Die Zähmung der wilden Lorinda

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Die Zähmung der wilden Lorinda
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Die Zähmung der Wilden Lorinda

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2015

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1 ~ 1794

Der Mann mit der grünen Maske schaute in den Ballsaal, in das bunte Treiben und den Glanz, der sich unter den kristallenen Kronleuchtern entfaltete.

Der Ball stand unter dem Motto: ,Jede Maske, jedes Kostüm ist willkommen!’ Daran hatten sich die Gäste gehalten. So waren die unvermeidlichen Cleopatras in großer Zahl erschienen und fast ebenso viele Hofnarren, auch war nicht zu übersehen, daß die Haartrachten und Halskrausen des elisabethanischen Zeitalters vorherrschten.

Der Mann, der erstaunt die tanzenden Paare betrachtete, sagte zu seinem Freund, der neben ihm stand: „Ich hatte gedacht, daß du mich zu einem exklusiven Ball bringen würdest.“

„Eine bessere Gesellschaft als diese wirst du in London nicht finden.“

„Dies hier ist also keine Halbwelt?“

„Bestimmt nicht. Das sind die tonangebenden Leute Londons. Damen aus den besten Familien des Landes und des Adels.“

„Ich kann es kaum glauben.“

Der Mann in der grünen Maske blickte nicht auf die gespitzten roten Lippen, die unter den Samtmasken sichtbar waren, und auch nicht in die Augen, die durch die Sehschlitze hindurch funkelten. Sein Blick war auf die rosigen Brüste gerichtet, die durch die durchsichtigen Schleier, die die Damen sich um ihre Körper geschlungen hatten, ebenso deutlich erkennbar waren wie die Kurven ihrer schlanken Hüften und ihrer nackten Beine.

„Ich bin also wirklich in England?“ fragte er.

Sein Freund lachte.

„Du bist einfach zu lange fort gewesen. Vieles hat sich verändert, und das meiste, wie du bald feststellen wirst, nicht zum Besten.“

„Als ich damals ins Ausland ging“, sagte der Mann mit der grünen Maske, „waren die Frauen freundlich, gehorsam und voller Respekt gegenüber ihren Ehemännern.“

„Das ist nicht mehr gefragt“, informierte ihn sein Freund. „Heute sind Frauen nicht mehr zart und schwächlich. Sie interessieren und beteiligen sich an Pferde- und Wagenrennen, sie nehmen an Wettschießen teil und spielen Cricket gegen andere Damenmannschaften. Die königlichen Prinzessinnen spielen sogar Fußball.“

„Guter Gott!“

„Sie halten sich dem Mann für ebenbürtig und zeigen das auch in ihrer äußeren Erscheinung.“

„Ja, ich habe bemerkt, daß der Puder verschwunden ist.“

„Und zwar für Männer und Frauen. Gott sei Dank. Wir können dem Prinzen of Wales gar nicht genügend dankbar sein, daß er das natürliche Wasser zum Waschen eingeführt hat.“

„Der Wegfall der Schminke ist sicher eine große Erleichterung für die Männer, aber was die Frauen betrifft, so hatte ich bei ihnen doch manches ganz gern gesehen“, sagte der Mann mit der grünen Maske.

„Zur Zeit ist die siegreiche Frisur in Mode“, erzählte sein Freund lachend. „Sie kommt aus Paris. Vorbei ist es mit den hohen, kunstvollen Gebilden von damals, jetzt haben wir Windstoß-Locken, die sorgfältig zerzaust werden, und um die revolutionäre Illusion perfekt zu machen, trägt man um den Hals ein rotes Band.“

„Ich bin der Meinung, daß das angesichts der Leiden, die die Guillotine anrichtet, ein Zeichen äußerst schlechten Geschmacks ist“, bemerkte der Mann mit der grünen Maske.

„Mein lieber Freund, Vieles von dem, was wir tun, entspricht einem schlechten Geschmack, aber wir alle tun es weiter.“ Er sah seinen Freund mit einem verschwörerischen Lächeln an und fuhr fort: „Viele Kleider, die im Carlton House getragen werden, lassen die Brüste praktisch völlig frei, oder sie werden mit einem so feinen Material drapiert, daß nichts mehr für die Phantasie übrig bleibt.“

Der Mann mit der Maske antwortete nicht, sondern beobachtete die Tänzer auf dem Parkett. Er sah, daß der Tanz wilder wurde und die Bewegungen ausgelassener.

„Du wirst mich sicher für altmodisch halten ...“, begann er, aber seine Stimme brach ab.

Durch die hohen französischen Fenster, die zum Garten führten, und die wegen der heißen Juninacht geöffnet waren, kam plötzlich unerwartet ein schwarzes Pferd herein. Es wurde von einer Frau geritten, die auf den ersten Blick vollständig nackt erschien und nur bedeckt war von ihren langen, rotgoldenen Haaren, die bis über ihre Taille fielen.

Bei näherem Hinsehen entdeckte man, daß der Sattel auf dem sie saß, silberne Beschläge hatte und auf mexikanische Art hinten und vorne hochgewölbt war. Ihr Haar war so geschickt verteilt, daß nichts von ihrem Körper, außer ihren nackten Armen und Beinen, zu erkennen war. Sie ritt im Herrensitz, was sehr gewagt war. Um ihrer Verachtung jeglicher Verkleidung Ausdruck zu verleihen, trug sie keine Maske. Ihre großen, grünen Augen, die ihr ganzes Gesicht beherrschten, waren voller Übermut.

Der Mann in der grünen Maske fand seine Sprache wieder.

„Guter Gott, was ist das?“

„Das ist“, erklärte ihm sein Freund, „Lady Camborne, der größte Wildfang von allen.“

„Ist es möglich, daß sie einer ehrbaren Familie entstammt?“

„Ihr Vater ist der Earl of Camborne und Cardis.“

„Wenn er nur etwas Vernunft hätte, würde er seiner Tochter eine Tracht Prügel verabreichen und sie nach Hause bringen.“

„Es ist unwahrscheinlich, daß er sie sieht, da er seine Augen nicht vom Spieltisch hochhebt.“

„Er ist ein Spieler?“

„Ja, sogar ohne Aussicht auf Heilung.“

„Das Mädchen, wie alt ist es?“

„Lady Lorinda ist zwanzig, glaube ich. Seit zwei Jahren ist sie eine gefeierte Schönheit auf allen Festen im St. James Palast.“

„Wird sie wirklich bewundert?“

„Du bist zu kritisch, sie mag sich vielleicht etwas tadelnswert benehmen, und ich will nicht verheimlichen, daß sie dem Klatsch unermüdlich neue Nahrung liefert, aber sie ist doch von außergewöhnlicher Schönheit.“

Der Mann mit der grünen Maske sagte nichts, er beobachtete Lady Lorinda, die jetzt mit ihrem schwarzen Pferd eine Runde durch den Ballsaal ritt.

Die Tänzer hatten aufgehört zu tanzen, um ihr zu applaudieren. Die Männer riefen ihr witzige Bemerkungen zu und bewarfen sie mit Blumen.

„Die Wetten im Whitehall-Viertel standen dagegen, daß sie nackt erscheinen würde“, erzählte sein Freund.

„Nun, sie hat nicht nur ihre Wette gewonnen, sondern es werden auch noch an anderen Stellen größere Geldsummen den Besitzer wechseln, wie schon so oft, wenn sie an einem Streich beteiligt war.“

Nachdem Lady Lorinda zweimal eine Runde geritten hatte, empfing sie würdevoll den Applaus der Menge und verschwand dann so plötzlich wie sie erschienen war durch die Fenster in den Garten.

„Ist das alles, was wir von ihr zu sehen bekommen?“ fragte der Mann mit der Maske.

„Du lieber Himmel, nein! Die Lady wird bald in einem Phantasiekostüm erscheinen, und zwar kaum in einem, das sie unkenntlich macht. Sie wird eine der Letzten sein, die nach Hause aufbrechen.“

„Dann gefällt ihr diese Art des Vergnügens also?“ fragte der Mann mit der Maske mit zorniger Stimme.

„Augenscheinlich. Auf diese Art verbringt sie ihr Leben. Jede Nacht ein anderes Fest. Wilde Ausflüge nach Vauxhall oder auch weniger aufregende nächtliche Vergnügungen. Und wo immer sie erscheint, hinterläßt sie einen ganzen Schweif gebrochener Herzen. Viele Geschichten kursieren über Lady Lorinda - die neueste ist die über sie und den Marquis of Queensbury ...“

„Du lieber Himmel, ist der alte Bock noch immer dabei?“ unterbrach ihn der Mann mit der Maske.

„Der wird wohl nur durch den Tod von seiner Lüsternheit geheilt werden. So bildete er sich ein, in der Rolle des Paris den goldenen Apfel mit der Inschrift ,der Schönsten’ verteilen zu müssen.“

„Wenn ich mich recht entsinne, haben sich drei Göttinnen um den Apfel gestritten.“

„Das stimmt.“

„Und die waren nackt.“

„Natürlich“, erwiderte sein Freund, „und eine von den dreien war Lady Lorinda, so wurde mir erzählt.“

„Und in eine solche Frau können Männer sich verlieben?“

„Aber sicher tun sie das. Und eines muß ich zu Lady Lorindas Verteidigung sagen. Sie hat Mut und Persönlichkeit, was man bei vielen ihrer Geschlechtsgenossinnen vermißt. Keiner kann ihr gegenüber gleichgültig bleiben.“

„Oder sie etwa übersehen“, vervollständigte der Mann mit der Maske ironisch.

„Ich glaube, ich muß euch bekanntmachen“, meinte sein Freund lächelnd. „Vielleicht würde es der Lady guttun, einen Mann zu treffen, der nicht von ihrer Schönheit plattgewalzt wurde und der es nicht zuläßt, sich von ihren hübschen Füßen zertrampeln zu lassen.“ Nach einer kürzen Pause fügte er hinzu: „Wie ich sehe, ist der Prinz of Wales inzwischen eingetroffen. Komm, ich will dich vorstellen. Ich weiß, daß er sich sehr gerne von dir über einen anderen Teil der Welt berichten lassen wird.“

Nachdem er an der königlichen Tafel gespeist hatte, verließ der Mann mit der Maske den Speisesaal und schlenderte wieder zum Ballsaal. Da es dort aber sehr heiß war, ging er in den Garten. Die Zweige der großen Bäume wurden von einer leichten Brise bewegt, von den Blumenbeeten stieg der Duft der nächtlichen frischen Pflanzen auf, und vom Himmel leuchtete der schimmernde Glanz der Sterne. Er zog mit einem tiefen Atemzug die Luft ein und stellte fest, wie kühl sie war, gemessen an der stickigen Hitze in Indien.

Er blickte nachdenklich in den Sternenhimmel und hörte plötzlich in der Nähe eine Männerstimme sagen: „Lorinda, ich bitte Sie, hören Sie mich an. Ich liebe Sie. Heiraten Sie mich, oder ich schwöre Ihnen, ich bringe mich um.“

 

Der Mann mit der grünen Maske bemerkte, daß aus der Stimme unüberhörbar eine tiefe Seelenqual sprach.

„Heiraten Sie mich, Lorinda, und machen Sie mich zum glücklichsten Mann der Welt.“

„Ist das jetzt das zehnte oder elfte Mal, daß ich Ihren Antrag ablehne, Edward?“

Der Mann mit der Maske stellte lest, daß die beiden Personen vor der Hecke standen, hinter der er stand. Er konnte wegen der Dunkelheit zwar nichts erkennen, er stellte sich aber vor, daß sie auf einer Bank mit dem Rücken zur Hecke saßen, und er nur einige Zentimeter von ihnen entfernt war.

„Ich habe Sie schon oft gebeten und tue es auch heute wieder: Heiraten Sie mich!“

„Und jedes Mal habe ich nein gesagt. Wirklich, Edward, Sie beginnen mich zu langweilen. Ich möchte jetzt zurück in den Ballsaal gehen.“

„Verlassen Sie mich nicht, Lorinda. Bleiben Sie hier. Ich werde Sie nicht langweilen, ich werde alles tun was Sie wollen, alles, wenn Sie mir nur ein bißchen Beachtung schenken würden.“

„Warum sollte ich? Wenn ich einen Schoßhund brauche, kaufe ich mir einen.“ Die Stimme klang ärgerlich, schnell folgten die Worte: „Wenn Sie mich berühren sollten, spreche ich kein Wort mehr mit Ihnen.“

„Lorinda! Lorinda!“

Der Ausruf war voller Verzweiflung. Dann war das Geräusch schnell sich entfernender Absätze auf dem gefliesten Weg zu vernehmen und das Stöhnen des verlassenen Mannes.

Auch der Mann mit der grünen Maske ging zurück zum Ballsaal. Ohne Schwierigkeiten gelang es ihm, Lady Lorinda zu erkennen, denn in dem Moment, in dem er durch die französischen Fenster in den Ballsaal trat, hörte er ihre fröhliche, von dem Ereignis im Garten völlig unberührte Stimme. Sie trug einen silbergesäumten und reich bestickten Kavaliersanzug mit Satinhosen und atemberaubenden, mit Bändern verzierten seidenen Kniestrümpfen, die ihre schmalen Fesseln zur Geltung brachten. Ihr rotgoldenes Haar war wie eine Perücke in Locken gelegt und von einem Hut mit Federn gekrönt.

Sie hatte nun zwar eine Maske auf, die aber nicht ihre kleine, gerade Nase, ihren schön geformten Mund und das stolze, energische Kinn verbergen konnte. Sie hielt ein Glas Wein in der Hand und prostete gemeinsam mit der heiteren Gruppe, in der sie sich befand, ihrem Gastgeber zu.

Der Mann mit der grünen Maske sah, wie der Gastgeber, ein dunkler, zynisch wirkender Mann in mittleren Jahren, zurück prostete, dabei aber seine Augen nur auf Lady Lorinda gerichtet hielt. Er ging auf sie zu.

„Kommen Sie mit mir in den Garten, ich muß mit Ihnen sprechen.“

„Ich komme gerade aus dem Garten“, antwortete Lady Lorinda gelangweilt. „Wenn Sie hoffen, mit mir flirten zu können, Ulrich, dann muß ich Sie warnen, ich bin nicht dazu aufgelegt.“

„Wie kommen Sie darauf, daß ich das beabsichtigt habe?“

„Weil Liebe das einzige ist, worüber Männer reden können“, erwiderte sie. „Gibt es denn überhaupt kein anderes Thema?“

„Nicht, wenn Männer mit Ihnen sprechen.“

„Liebe langweilt mich, sie ist etwas, woran ich überhaupt kein Interesse habe. Wenn Sie mich amüsieren wollen, dann sprechen Sie von etwas anderem.“

„Behaupten Sie noch immer, kein Herz zu haben?“

„Das behaupte ich nicht, ich bin froh darüber, daß es so ist. Aber lassen Sie uns in den Speisesaal gehen, ich bekomme Hunger.“

Sie schlenderten langsam fort, und der Mann mit der Maske blickte ihnen nach.

„Ich habe dir ja gesagt, daß sie wunderhübsch, aber unberechenbar ist“, sagte die Stimme seines Freundes, der neben ihn getreten war.

„Fällt ihr denn jeder zu Füßen und tut, was sie sagt?“ fragte der Mann mit der Maske.

„Ja, jeder gehorcht Lady Lorinda.“

„Und wenn einer es nicht tut?“

„Dann verstößt sie ihn aus ihrem Bekanntenkreis. Und eine solche Ächtung, so wurde mir erzählt, ist schlimmer als verbannt zu werden.“

Der Mann mit der Maske lachte.

„Ich habe das Gefühl, daß ihr alle, seit ich damals fortgegangen bin, euer Selbstwertgefühl verloren habt, oder sollte ich besser sagen, euren Sinn für Humor?“

Später in der Nacht, nachdem ein großer Teil der Gäste bereits das Fest verlassen hatte, und die erste zarte Dämmerung die Sterne am Morgenhimmel zu verdrängen begann, fuhren auch die beiden Freunde mit einer Kutsche durch das Portal auf die Hauptstraße zu. Ein Pferdeknecht saß hinten auf dem Sitz. Die Pferde waren von ausgesucht guter Qualität.

„Hast du dich gut amüsiert?“ fragte der Freund.

Sein Begleiter, der nun keine Maske mehr trug, antwortete: „Es war mehr eine Enthüllung. Ich hatte zwar gehofft, eine Abwechslung zu erleben, aber daß sie so weit gehen würde, hätte ich nicht gedacht.“

„Denkst du in diesem Zusammenhang an die Männer oder an die Frauen?“

„Nun, zunächst einmal war ich erstaunt über den Prinzen. Er ist fett geworden, seine munteren Zechkumpane fand ich alles andere als erheiternd.“

„Mit dieser Meinung stehst du nicht allein, und wie denkst du über die Frauen, bist du sehr bestürzt?“

Der Mann lachte auf und sagte: „Ich versichere dir, daß mich so schnell nichts bestürzen kann. Aber es versetzt mich in Schrecken, wenn ich daran denke, daß diese unzüchtigen, verantwortungslosen Geschöpfe die Mütter der nächsten Generation sein werden.“

„Denkst du daran, etwas dagegen zu unternehmen?“

„Was glaubst du, was ich tun könnte?“

„Versuche Lady Lorinda zu bessern. Welch eine Herausforderung für einen Mann wie dich.“

„Das wäre möglich.“

„Wer hätte je eine Tigerin gezähmt? Ich wette jede Summe, daß das absolut unmöglich ist.“

Der Mann, der die grüne Maske getragen hatte, schwieg einen Moment und erwiderte dann: „Eintausend Pfund.“

„Ist das dein Ernst?“ fragte der Freund ungläubig. Dann lachte er.

„Die Wette gilt. Den Ausgang dieser wahrhaft heldenhaften Anstrengung möchte ich nicht versäumen, nicht für das Zehnfache der Summe.“

Sie waren bereits ein Stück gefahren, als er ausrief: „Da wir gerade von Tigerinnen in Menschengestalt sprechen, da vorne ist sie, direkt vor uns.“

Er deutete auf eine schwarze Reisekutsche, die den Hügel hinauffuhr und eben die ,Spanische Schenke’ passierte. An den Türen der Kutsche war das Wappen der Cambornes erkennbar.

Die Kutsche war nicht sonderlich auffallend, wäre nicht die Livree des Dieners und des Kutschers so außergewöhnlich gewesen. Anstatt der allgemein üblichen Livreefarben blau, grün oder weinrot, trugen Lady Lorindas Diener Weiß mit Silber abgesetzt.

Der Mann, der die Maske getragen hatte, betrachtete voller Erstaunen die Kutsche und die Diener. Er bemerkte, daß die Kutsche, als sie den Gipfel des Hügels erklommen hatte und langsam durch eine schmale Durchfahrt zwischen der ,Spanischen Schenke’ und dem Schlagbaum fuhr, abrupt stehenblieb.

„Was ist los?“ rief der Freund erschrocken aus.

Er hatte aber auch schon die Erklärung dafür.

„Guter Gott, Straßenräuber! Lady Lorinda soll ausgeraubt werden.“

Er benutzte die Peitsche und trieb seine Pferde an.

Plötzlich hörten sie den Knall eines Pistolenschusses und sahen, wie die Gestalt eines Mannes, der an der geöffneten Tür von Lady Lorindas Kutsche gestanden hatte, rückwärts in den Straßengraben fiel. Ein zweiter Mann, der neben ihm gestanden hatte, lief fort.

Bevor sich die Kutsche der Freunde genähert hatte, fuhr Lady Lorinda in schnellem Tempo davon. Die Freunde hielten neben dem Straßenräuber. Er lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen im Graben, eine Hand hielt noch immer die Pistole umfaßt.

Seine Maskierung war verrutscht und gab einen besonders abscheulichen, verbrecherischen Gesichtsausdruck frei. Die rote Blutspur auf seiner Brust ließ keinen Zweifel aufkommen.

Der Kutscher war heruntergesprungen und rief: „Er ist tot, Mylord!“

Der Freund gab das Kommando zum Weiterfahren und sagte: „Dann haben wir hier weiter nichts zu tun.“

Sie fuhren schweigend weiter, bis der Mann, der die Maske getragen hatte, fragte: „War da noch jemand in der Kutsche, oder hat das Mädchen den Mann selbst erschossen?“

„Natürlich hat sie ihn selbst erschossen. Und das war nicht das erste Mal, daß sie schoß“, antwortete sein Freund. Als er fortfuhr, lachte er. „Hier hast du ein vollendetes Beispiel dafür, wie sich die jungen Mädchen heutzutage ihrer Haut zu wehren wissen. Ich hatte schon einige Male etwas darüber reden hören, wie Lady Lorinda mit Straßenräubern und Wegelagerern fertig wird. Nun habe ich es selbst gesehen. Es ist ganz einfach. Wenn ein Räuber die Tür ihrer Kutsche öffnet, zielt sie mit ihrer Pistole auf ihn und schießt ihn tot. Ihre Diener haben keinerlei Arbeit, sie zu beschützen.“

„Jetzt bin ich aber doch überrascht“, bemerkte sein Freund. „Zu meiner Zeit sind Frauen in solcher Lage in Schluchzen ausgebrochen und warteten auf den männlichen Arm, der sich schützend um sie legte.“

„Es gibt noch genügend von der anhänglichen Sorte, wenn es das ist, was du bevorzugst. Und dir mit deinem Reichtum werden sie besonders anhängen.“

Schweigend führen sie dann weiter über Hampstead Heath.

Lady Lorinda lag mit geschlossenen Augen im Fond ihrer Kutsche. Vorher jedoch hatte sie ihre Pistole erneut durchgeladen, erst dann gestattete sie sich eine Erholung von dem Schrecken.

Sie wußte, daß Hamstead Heath oft von Straßenräubern heimgesucht wurde. Sie waren ihr genauso zuwider wie die aufdringlichen Liebhaber.

Lord Edward Hinton war nur einer von ihren vielen Bewunderern, der ein Nein nicht als Antwort gelten lassen wollte. Während sie sich vergegenwärtigte, wie lästig er den ganzen Abend gewesen war, faßte sie den Entschluß, in Zukunft kein Fest mehr zu besuchen, auf dem auch Edward anwesend sein würde.

Ihr heutiger Gastgeber Lord Wroxford war auch nicht viel zurückhaltender, nur konnte er ihr wenigstens keine Heiratsanträge machen, denn er war bereits verheiratet, und wenn er sie verfolgte, so geschah das mit eindeutig unehrenhaften Absichten. Dies aber war, so fand Lorinda, leichter zu ertragen, weil sie Ulrich auslachen konnte, denn es war eher möglich über den Mond zu springen, als sich vorzustellen, daß sie seine Mätresse werden würde. Und trotzdem fuhr Ulrich in seinen Bemühungen um sie in entweder witziger, zynischer oder amüsanter Weise fort.

Leider war der Fall Edward schwieriger. Er hatte so oft damit gedroht, sich umzubringen, wenn sie ihn nicht heiratete, daß sie sich schon langweilte, bevor er den Mund öffnete. Und doch wäre er kein unpassender Ehemann, denn wenn sein Bruder weiterhin nur Töchter und keinen männlichen Erben bekam, hatte Edward die Chance, den Herzogstitel zu erben.

,Wenn ich vernünftig wäre, würde ich ihn heiraten’, sagte Lorinda zu sich selbst. ,Wie aber soll ich für den Rest meines Lebens dieses Jammern nach meiner Liebe ertragen?’

Ähnlich empfand sie auch anderen Männern gegenüber, die ihr nicht nur Reichtum, sondern auch eine hohe gesellschaftliche Stellung bieten konnten. ,Was will ich eigentlich?’ fragte sich Lorinda, während der Wagen den Hampstead Hügel hinter sich ließ. Hier war kaum noch mit Straßenräubern zu rechnen. Die junge Frau hatte die plötzliche Vision einer ununterbrochenen Kette von Bällen und Festen im immer gleichen liederlichen Kreis von Freunden, mit denen sie zur Zeit ständig unterwegs war. Einmal von London nach Brighton oder nach Newmarket zum Rennen, oder nach Bath zur Kur und zurück nach London zu einer neuen Runde ausgelassener Feste.

War das wirklich alles, was sie vom Leben erwartete und erhoffte? Ihr war klar, daß schon morgen all die Witwen und Matronen wieder schnatternd und klatschend über sie herfallen würden wegen ihres nackten Erscheinens als Lady Godiva.

Lord Barrymore, einer der ausschweifend lebenden Peers, hatte gewettet, daß sie das nicht wagen würde. Und das gerade hatte sie zu dem Ritt veranlaßt.

„Ich kann alles machen, was ich will!“ sagte sie laut.

Und sie dachte daran, wie die ganze Geschichte dem König und der Königin in Windsor Castle zugetragen, und ein weiteres Mal auf das schlechte Beispiel und böse Vorbild des Prinz of Wales geschoben werden würde.

,Ach, das ist mir alles egal!’sagte sich Lorinda. Sie sah erleichtert, daß die Fahrt beendet war, denn die Kutsche fuhr gerade vor das Portal von Camborne House vor.

Es war ein großes, unbequemes und ziemlich häßliches Herrenhaus, das vom 7. Earl of Camborne, dem Großvater Lorindas, erbaut worden war. Sie hatte mit einigen Neuerungen das finstere Aussehen des Gebäudes vergessen gemacht. Als der Diener in seiner weißsilbernen Livree die Tür öffnete, stellte sie fest, daß doch alles viel freundlicher wirkte als zu der Zeit, als sie noch ein Kind gewesen war.

 

„Ist seine Lordschaft zu Hause, Thomas?“ fragte sie.

„Ja, Mylady. Seine Lordschaft ist vor einer halben Stunde nach Hause gekommen und ist in der Bibliothek.“

„Danke, Thomas.“

Sie warf ihren Umhang auf einen Stuhl und schenkte dem entsetzten Blick, mit dem der Diener ihren männlichen Aufzug betrachtete, keine Beachtung. Sie öffnete die Tür zur Bibliothek.

Ihr Vater saß am Schreibtisch in der Mitte des Raumes und lud eine Duellpistole. Als seine Tochter hereinkam, blickte er erstaunt auf. Der Earl of Camborne und Cardis war ein gutaussehender Mann mit grauen Schläfen und der fahlen Gesichtsfarbe eines Menschen, der zu wenig frische Luft bekommt. In den Spielkasinos war es stets schwül und stickig.

Er legte die Pistole mit einer auffallend schnellen Bewegung auf den Tisch und sagte: „Ich habe dich nicht so früh zurück erwartet, Lorinda.“

„Was ist passiert, Papa? Erzähle mir jetzt bitte nicht, daß du die Absicht hast, dich zu duellieren.“

Da ihr Vater nicht antwortete, ging sie zu seinem Schreibtisch und sah ihn an.

„Was ist, Papa?“

Es schien, als wollte der Earl ihr die Antwort verweigern, aber dann warf er sich in seinen Stuhl zurück und sagte trotzig: „Ich wollte mich gerade erschießen.“

„Papa, das kann nicht dein Ernst sein!“

„Ich habe alles verloren, was wir besitzen.“

Lorinda erwiderte nichts. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und sagte: „Erzähle mir genau, was passiert ist.“

„Ich habe mit Charles Fox gespielt“, antwortete der Earl.

Lorindas Lippen wurden schmal, denn sie wußte zu gut, daß Charles James Fox der gefährlichste Gegner war, den ihr Vater hätte wählen können. Er war ein nationaler Politiker von enormer Beredsamkeit, dickbäuchig, unordentlich, mit einem Doppelkinn, schwarzen struppigen Augenbrauen und einem außergewöhnlichen Charme. Da der König ihn verabscheute, war er ein naher Freund des Prinz of Wales geworden, der ihn nicht mehr missen mochte. Er war der Sohn eines überaus reichen Vaters und hatte seine Leidenschaft für das Spiel entdeckt. Er und sein Bruder hatten einmal an einem Abend 32 000 Pfund verloren.

Lorinda dachte bitter, daß eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen Charles Fox einmal gewann, ausgerechnet zu Lasten ihres Vaters gehen mußte. Die nächsten Worte des Earls bestätigten ihre Gedanken.

„Ich hatte eine Gewinnsträhne. Eine große Summe war bereits in meinem Besitz. Da wendete sich das Glück und war plötzlich auf der Seite von Charles Fox. Ich dachte, das kann nicht anhalten. Als ich aber einige Zeit später den Tisch verließ, war mir nichts mehr verblieben, was ich hätte setzen können.“

Es entstand eine Pause. Dann fragte Lorinda mit fester Stimme: „Wie viel hast du verloren?“

„100 000 Pfund.“

Das war eine riesige Summe, und doch war sie für viele der reichen Spieler im exklusiven White’s Club durchaus noch zu bewältigen. Für sie aber bedeutete es eine Katastrophe.

Sie besaßen dieses Haus in London und ihren alten Familiensitz in Cornwall auf dem Land. Ihr Einkommen war klein, sie lebten stets über ihre Verhältnisse und in dem Glauben, daß eines Tages ein Glücksumstand eintreten werde. Lorinda hatte ihrem Vater jeden größeren Spielgewinn abgenommen, damit er ihn nicht wieder verspielen konnte. Niemals zuvor allerdings hatte sich ein Spielverlust einer ähnlich hohen Summe genähert.

„Für mich gibt es nur noch einen Ausweg“, sagte der Earl heiser, „und das ist, mich zu erschießen. Fox wird seinen Gewinn nicht fordern können, wenn ich nicht mehr auf der Welt bin.“

„Du weißt ebenso gut wie ich, Papa, daß es sich um Ehrenschulden handelt“, sagte Lorinda. „In einem solchen Falle müßte ich sie zahlen.“

„Ist das wirklich wahr?“

„Natürlich“, antwortete sie. „Wenn du mich mit diesem Schuldenberg zurückläßt, wäre das äußerst schäbig.“

Ihre Stimme war zornig geworden. Sie stand auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Die Sonne ging auf, ihre ersten Spuren verfingen sich oben an den Dachzinnen.

„Ich hatte gehofft“, sagte der Earl hinter ihr, „daß Fox, wenn ich tot wäre, die Schulden streichen würde und dies für dich ein Ausweg wäre.“

„Ein Ausweg für dich, nicht für mich“, erwiderte Lorinda ruhig „Aber was immer man den Cambornes nachsagen mag, Feiglinge sind sie nie gewesen.“

„Verdammt, ich verbiete dir, mich einen Feigling zu nennen“, sagte ihr Vater scharf.

„Ich kann mir nichts feigeres vorstellen, als wenn du dich auf meine Kosten davonschleichen würdest“.

Ihr Vater stieß die Pistole ungeduldig beiseite.

„Wenn du so darüber denkst, dann wird dir vielleicht ein anderer Ausweg einfallen?“

„Es gibt doch überhaupt nur einen einzigen Ausweg“, sagte sie und kam wieder auf den Schreibtisch zu.

„Ich sehe überhaupt keinen Ausweg“, meinte der Earl.

„Gut, dann will ich ihn dir nennen“, antwortete sie. „Wir werden dieses Haus mit allem Drum und Dran verkaufen, das wird eine ziemlich große Summe bringen. Danach ziehen wir uns nach Cornwall zurück.“

„Nach Cornwall?“

„Warum nicht? Zumindest so lange, bis wir das Haus dort verkauft haben, das heißt, falls wir jemanden finden, der es uns abkauft.“

Der Earl schlug so heftig mit der Faust auf die Schreibtischplatte, daß das Tintenfaß klapperte.

„Ich werde das Heim meiner Vorfahren, deren Stammbaum bis zu den Normannen zurückreicht, nicht verkaufen!“ rief er. „Dazu wird es nicht kommen, daß ein Camborne jemals soweit sinkt, das Geburtshaus seiner Ahnen zu verschleudern.“

Lorinda zuckte mit den Schultern.

„Es wird dir kaum etwas anderes übrig bleiben“, erwiderte sie. „Ich glaube nicht, daß dieses Haus hier mit allem, was es enthält und mit Mamas Juwelen, mehr als 50 000 Pfund bringen wird.“

Der Earl schlug sich die Hände vor die Augen.

„Oh Gott!“ brach es aus ihm heraus, „warum, zum Teufel, war ich ein solcher Narr?“

„Klagen werden dir jetzt wenig nutzen“, meinte Lorinda ungerührt. „Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, Papa. Und ich nehme an, daß ich mich um alles werde kümmern müssen. Du wirst Charles Fox um einen Zahlungsaufschub bitten müssen, denn innerhalb der üblichen zwei Wochen wirst du die ganzen 100 000 Pfund nicht zahlen können.“

„Muß ich neben meinen anderen Demütigungen vielleicht auch noch auf die Knie vor ihm fallen?“ fragte der Earl ärgerlich.

„Es ist alles deine Schuld“, sagte Lorinda.

Er blickte zu ihr hoch und sah in ihren grünen Augen einen Ausdruck, der ihn wütend ausrufen ließ: „Du lieber Himmel, du könntest mir schon etwas mehr Verständnis entgegenbringen! Hast du denn gar kein Gefühl für mich oder für irgendetwas?“

„Wenn du die Wahrheit wissen willst“, sagte Lorinda, „ich verachte dich.“

Sie machte eine Pause, ihr Vater sagte nichts, und sie fuhr fort: „Ich verachte dich, wie ich alle Männer verachte. Ihr seid alle gleich und so schwach wie Wasser im Bach, wenn es um die Erfüllung eurer Wünsche geht. Von einer Frau aber erwartet ihr, daß sie eure Dummheiten belächelt und über eure Vergehen in Tränen ausbricht. Nun, ich sage dir hiermit ganz klar, daß ich keines von beiden tun werde.“

Sie nahm die Pistole vom Schreibtisch und sagte in scharfem Ton: „Ich nehme das hier mit, denn ich traue dir nicht! Morgen werde ich mit den Vorbereitungen zu dem Verkauf des einzigen Ortes beginnen, der mir jemals so etwas wie ein Zuhause war. Ich hoffe, daß ich einen Liebhaberpreis erzielen kann für die Schätze, die unsere Vorfahren zusammengetragen haben, und für den Schmuck, der meiner Mutter so viel Freude gemacht hat.“

Sie ging auf die Tür zu, drehte sich dann noch einmal um und blickte ihren Vater an. Der Schein der Kerzen fiel schimmernd auf ihr rotes Haar.

„Wenn es dir zu viel Aufregung bereitet“, sagte sie geringschätzig, „würde ich dir empfehlen, sofort nach Cornwall aufzubrechen und zu versuchen, dort etwas Ordnung in die Ruine zu bringen, die uns noch verblieben ist.“