits bemerkt und winkte ihn zu sich.
»Selby, ich muß mit Ihnen sprechen, aber nicht hier«, sagte der Prinz halblaut.
Er nahm Lord Harleston am Arm und verließ mit ihm in dem Augenblick den Ballsaal, als die Musik wieder einsetzte und die Klänge eines Walzers ertönten. Sie gingen einen kurzen Korridor entlang und betraten einen Salon.
Der Raum, in dem üppige Arrangements von Malmaison-Nelken verschwenderisch verteilt waren und die Luft mit ihrem Duft erfüllten, wirkte mit seiner gedämpften Beleuchtung und den weichen Sofas wie eine Oase der Ruhe.
Zu Lord Harlestons Verwunderung schloß der Prinz of Wales die Tür hinter sich, durchquerte den Raum und blieb dann, den Rücken dem blumengeschmückten Kamin zugewandt, stehen.
In Lord Harlestons Blick lag ein Anflug von Besorgnis. Er fragte sich, was der Prinz ihm wohl zu sagen hatte und warum er so geheimnisvoll tat.
Um finanzielle Probleme konnte es sich nicht handeln. Zwar befand sich der Thronfolger ständig in finanziellen Nöten, doch die Sassoons und Rothschilds berieten ihn, und Sir Anthony Rothschild, der jüngst zum Baronet erhoben worden war, hatte veranlaßt, daß die im Familienbesitz befindliche Bank dem Prinzen Geld vorstreckte, wenn er in Schwierigkeiten war.
Ähnliche Dienste leistete dem Prinzen Baron Maurice von Hirsch, ein immens reicher Finanzmann, dessen Entree in die englische Gesellschaft der Prinz gefördert und befürwortet hatte.
Der Prinz räusperte sich, was bei Lord Harleston den Eindruck erweckte, er sei verlegen. Dann aber schien Seine Königliche Hoheit den Stier bei den Hörnern packen zu wollen und sagte: »Selby, ich muß mit Ihnen über Dolly reden.«
»Über Dolly?« wiederholte Lord Harleston überrascht. Das war wirklich das allerletzte Thema, mit dem er gerechnet hätte.
Dolly war die Countess of Derwent, mit der Lord Harleston eine leidenschaftliche affaire de coeur gehabt hatte. Die Beziehung hatte mehr als ein halbes Jahr gedauert, länger als die meisten Beziehungen, die er abbrach, bevor sie ihn anödeten.
Da die Countess als eine der schönsten Frauen Englands galt und Lord Harleston viele Rivalen hatte, lag der besondere Reiz für ihn darin, etwas zu besitzen, was sich so viele ersehnten. Er genoß ihre neidvollen Blicke, wenn er sich mit der Countess am Arm zeigte und diese ihn entzückt anhimmelte. Daß sie sich in ihn verliebt hatte, war nicht weiter erstaunlich, da dies bei allen seinen Affären offenbar unvermeidlich war. Auf seine Andeutung hin, zwischen ihnen sei alles aus, hatte sie bitterlich geweint und sich ihm sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinn zu Füßen geworfen und ihn angefleht, sie nicht zu verlassen eine Situation, die nicht neu für ihn war.
Doch selbst während er bemüht war, Mitgefühl zu zeigen, war Lord Harleston bewußt, daß Dolly trotz ihrer Schönheit eine langweilige Person war.
Nie hatte sie sich durch originelle Äußerungen hervorgetan, und wenn sie einmal eine witzige Bemerkung machte, dann nur, um sich über eine ihrer Freundinnen lustig zu machen.
Jemand hatte der Countess einmal versichert, sie sähe aus wie ein Rosetti-Engel. Seither versuchte sie dieser Beschreibung zu entsprechen und trug einen seelenvollen Gesichtsausdruck zur Schau, der Lord Harleston stark irritierte, weil er wußte, wie falsch er war.
»Ich liebe dich, Selby«, schluchzte sie, »und ich dachte, du liebst mich! Wie . . . wie kannst du mich verlassen . . . nach allem, was wir einander bedeuteten?«
Es war eine Frage, die Lord Harleston schon unzählige Male gehört hatte, auf die er aber noch immer keine Antwort wußte, die nicht zu brutal geklungen hätte.
Als er sich Dollys sehnsüchtigen Armen entzogen hatte, war er überzeugt, daß es am besten war, wenn er sie nicht wiedersah.
Nachdem er ihr einen riesigen Blumenstrauß und ein Andenken von Cartier, das ihn eine stattliche Summe kostete, geschickt hatte, verdrängte er den Gedanken an die Countess of Derwent, ein Verhalten, das ihm zur Gewohnheit geworden war.
Das alles hatte sich vor zehn Tagen abgespielt.
Seither waren etliche Briefe in Harleston House abgegeben worden, alle mit der unverkennbaren Handschrift der Countess. Da er aber nicht beabsichtigte, sie zu beantworten, hatte er sie erst gar nicht geöffnet.
Lord Harleston, der es nicht mochte, wenn jemand auf seine Affären anspielte, verhielt sich reserviert.
»Wir sind alte Freunde, Selby«, sagte der Prinz in übertrieben herzlichem Ton, »daher kann ich ganz offen sein.«
»Selbstverständlich, Sir«, gab Lord Harleston zurück, obwohl er auf diese Art von Offenheit gern verzichtet hätte.
»Also, mein Lieber, Dolly hat sich an die Prinzessin gewandt«, eröffnete ihm der Prinz.
Lord Harleston erstarrte.
Das war ja unglaublich! Wie konnte Dolly nur so indiskret sein, sich bei Princess Alexandra über sein Verhalten zu beklagen! Je länger er aber darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, daß das Ganze nur Dollys Naivität zuzuschreiben war.
Princess Alexandra, die Gemahlin des Thronfolgers, war eine Frau, der von aller Welt Respekt gezollt wurde. Ihr fröhliches Wesen, ihr Sinn für Humor ließen sie die Rolle, die ihr auferlegt war, mit wahrer Perfektion spielen. Ihrer Schönheit und Jugendlichkeit galt die allgemeine Bewunderung, doch ihre fortschreitende Schwerhörigkeit erschwerte es ihr immer mehr, die gesellschaftlichen Verpflichtungen wahrzunehmen, die sie früher so genossen hatte.
Selbstbeherrschung und Würde verhinderten, daß sie Eifersucht zeigte, wenn ihr Gemahl der sie stets mit größter Zuvorkommenheit und Hochachtung behandelte, vor der Welt klar zu erkennen gab, daß er die Gesellschaft seiner anderen Damen der seiner Gemahlin vorzog.
Zur Zeit verband den Prinzen eine tiefe Zuneigung mit der bildschönen Mrs. Lilly Langtry, und Princess Alexandra hatte sich dem Unvermeidlichen gebeugt und keine Einwände erhoben, als auch diese Geliebte des Prinzen nach Marlborough House eingeladen wurde.
Nun trat eine Pause ein, die der Prinz nutzte, um sich zu räuspern.
»Die Prinzessin bat mich, Ihnen den Gedanken nahezubringen, daß Dolly für Sie eine hervorragende und überaus geeignete Ehefrau abgeben würde.«
Hätte der Prinz zu Lord Harlestons Füßen eine Bombe explodieren lassen, wäre dieser kaum entsetzter gewesen. Er hatte es sich zur Regel gemacht, seine Liebesaffären nie im Freundeskreis zu diskutieren, und er hatte außerdem deutlich zu verstehen gegeben, daß das Thema Ehe für ihn tabu war, insbesondere, wenn seine Verwandtschaft darauf anspielte.
Als jungem Mann war ihm von den Eltern, von Tanten, Onkeln und Cousins, eben von allen, die den Namen Harle trugen, ans Herz gelegt worden, sich nach einer Frau umzusehen. Unzählige Töchter aus standesgemäßen Familien, kaum dem Schulalter entwachsen, wurden ihm vorgestellt, wobei ihre Vorzüge hervorgehoben und derart übertrieben gepriesen wurden, als ginge es dabei um einen Pferdehandel.
Schließlich hatte er sich gefügt, weil er das Wort Heirat nicht mehr hören konnte, und hatte um die Hand der Tochter des Herzogs von Dorset angehalten, ein hübsches Mädchen mit Pferdeverstand.
Von Verliebtheit konnte allerdings keine Rede sein. Der Herzog von Dorset ermutigte seine Werbung, weil er in finanziellen Schwierigkeiten steckte, und Selby Harle, wie er damals hieß, hielt es für das Beste, die Angelegenheit hinter sich zu bringen, nachdem er sich zu diesem schicksalhaften Schritt durchgerungen hatte.
Einen Monat vor der Hochzeit - täglich waren bereits Geschenke geliefert worden - war seine Zukünftige mit einem Gardeoffizier, der arm war wie eine Kirchenmaus, durchgebrannt. Es sollte sich heraussteilen, daß sie ihn seit Kindertagen geliebt hatte.
Zwar hatte Selby Harle deswegen nicht an gebrochenem Herzen gelitten, doch er war vor aller Welt zum Narren gehalten worden, etwas, das er nicht vergessen konnte.
Er hatte wütend, verbittert und zynisch reagiert nicht, weil er seine künftige Ehefrau verloren hatte, sondern weil er seine übereifrige Verwandtschaft dafür verantwortlich machte. Und so hatte er sich geschworen, nie wieder auf sie zu hören.
Als im Jahr darauf sein Vater gestorben war und er dessen Stelle als Oberhaupt der Familie einnahm, die verschiedenen Häuser und Landsitze samt riesigem Grundbesitz und einem Vermögen erbte, das im Laufe der Jahrhunderte beträchtlich angewachsen war, hatte er klar zu verstehen gegeben, daß er nun sein eigener Herr war und auf die Ratschläge seiner Umgebung gern verzichten konnte.
In den darauffolgenden Jahren hatte er seine Familie das Fürchten gelehrt. Er tat, was ihm beliebte und konnte sehr rücksichtslos vorgehen, wollte jemand seine Pläne durchkreuzen.
In diesem Moment schoß es ihm durch den Kopf, daß der Prinz sich besser um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, doch er beherrschte sich, diesen Gedanken laut auszusprechen.
Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens sagte er: »Ich bedaure zutiefst, Sir, daß die Prinzessin mit dieser belanglosen Sache behelligt wurde.«
Der Prinz trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, dann erklärte er: »Die Prinzessin ist der Auffassung, daß der Ruf der Countess durch Ihr Verhalten leiden könnte. Als Gentleman gibt es für Sie aus dieser Situation nur einen einzigen Ausweg.«
Lord Harleston war so außer sich, daß er sekundenlang kein Wort herausbrachte. Dolly Derwent hatte ihm eine Falle gestellt, eine Falle, aus der es im Augenblick kein Entrinnen gab!
Wenn überhaupt, dann mischte Princess Alexandra sich nur sehr selten in die Intrigen und Liebesaffären ein, die sich, unter den Mitgliedern des sogenannten Marlborough House-Sets abspielten. Sie verschloß die Augen nicht nur vor der Treulosigkeit ihres Gemahls, sie verschloß sie ebenso vor der Art und Weise, wie alle seine Freunde buchstäblich ohne Atempause von einer Affäre in die andere taumelten.
Die beteiligten Damen waren häufig verheiratet, und während man die Liebhaber der schönen Lady de Grey, der Marchioness of Londonderry und Dutzender anderer Schönheiten beklatschte und belächelte, blieb die Prinzessin davon unberührt und schien nicht wahrzunehmen, was um sie herum vorging.
Im Falle der Countess of Derwent war das jedoch etwas anderes. Die Countess war verwitwet.
Kaum der Schulstube entwachsen, war sie mit einem sechzigjährigen Earl of Derwent verheiratet worden, der stets ein Auge auf hübsche Frauen gehabt hatte und dringend einen Erben brauchte.
Seine zwei Jahre zuvor verstorbene Frau hatte ihm fünf Töchter geschenkt, und wie so viele Männer vor ihm glaubte auch er, ein junges Mädchen würde ihm den Sohn bescheren, den er sich mehr als alles auf der Welt wünschte. Dollys - oder vielmehr Dorothys - Vater, der, wenngleich edler Herkunft, ein Landjunker ohne vornehme Ambitionen war, erhoffte sich für seine schöne Tochter eine gute Heirat. Daß ihn der Antrag des Earls überwältigte, verstand sich von selbst. So kam es, daß Dolly, die gar nicht gefragt worden war, plötzlich vor dem Traualtar stand.
Sechs Jahre lang beteten sie und ihr umso vieles älterer Ehemann um einen Sohn, bis die Enttäuschung dem Earl so heftig zusetzte, daß er das Zeitliche segnete. Er hinterließ der mittlerweile fünfundzwanzigjährigen und zur gefeierten Schönheit gewordenen Dolly ein Vermögen, das es ihr ermöglichte, in London ein sehr angenehmes Leben zu führen.
Nach ihrer offiziellen Trauerzeit hatte sie zwei oder drei flüchtige Affären mit verheirateten Männern, die sie zwar anbeteten, ihr aber keine Ehe bieten konnten.
Und dann war sie Lord Harleston begegnet.
Ihre Freundinnen hatten sie vor ihm gewarnt und sie nicht nur über seinen Ruf aufgeklärt, sondern ihr auch zu verstehen gegeben, die Chancen, mit ihm im Hafen der Ehe zu landen, seien gleich Null.
»Dolly, eines muß dir klar sein«, hatte eine Freundin sie belehrt. »Er ist unerreichbar wie die Sonne und ebenso heiß man verbrennt sich an ihm die Finger, wenn man sich mit ihm einläßt! Außerdem würden sich deine allgemeinen Heiratschancen erheblich vermindern!«
»Ich kann selbst auf mich achtgeben«, hatte Dolly erwidert, ohne zu wissen, wie viele vor ihr schon dasselbe gesagt hatten.
Sie hatte sich bis über beide Ohren in ihn verliebt für Lord Harleston, der diesbezüglich einige Erfahrung hatte, nicht weiter überraschend. Da er aber überzeugt war, ihre Gefühle seien ebenso oberflächlich wie ihr Verstand schwach, hatte er ihr nicht einmal zugehört, als sie ihm mit Selbstmord drohte.
Diese Drohungen waren für ihn ebenfalls nichts Neues und hatten keinerlei Wirkung auf ihn. Als er sie verließ, tat er es jedenfalls ohne Reue.
Dolly war aber keineswegs daran gelegen, sich selbst zu vernichten. Sie hatte beschlossen, ihn zu vernichten.
Da Princess Alexandra sich in der Gesellschaft eine einzigartige Position geschaffen hatte, war dem Prinzen und Lord Harleston klar, daß es einem Gentleman unmöglich war, sich ihren Wünschen zu widersetzen, wenn sie sich dazu entschlossen hatte, Partei für eine Frau gegen ihren Ehemann oder Liebhaber zu ergreifen.
Nachdem der Prinz nun alles losgeworden war, wirkte er noch verlegener.
»Selby, ich weiß, Sie haben sich geschworen, nie zu heiraten«, sagte er schließlich. »Aber Sie wissen so gut wie ich, daß Sie früher oder später einen Erben brauchen, einen Jungen, der die Jagd auf Ihren Besitzungen genießen kann ... so wie ich. Ich hoffe, ich werde im Oktober wieder eingeladen.«
»Selbstverständlich, Sir«, murmelte Lord Harleston, während er darüber nachdachte, ob Dolly vielleicht zu jenen Frauen gehörte, denen die Natur die Freuden der Mutterschaft versagte, da sie dem Earl of Derwent, der zugegebenermaßen betagt war, keinen Sohn geschenkt hatte. Aber er würde sie nicht heiraten, auch dann nicht, wenn man Druck gegen ihn ausübte!
Im Moment blieb ihm nichts anderes übrig, als zu sagen: »Sir, ich hoffe, daß Sie Ihrer Königlichen Hoheit meinen Dank übermitteln. Ich fühle mich sehr geehrt, daß sie sich meinetwegen Gedanken macht.«
Er konnte nur hoffen, daß man aus seinen Worten weder den Sarkasmus noch die Wut hören konnte, die er empfand.
Der Thronfolger, dessen Einfühlungsvermögen sehr beschränkt war, schien sehr erleichtert.
»Selby, verdammt anständig von Ihnen«, stellte er fest. »Und jetzt wollen wir von Ihren Pferden sprechen. Haben Sie die Absicht, das Derby zu gewinnen?«
Er legte den Arm um Lord Harlestons Schulter und geleitete ihn zur Tür. Die unangenehme Unterredung war vorüber, und der Prinz konnte sich nun guten Gewissens wieder seinen Freunden widmen. Im Ballsaal angekommen, entfernte sich Lord Harleston respektvoll. Da der Prinz keinen Versuch machte, ihn aufzuhalten, verließ er Marlborough House umgehend.
In einer kleinen, bequemen Kutsche, die er in London benutzte, fuhr er zu seinem an der Park Lane gelegenen Haus.
Kaum hatte sein verschlafener Kammerdiener sich wieder zurückgezogen, trat Lord Harleston, der noch nicht zu Bett gehen wollte, ans Fenster. Den Blick auf die Bäume des Hyde Park gerichtet, fragte er sich, was er in dieser Situation unternehmen sollte. Er hatte zwar schon manches erlebt, aber so sehr hatte er noch nie in der Klemme gesteckt.
So hatte er einmal, die Regenrinne entlangrutschend, aus einem im zweiten Stock gelegenen Boudoir einer Dame flüchten müssen, als deren eifersüchtiger Ehemann, der argwöhnte, daß ihm Hörner aufgesetzt wurden, unvermutet zurückkehrte.
In Frankreich war er einmal in ein Duell verwickelt gewesen, das zum Glück nicht mit einem Skandal geendet hatte. Als flinker und guter Schütze hatte er es so eingerichtet, daß sein Schuß den Gegner nur streifte, worauf der Sekundant erklärte, der Ehre sei Genüge getan.
Unzählige andere Male war er nur um Haaresbreite der Entdeckung und einem Skandal entgangen, doch seine jetzige Situation war anders ganz anders.
Ihm war klar, daß ein königlicher Befehl an ihn ergangen war, der Befehl, eine Frau zu heiraten, die ihn nicht mehr interessierte und an die er nicht für den Rest seines Lebens gekettet sein wollte.
»Was soll ich tun? Was, zum Teufel, soll ich tun?« fragte er in die Dunkelheit hinein, und dieselbe Frage verfolgte ihn, als er am Morgen erwachte.
Noch vor dem Zubettgehen hatte er veranlaßt, daß seinem Freund, Captain Robert Ward, die Bitte übermittelt wurde, er möge sofort am Morgen zu ihm kommen.
Lord Harleston war daher nicht weiter verwundert, als man Robert Ward meldete, während er im Morgenzimmer beim Frühstück saß.
Captain Ward, ein gutaussehender, sympathischer Mann, hatte bei der Garde gedient, jedoch im vorangegangenen Jahr seinen Dienst quittieren müssen, um sich der Verwaltung des Familienbesitzes zu widmen, weil sein Vater todkrank war.
Da ihn das Leben in Hampshire anödete, hielt Robert Ward sich sehr häufig in London auf, wo er in der Half Moon Street eine Wohnung hatte.
Beim Betreten des Morgenzimmers sah man ihm an, daß er nicht viel Zeit im Bett verbracht haben konnte.
»Was ist denn passiert, daß du mich zu dieser unchristlichen Zeit zu dir bestellst? Ich bin erst um vier ins Bett gekommen.«
»Um vier? Dann darf ich annehmen, daß du so lange bei White’s am Kartentisch gesessen hast.«
»Ja, ich hatte eine Glückssträhne«, berichtete Robert Ward.
»Daß ich am Ende alles verlor, brauche ich wohl nicht eigens zu erwähnen.«
»Ich habe dich oft genug gewarnt, die Finger davon zu lassen!« tadelte Lord Harleston ohne jegliches Mitgefühl.
»Ich weiß, ich weiß«, winkte Robert Ward ab und nahm unaufgefordert Platz. »Aber sicher hast du mich nicht kommen lassen, um mir die Leviten zu lesen!«
Lord Harleston enthielt sich einer Antwort, da der Butler eintrat und Captain Ward fragte, ob er zu frühstücken wünsche.
»Um Himmels willen an Essen darf ich gar nicht denken!« lautete die Antwort. »Bringen Sie mir einen Brandy!«
Der Butler stellte ein Glas neben ihn, goß Brandy ein und ließ die Karaffe auf dem Tisch stehen.
Lord Harleston wartete, bis sie wieder ungestört waren.
»Robert, ich bin in großen Schwierigkeiten.«
»Ach, schon wieder?« Sein Freund nippte an seinem Glas.
»Diesmal ist es sehr ernst.«
Sein Ton ließ Captain Ward sein Glas auf den Tisch stellen und den Hausherrn besorgt ansehen.
»Selby, hast du etwas angestellt? Ich dachte, du seist im Moment ganz frei.«
»Das war ich bis gestern abend.«
Captain Ward zog erstaunt die Brauen hoch.
»Geht es um Marlborough House?«
»Ja, genau.«
Robert Ward schenkte Brandy nach.
»Dann sag mir, was sich zugetragen hat! Gottlob ist der Brandy ausgezeichnet. Langsam regen sich meine Lebensgeister wieder.«
»Das kann ich von mir nicht behaupten«, erklärte Lord Harleston.
Robert Ward setzte sich bequem zurecht und lauschte aufmerksam den Worten Lord Harlestons, die dieser nur mit Mühe über die Lippen brachte, so unangenehm war ihm dies alles.
Als er geendet hatte, war Robert Ward so überrascht, daß er seinen Brandy völlig vergessen hatte.
Schließlich faßte sich Robert und rief aus: »Allmächtiger! Nie hätte ich mir träumen lassen, daß Dolly Derwent so viel Verstand hätte, sich der Prinzessin anzuvertrauen!«
»Ich kann kaum glauben, daß ihre Intelligenz ausreicht, um einen solchen Plan auszuhecken«, gab Lord Harleston zurück. »Der Gedanke muß ihr nach einer Tee-Party gekommen sein, als sie sich plötzlich mit Ihrer» Königlichen Hoheit allein im Raum befand. Und da sie ganz London mit ihren Klagen nervte, übte sie auch vor der Prinzessin keine Zurückhaltung.«
»Würde mich nicht wundern«, gab Robert ihm recht. »Was gedenkst du zu unternehmen?«
»Was kann ich überhaupt unternehmen?«
»Nun, sie heiraten, vermutlich.«
Lord Harleston ließ seine Faust mit so großer Wucht auf die Tischplatte niedersausen, daß Porzellan und Besteck klirrten.
»Verdammt will ich sein, falls ich mein ganzes Leben mit ihr verbringe! Sie ödet mich jetzt schon unbeschreiblich an!«
»Noch öder wird es für dich, wenn die Einladungen nach Marlborough House ausbleiben! Die Prinzessin kann nämlich sehr eigen sein, wenn jemand ihre Pläne durchkreuzt.«
Daraufhin verfielen beide Männer in Schweigen. In Prinzessin Alexandras unmittelbarer Umgebung war bekannt, daß sie trotz ihrer Schönheit und ihres sanften Wesens sehr starrsinnig, unberechenbar und manchmal auch sehr unvernünftig sein konnte.
Eine ihrer Hofdamen hatte Robert Ward anvertraut, daß die Prinzessin sich ihrer Begleitung gegenüber oft sehr rücksichtslos benahm. Sie selbst habe einmal während einer Ausfahrt im offenen Wagen wegen einer Nichtigkeit einen festen Schlag mit dem langen Schirm ihrer Herrin abbekommen.
Als man dieselbe Hofdame bei einem kleinen Flirt - mehr war es wirklich nicht - mit einem der Leibgardisten ertappte, wurde sie ohne viel Federlesens aufs Land verbannt. Ein halbes Jahr wurde es ihr verwehrt, nach London zurückzukommen, während der Leibgardist ebenso lange den Unmut der Prinzessin auf höchst unangenehme Weise zu spüren bekam.
Das Schweigen zog sich in die Länge, und Lord Harlestons Verzweiflung wuchs. Er hatte die Hoffnung fast aufgegeben, daß es für ihn eine Rettung vor den drohenden Ehefesseln gäbe.
Robert trank langsam sein Glas leer.
»Ich habe eine Idee!« rief er unvermittelt aus.
»Ja, und?«
»Wenn du Dolly nicht heiraten willst, gibt es für dich nur einen Ausweg.«
»Und der wäre?« fragte Lord Harleston tonlos.
»Du mußt ins Ausland gehen.«
»Und wozu soll das gut sein?«
»Selby, überleg doch! Wenn du nicht hier bist, kannst du nicht heiraten. Gelingt es dir, dich für ein paar Monate abzusetzen, wird über die ganze Geschichte Gras wachsen. Wie du weißt, wird Dolly von Verehrern belagert. Ich möchte wetten, daß sie es vorzieht, sich in die Arme eines anderen zu flüchten, als allein zu bleiben, während du unerreichbar bist.«
Lord Harlestons Haltung verriet sein Interesse.
»Du hältst das für möglich?«
Die Frage war noch nicht ganz ausgesprochen, als er daran denken mußte, daß er in Dolly Derwent Leidenschaften geweckt hatte, die sie nie zuvor erlebt hatte. Seine Erfahrung sagte ihm, daß eine Frau ohne Liebe nicht leben konnte, hatte sie erst einmal die Freuden der Liebe gekostet.
Gleichzeitig aber wurde ihm bewußt, wie öde und langweilig sein Exil sich gestalten würde. Ihm würde das Derby entgehen, und er konnte seine Pferde nicht in Ascot laufen sehen.
Dann aber sagte er so entschlossen, als hätte er eine endgültige Entscheidung getroffen: »Alles ist einer Ehe vorzuziehen!«
»Sehr gut, damit wäre die Sache entschieden«, meinte Robert dazu. »Du wirst ins Ausland reisen.«
»Aber wohin? Paris ist zu nahegelegen. Außerdem würde der Prinz es als Beleidigung auffassen, wenn ich, anstatt seinem Wunsch zu entsprechen, nach Paris fahre, in eine Stadt, in der er sich selbst immer über die Maßen amüsiert.«
»Nein, nach Paris kannst du unmöglich«, sagte Robert. Sein Ton ließ erkennen, wie wenig er von den Überlegungen des Freundes hielt. »Laß mich nachdenken . . .« Stöhnend faßte er sich an die Stirn. »Mein Kopf fühlt sich an, als sei er aus Watte!«
»Dann trink noch einen Brandy.«
»Ja, sofort... ich überlege.«
Wieder Schweigen. Dann gab Robert einen Laut von sich, der einem Aufschrei nahekam. »Ich hab’s! Jetzt weiß ich, wohin du dich flüchten kannst, Selby!«
»Wohin?«
»Nach Colorado.«
»Colorado?« Lord Harleston war fassungslos. Noch ehe Robert fortfahren konnte, stieß er hervor: »Schlägst du mir am Ende vor, ich solle dort nach Gold graben?«
»Aber nein, keineswegs! Davon besitzt du genug!« gab Robert zurück. »Hast du vergessen, daß du mir vor etwa einem Monat gesagt hast, du hättest eine ansehnliche Summe in die Prarie Cattle Company investiert?«
»Ja, sicher.«
»Damals fand ich das eher amüsant«, fuhr Robert fort, »da ich von Investitionen in dieser Richtung noch nie etwas gehört hatte. Bei White’s hat dich dieser Bursche - an den Namen kann ich mich nicht erinnern - dazu überredet. Er sagte, es stünde britisches Kapital hinter dem Unternehmen, das über 50.000 Stück Vieh und zwei Millionen Morgen Land in Colorado besitzt.«
»Ja, natürlich, jetzt fällt es mir wieder ein! Mir erschien diese Möglichkeit damals sehr interessant, eine Abwechslung im Vergleich zu den Anlagen in Eisenbahnen und Schifffahrt.«
»Das wär’s also«, schloß Robert. »Es kann nie schaden, wenn man das Unternehmen genauer unter die Lupe nimmt, in das man investiert.«
»Du schlägst also allen Ernstes vor, ich solle nach Colorado gehen?«
»Die andere Möglichkeit brauche ich wohl nicht anzuführen.«
Lord Harleston sagte zunächst nichts. Dann stieß er ein kurzes Lachen aus, das nicht gerade humorvoll klang.
»Sehr schön. In der Not frißt der Teufel Fliegen, heißt es nicht umsonst. Ich werde also nach Colorado reisen.«