Buch lesen: «Die Mask der Liebe»
Die maske der Lieb
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2017
Copyright Cartland Promotions 1975
Gestaltung M-Y Books
Die maske der Liebe
„Ich habe keine Lust, den ganzen Abend hier herumzustehen. Du könntest wirklich einmal mit mir tanzen.“
Die Frauenstimme, die diese Worte sprach, klang ein wenig scharf, doch die Augen ihrer Besitzerin leuchteten vor Erregung unter der schwarzen Samtmaske. Sie konnte den Blick nicht von dem bunten Karnevalstreiben wenden, das auf dem Markus-Platz herrschte und ein wahres Kaleidoskop von Farben bildete.
„Dazu ist es zu voll und viel zu heiß“, entgegnete gelangweilt der Mann an ihrer Seite.
„Nachdem ich wochenlang die Einsamkeit auf einem schwankenden Schiff ertragen und nichts als graues, unruhiges Wasser gesehen habe, kann es für mich gar nicht genug Menschen geben“, beklagte sich seine Begleiterin.
Hinter seiner Maske trug der Marquis von Melford eine gleichgültige Miene zur Schau. Diesen Vorwurf hatte er schon zu oft gehört, um ihn noch ernst zu nehmen. Wieder einmal bedauerte er es, seine Geliebte so heftig bestürmt zu haben, ihn nach Venedig zu begleiten. Er hatte sich in der Hoffnung gewiegt, sie würde ihm während der langen, eintönigen Seereise die Langeweile vertreiben helfen, doch stattdessen war das Gegenteil eingetreten.
„Schau dir diesen Mann an“, rief Odette, die ihren Ärger über sein Benehmen sofort vergaß, als ihr Interesse anderweitig geweckt wurde.
Vom Campanile glitt ein Akrobat mit dem Kopf voraus an einem Seil herunter. Lauter Beifall rauschte auf, als er sicher den Boden erreichte. Überall gaben Schausteller Proben ihrer Kraft und Kunstfertigkeit, man wußte kaum, wohin man den Blick richten sollte.
Da bewegten sich Männer auf langen Stelzen, andere spielten wilde Bären, wieder andere ritten auf hölzernen Pferden oder hatten sich als Teufel mit Hörnern und einem langen Schwanz verkleidet. Dazwischen tanzten Harlekins mit hübschen Kolombinen, eine Zigeunerin las aus der Hand die Zukunft voraus, und Spitzenklöppler aus Chioggia zeigten ihre Kunst.
Die Menschen selbst bildeten ein Schauspiel für sich. In gestreiften und grellbunten Kleidern, mit spitzen Hüten und falschen Nasen liefen sie durcheinander, kreischten, lachten und riefen sich über die Menge hinweg laute Bemerkungen zu. Und der ganze Lärm wurde noch von der Musik übertönt. In der Mitte des Platzes drehten sich Hunderte von Venezianern und Venezianerinnen im Tanz.
Odette zog den Marquis am Arm.
„Laß uns tanzen“, rief sie. „Ich muß einfach dabei sein.“
„Dem steht nichts im Wege, schöne Dame“, mischte sich ein hinter ihnen stehender Mann ein.
Sekunden später wirbelte sie in seinen Armen davon und ließ den Marquis allein, den ihr Verschwinden nicht sonderlich bekümmerte.
Von seinen früheren Aufenthalten in Venedig her kannte er den Karneval bereits zur Genüge. Er wußte, daß er den Vorwand für eine Ausgelassenheit bildete, die keine Schranken der Moral und Sittlichkeit kannte.
Venedig, die Stadt der Liebe und des Vergnügens, ergab sich wie im Rausch der Frivolität. Es war unmöglich, in dieser Stadt ernsthaft zu sein, wo die helle und klare Luft den Kuppeln, Türmen und Palästen strahlenden Glanz verlieh.
Die Cafés auf der Piazza waren bis auf den letzten Platz mit fröhlichen Menschen gefüllt, die Wein tranken und sich angeregt unterhielten, während die Gondeln, deren Baldachine in den buntesten Farben leuchteten, über das grüne Wasser der Lagune glitten und in den Seitenkanälen verschwanden.
„Könnte ich vielleicht mit Ihnen sprechen, Mylord?“
Eine leise, kultivierte und etwas atemlos klingende Stimme ließ den Marquis aufhorchen. Neben ihm stand eine Frau. Sie trug eine Maske und einen kleinen Dreispitz, von dem ein Schleier bis auf die Schultern fiel. Ihre Lippen waren schön geschwungen und jugendlich.
„Es wird mir eine Ehre sein“, erwiderte er.
Da sie Englisch gesprochen hatte, bediente er sich derselben Sprache.
„Können wir uns irgendwo hinsetzen?“
„Selbstverständlich!“
Er bot der Fremden seinen Arm und führte sie durch die fröhliche Menge. Seine körperliche Größe erleichterte es ihm, ihr den Weg zu bahnen. Nach wenigen Minuten erreichten sie ein Café, das weniger überfüllt zu sein schien als die anderen.
Der Marquis wählte einen Tisch im Hintergrund, wo nur ein paar Gäste saßen, da die meisten möglichst nahe an der Piazza sein und den Trubel beobachten wollten.
Während die Unbekannte Platz nahm, winkte der Marquis einen Kellner heran.
„Möchten Sie ein Glas Wein, oder würden Sie Schokolade vorziehen?“ fragte er.
„Schokolade, bitte.“
Nachdem er bestellt hatte, wandte er sich seiner Begleiterin zu. Obwohl er von ihrem Gesicht nur wenig sehen konnte, gewann er den Eindruck, daß sie noch sehr jung war. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, daß ihre Augen hinter der schwarzen Maske ein wenig ängstlich blickten.
„Es mag Ihnen merkwürdig erscheinen, daß ich Sie einfach angesprochen habe, Mylord“, sagte sie, „aber ich konnte dem Wunsch nicht widerstehen, Sie über England auszufragen.“
Er warf ihr einen verblüfften Blick zu.
„Über England?“ wiederholte er, da er glaubte, nicht recht gehört zu haben.
„Ich habe Heimweh“, erklärte sie einfach.
Jetzt vermochte der Marquis seine Belustigung kaum zu verbergen. Er hätte nicht erwartet, von einer Engländerin, falls das ihre Nationalität war, ausgerechnet in Venedig solche Worte zu hören.
„Gefällt es Ihnen denn hier nicht?“ fragte er mit einer Handbewegung auf das bunte Treiben.
„Ich hasse es“, war die Antwort.
Der Marquis hob erstaunt die Augenbrauen, als sie auch schon schnell weitersprach.
„Aber ich möchte mit Ihnen nicht über meine Person sprechen. Mein Interesse gilt anderen Dingen. Blühen die Stiefmütterchen im Londoner Park noch so schön gelb? Gibt es immer noch edle Pferde im Hyde Park? Preisen die Straßenhändler immer noch so laut ihren frischen Lavendel an, den sie in großen Körben vom Land hereinbringen?“
Ein kleiner Schluchzer zeigte dem Marquis, wieviel das alles für sie bedeutete.
„Würden Sie mir Ihren Namen sagen?“ bat er unvermittelt. „Nicht den vollständigen natürlich“, fügte er hinzu, als sie sichtbar zusammenzuckte. „Mir ist wohl bewußt, daß jedermann zur Karnevalszeit anonym bleiben möchte. Sie wissen immerhin von mir, daß ich Engländer bin.“
„Ich habe Sie gestern auf dem Canale Grande in einer Gondel gesehen und jemand hat mir gesagt, wer Sie sind.“
„Dann müssen Sie selbst zugeben, daß Sie mir gegenüber einigermaßen im Vorteil sind“, sagte er scherzend.
„Sie haben recht, deshalb will ich Ihnen verraten, daß ich Caterina heiße.“
„Ein berühmter venezianischer Name“, stellte er fest, „und doch sind Sie Engländerin?“
„Eine halbe“, verbesserte sie. „Mein Vater war Venezianer, ich selbst habe bisher aber in England gelebt. In Venedig bin ich erst seit drei Wochen.“
„Und deshalb haben Sie Heimweh.“
„Ich liebe England“, rief Caterina überschwenglich, „die Menschen, die Pferde, ja sogar das Wetter.“
Der Marquis lachte.
„Dann sind Sie aber reichlich voreingenommen. Venedig ist doch sehr schön.“
„Es ist wie ein Spielzeug“, erwiderte sie, „und die Einwohner sind wie Kinder, die vierundzwanzig Stunden am Tag nur Spiele spielen. Kein Mensch macht sich je die Mühe, ein ernsthaftes Wort von sich zu geben.“
„Warum wollen Sie denn in Ihrem Alter schon so ernsthaft sein?“ erkundigte er sich.
„Weil ich mich für Dinge interessiere, die die Venezianer entweder ignorieren oder von denen sie keine Ahnung haben.“
Sie seufzte tief und stützte das Kinn in die Hände, was dem Marquis Gelegenheit gab, ihre langen, schlanken Finger zu bewundern.
„Als ich noch in England lebte“, begann sie leise, „da haben die Menschen, die in unser Haus kamen, über Politik, Bücher und Theaterstücke, wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen gesprochen. Das alles war sehr interessant. Die Leute hier reden über nichts anderes als über die Liebe.“
Der verächtliche Ton in ihrer jungen Stimme belustigte den Marquis.
„Wenn Sie ein bißchen älter sind, werden Sie ohne Zweifel das Thema Liebe ebenso interessant und lebenswichtig finden wie die Mehrzahl Ihrer Geschlechtsgenossinnen“, sagte er.
Sein unverhüllter Sarkasmus veranlaßte Caterina, ihm das Gesicht zuzuwenden.
„Kann die Liebe denn das ganze Leben ausfüllen?“ fragte sie.
„Wenn man wirklich liebt, denke ich schon.“
Auch diesmal entging Caterina der zynische Unterton in seiner Stimme nicht.
„Sie haben übrigens meine Fragen nicht beantwortet“, erinnerte sie ihn nach einer Weile.
„In Bezug auf die Stiefmütterchen? Als ich abreiste, bildeten sie um mein Haus auf dem Lande einen goldenen Teppich, und auch in London habe ich überall die kleinen gelben Blüten gesehen, in den Gärten am Berkeley Square, im St. James Park und in den großen Körben, in denen sie auf den Straßen feilgeboten wurden.“
„So habe ich es mir vorgestellt“, sagte sie verträumt. „Außerdem blüht der weiße und lila Flieder, und von den Mandelbäumen wehen rosa Blütenblätter ins Gras.“
Sie seufzte.
„Ob ich die grünen Wiesen wohl jemals wiedersehen werde?“
„Es dürfte nur wenige Menschen geben, die die Kanäle, die Piazza, die blaue Lagune und den Sonnenschein Venedigs für den Nebel, den Regen und die durchdringende Londoner Kälte eintauschen würden“, erklärte der Marquis.
„Ich würde es ohne Zögern tun“, sagte sie schnell.
„Wie lange müssen Sie denn in Venedig bleiben?“
„Für immer“, erwiderte sie betrübt.
„Sie werden es lieben lernen“, prophezeite er. „Ein Wechsel in der Umgebung ist zuerst immer unangenehm. Wenn Sie sich erst eingewöhnt haben, wird das anders. Nächstes Jahr um diese Zeit werden Sie sich in den Karneval stürzen, und die Abenteuer genießen, die unweigerlich dazu gehören.“
Während er sprach, stellte er sich innerlich die Frage, wie ein so junges Geschöpf es fertiggebracht hatte, die in Venedig zur Karnevalszeit für ein Mädchen unvermeidliche Begleitperson abzuschütteln.
So streng auch die Sitten für junge Mädchen waren, so wenig galt dies für verheiratete Frauen. Sie genossen eine Freiheit, die man sonst nirgendwo in Europa fand. In ihre Dominomäntel gehüllt, konnten sie maskiert überall hingehen und mit jedem sprechen, der ihnen gefiel. Der Klatsch blühte allenthalben und die Luft schwirrte von Gerüchten über die skandalösesten Abenteuer, die sich in den Cafés, in den Gondeln auf der Lagune, ja selbst in den Kirchen abspielten. Alle Schranken der Moral und Sittlichkeit fielen. Ob reich oder arm, ob Gauner oder Polizist, spielte keine Rolle. Es gab weder Gesetze, noch Männer, die sie vertraten. König Karneval regierte, und wer wollte sich gegen seine aufregende und unwiderstehliche Herrschaft auflehnen?
„Wie lange werden Sie sich hier noch aufhalten?“ fragte Caterina.
„Nicht mehr lange.“
„Dann liegt Ihnen also der Karneval auch nicht?“
„Das ist eine durch nichts gerechtfertigte Behauptung Ihrerseits“, erwiderte er kühl. „Ich finde Venedig sehr interessant, nur bin ich nicht in der richtigen Stimmung für allzu viel Frivolität.“
„Wenn Sie nach England zurückkehren, werden Ihre Freunde Sie mit offenen Armen willkommen heißen, und es wird unendlich viele Themen geben, die sie mit Ihnen diskutieren wollen.“
„Woher nehmen Sie eigentlich die Sicherheit, daß ich nicht nur ein Dilettant, ein Spieler oder einer dieser leichtlebigen Playboys bin, die Sie so offensichtlich verabscheuen?“ fragte er.
„Als man mir gestern sagte, wer Sie sind, erfuhr ich auch, daß man Sie für sehr klug hält, und daß Sie in einer wichtigen Mission in Venedig sind, um mit dem Rat der Zehn zu sprechen.“
Der Marquis war plötzlich ganz ruhig. Er musterte Caterina neugierig. Das hatte er nicht zu hören erwartet und schon gar von einem Mädchen.
Es verhielt sich tatsächlich so, wie sie sagte. Allerdings war er bisher der Meinung gewesen, daß niemand über den Zweck seiner Reise Bescheid wußte. Der englische Premierminister, William Pitt, hatte ihn nach Venedig geschickt, um mit der Signoria eine Angelegenheit von höchster politischer Bedeutung zu besprechen.
Bedauerlicherweise war er erst nach Beginn des Karnevals eingetroffen und nicht, wie beabsichtigt, eine Woche früher. Ein Sturm im Golf von Biscaya hatte seine Reise verzögert, und in Malta hatten ihn ein paar dringend notwendige Reparaturen an seiner Jacht zusätzlich aufgehalten. Es war ihm bisher gar nicht in den Sinn gekommen, daß irgend jemand, der nicht zu den Regierungskreisen gehörte, sich darüber im Klaren war, daß sein Besuch nicht nur Vergnügungszwecken diente.
Seine Verblüffung malte sich so deutlich auf seinem Gesicht, daß Caterina nervös wurde.
„Vielleicht hätte ich das nicht erwähnen dürfen“, sagte sie. „Ist der Grund Ihres Besuches geheim?“
„In diesem Glauben habe ich mich bisher gewiegt.“
„Dann verspreche ich Ihnen, mit niemand darüber zu reden“, beeilte sie sich zu versichern. „Sie brauchen keine Angst zu haben, daß ich Ihnen Schwierigkeiten mache.“
„Es ist unwahrscheinlich, daß Sie dazu Gelegenheit haben werden“, meinte er. „Trotzdem würde ich es begrüßen, wenn Sie die Geschichte für sich behielten.“
„Ich werde über Ihre Angelegenheit den Mund halten. Es war ohnehin nicht recht von mir, den Karneval zu besuchen, aber ich wollte so gern mit Ihnen sprechen.“
„Sie sind doch nicht etwa ohne Begleitung gekommen?“ fragte er.
„Natürlich nicht“, erwiderte sie. „Meine Zofe wartet in einer Gondel unter der ersten Brücke hinter der Piazza auf mich.“
„Es dürfte wohl besser sein, wenn ich Sie zu ihr zurückbringe.“
„Muß ich wirklich schon gehen?“ fragte Caterina enttäuscht. „Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wieviel es für mich bedeutet hat, Ihrer Stimme zu lauschen, Ihr Englisch zu hören und zu wissen, daß Sie von zu Hause kommen.“
Das letzte Wort war von einem kleinen Schluchzer begleitet.
„Bedeutet Ihnen England tatsächlich so viel, Caterina?“
„Glück, Sicherheit, Heimat, wie immer Sie es nennen wollen. Unter den Venezianern bin ich eine Fremde unter Fremden, ich gehöre nicht zu ihrem Leben, teile nicht ihre Interessen und kümmere mich nicht um das, was sie für wichtig halten.“
„Das wird schon noch besser werden“, sagte er tröstend.
„Ich wünschte, ich könnte Ihnen glauben, Mylord. Aber ich habe nicht die Absicht, Sie mit meinen Schwierigkeiten zu belasten. Stattdessen müssen Sie mir erzählen, ob der Prinz von Wales im Carlton House immer noch seine extravaganten Feste gibt.“
„Seine Königliche Hoheit steckt nach wie vor bis zum Hals in Schulden“, erwiderte er.
„Und der König ist immer noch wütend auf ihn?“
„Er weigert sich jedenfalls, seine Schulden zu bezahlen.“
„Zerreißen sich die Leute immer noch den Mund über Mrs. Fitzherbert?“
„Aber natürlich. Haben Sie etwas anderes erwartet?“
„Das klingt alles so vertraut“, sagte sie seufzend. „Sagen Sie mir noch, welches Stück im Drury Lane Theater gegeben wurde, als Sie London verließen?“
Da beschrieb der Marquis die letzte Opernaufführung, der er beigewohnt hatte. Er erzählte von einer neuen Sängerin, die eine kleine Sensation hervorgerufen hatte. Dann kam er auf zwei Rappen zu sprechen, die er im Tattersall erworben hatte. Nach allgemeiner Ansicht hatte man im Hyde Park schon lange nicht mehr so hervorragende Pferde gesehen.
Caterina nahm wie eine Verdurstende jedes seiner Worte in sich auf. Ihre Lippen waren halb geöffnet. Unter der kostbaren Spitze ihres Mieders hob sich erregt ihr Busen. Ihre schmalen Finger waren so fest ineinander verschlungen, daß die Knöchel weiß hervortraten. Ihre Augen hinter der Maske hingen unverwandt an seinem Gesicht.
Nie zuvor im Leben war dem Marquis ein Mensch begegnet, der ihm so aufmerksam zugehört hatte. Er fühlte sich geschmeichelt, andererseits belustigte es ihn, daß seine Erzählungen sie so sehr faszinierten.
Als er das Glas Wein an die Lippen hob, entspannte sich Caterina sichtbar und stieß einen tiefen, fast ekstatisch klingenden Seufzer aus.
„Das war schön“, sagte sie leise. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich werde mich an jedes Ihrer Worte erinnern und mir alles genau ausmalen, was Sie mir beschrieben haben. Das wird mir helfen, mein Schicksal zu ertragen, das ohnehin nicht zu ändern ist.“
Der Marquis konnte seine Neugier nur schlecht verbergen.
„Kann ich Ihnen helfen?“ erkundigte er sich, bereute seine Frage jedoch im nächsten Augenblick, da er sich ungern in irgend etwas verwickeln lassen wollte.
„Sie können nichts für mich tun, Mylord“, erwiderte Caterina. „Trotzdem weiß ich Ihre Freundlichkeit zu schätzen. Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht, möchte ich Sie bitten, mich zu dem Ort zu begleiten, wo meine Zofe auf mich wartet.“
„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte er.
Mit fortschreitendem Abend war der Trubel auf der Piazza immer turbulenter geworden. Die Masken spielten sich kreischend alle möglichen Schabernacks. Irgend jemand hatte einen lebenden Elefanten herangeführt. Weiße Konfetti wirbelten wie Schnee durch die Luft, und die Girlanden bunter Lampions, die von Säule zu Säule gespannt waren, leuchteten in allen Farben.
Die Tanzenden drehten sich immer schneller. Die Röcke der Frauen flogen, und die langen Dominomäntel enthüllten Kaskaden von Seiden- und Spitzenrüschen. Das Lachen wurde lauter und schriller und übertönte beinahe die Musik.
Der Marquis schob seine Hand unter Caterinas Arm und schob sie durch die Menschenmenge. Langsam entfernten sie sich aus dem von Kristall-Lampen beleuchteten Märchenland, um eine halbdunkle Straße zu betreten, die zum Kanal führte. Unter der angegebenen Brücke entdeckte er eine ganze Anzahl von Gondeln. Einige von ihnen, die offensichtlich reichen Familien gehörten, waren kunstvoll geschnitzt. Alle waren festlich geschmückt. Die Gondolieri trugen Seidenjacken, Kniehosen, lange Strümpfe, rote Schärpen und Kappen.
Caterina erwartete anscheinend nicht, daß er sie bis direkt zur Gondel begleitete. Sie blieb oben an der Treppe stehen, die hinunter zum Kanal führte.
Da der Marquis sie nicht in Verlegenheit bringen wollte, machte er nicht den Versuch, ihr seine Gesellschaft länger aufzudrängen.
„Ich danke Ihnen“, sagte sie mit der scheuen, atemlosen Stimme, mit der sie ihn angesprochen hatte. „Nochmals vielen Dank, Mylord. Die Stunde mit Ihnen war eine der glücklichsten meines Lebens.“
„Es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen“, erwiderte er mit einer Verbeugung. „Darf ich Ihnen für die Zukunft alles Gute wünschen.“
In diesem Augenblick näherte sich eine Gruppe lärmender Menschen, und der Marquis zog Caterina von der Treppe weg in den Schatten eines nahe gelegenen Palazzos. Dort standen sie verborgen, bis die schreienden und jubelnden Masken, die jeden anrempelten, dem sie begegneten, sie passiert hatten.
„Jetzt sehen Sie wohl selbst ein, daß ein junges Mädchen sich nicht allein in den Karneval stürzen sollte“, sagte er ernst. „Sie dürfen nie wieder ohne Begleitung ausgehen.“
Sie blickte zu ihm hoch. Trotz der hereingebrochenen Dunkelheit sah er ihre feuchten Augen und die bebenden Lippen.
„Auf Wiedersehen, Caterina“, sagte er mit seiner tiefen, kultivierten Stimme.
Als sie keine Bewegung machte, legte er den Arm um ihre Schulter, hob mit der rechten Hand ihr Kinn und küßte sie. Ihr Mund war sehr weich, süß und unschuldig. Einen Augenblick hielt der Marquis sie umfangen. Er spürte eine nie zuvor gekannte Verzauberung. Noch nie war er einer Frau begegnet, deren Lippen so wehrlos und sanft wirkten. Dann gab er sie frei.
Sie blieb ruhig stehen und sah zu ihm in die Höhe. Dann drehte sie sich ohne ein Wort zu sagen auf dem Absatz um und rannte weg. Er sah ihr nach, wie sie die Treppe zum Kanal hinunterlief. Erst als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, wandte er sich um und ging langsam zum Markus-Platz zurück.
Der Lärm schlug beinahe über ihm zusammen. Nachdem er das Treiben einen Augenblick nachdenklich betrachtet hatte, drängte er sich durch die Menge bis zum Kanal, heuerte dort eine Gondel an und ließ sich zum Palazzo Tamiazzo bringen.
Während der Gondoliere sein schlankes Fahrzeug über den Canale Grande steuerte, sang er vor sich hin. Alle Gondolieri taten das zur Karnevalszeit, und wovon hätten sie anders singen sollen als von der Liebe.
Sein Ziel, ein eindrucksvoller Palast, lag nicht weit entfernt. Ein paar Diener stürzten herbei, um ihm aus der Gondel zu helfen. Sie trugen prächtige goldgeschmückte Livreen, die selbst in Venedig nicht alltäglich waren. Die Eingangshalle und die Korridore, durch die man ihn führte, hatten kaum ihresgleichen.
Zanetta Tamiazzo war die berühmteste Kurtisane Venedigs. Ihre Schönheit bezauberte die gesamte Männerwelt. In ihrer Gesellschaft gesehen zu werden, bedeutete eine Auszeichnung. Sie wurde hofiert und mit Geschenken überschüttet, die einer Prinzessin wohl angestanden hätten.
Sie hielt in einem großen Salon im ersten Stock ihres Palazzos Hof, wo sie ein halbes Dutzend Männer mit den bekanntesten Namen der Stadt um sich versammelt hatte. Als der Marquis gemeldet wurde, lief sie ihm mit ausgestreckten Händen entgegen.
„Mon cher“, begrüßte sie ihn, weil es in Venedig als schick galt, sich der französischen Sprache zu bedienen. „Ich habe schon von Ihrer Arbeit gehört. Welche Freude, Sie bei mir zu sehen!“
Der Marquis hob ihre weißen Hände an die Lippen.
„Ich hätte Sie schon früher besucht, wenn ich nicht durch Umstände aufgehalten worden wäre, die nicht in meiner Macht lagen.“
„Die Hauptsache ist, daß Sie überhaupt gekommen sind“, sagte Zanetta lächelnd. „Nichts hätte mich mehr erfreuen können.“
Sie stellte ihn den Anwesenden vor, deren zweifelnde Blicke deutlich zeigten, daß sie nicht recht wußten, ob sie ihn als ernsthaften Rivalen um ihre Gunst betrachten sollten oder nicht.
Der Marquis hatte Zanetta vor ein paar Jahren in Paris kennengelernt und sie mit nach London genommen. Dort hatte sie sich einige Zeit seiner Protektion erfreut, bis ihre eigene Unbeständigkeit sie weitergetrieben hatte. Sie hatte England verlassen und war in ihre Heimat zurückgekehrt.
„Sie sehen, wenn dies überhaupt möglich ist, noch besser aus und sind elegant wie eh und je“, versicherte sie nach einem Blick auf seine gut geschnittenen, fast klassischen Züge und sein dunkles Haar, das er nach der letzten Mode ungepudert und im Nacken mit einem schwarzen Band zusammengebunden trug.
„Sie schmeicheln mir“, erwiderte er. „Darf ich Sie daran erinnern, Zanetta, daß eigentlich ich derjenige bin, der Ihnen Komplimente machen sollte.“
„Von solchen Feinheiten verstehen die Engländer nichts“, warf einer der Herren ein.
„Da irren Sie sich“, erwiderte der Marquis. „Wir halten nur nichts von unwahren Komplimenten. Wenn wir aber welche aussprechen, kommen sie von Herzen. Zanetta, ich möchte Ihnen daher wahrheitsgemäß versichern, daß ich Sie für die schönste Frau Venedigs, wenn nicht Europas halte.“
Zanetta klatschte vor Entzücken in die Hände, während die anwesenden Venezianer ihre säuerlichen Mienen nicht verbergen konnten.
„Ich muß unbedingt mit Ihnen reden“, sagte sie zu dem Marquis. „Schließlich ist es drei Jahre her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Haben Sie jetzt ein bißchen Zeit für mich?“
„Eine Ewigkeit, wenn Sie es wünschen.“
Zanetta lachte, dann wandte sie sich ihren Gästen zu und streckte einem nach dem anderen die Hand entgegen.
„Sie müssen jetzt gehen, meine Freunde“, sagte sie. „Der Marquis ist ein Mann, für den ich in meinem Herzen einen ganz besonderen Platz reserviert habe. Und wenn ich nicht irre, dürfte er nicht lange in Venedig weilen. Sie werden daher verstehen, daß ich die Gelegenheit beim Schopfe packe, um ihm ein wenig seiner Zeit zu stehlen.“
Blicke unverhüllter Eifersucht trafen den Marquis. Den Herren blieb jedoch nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden.
Sie waren kaum verschwunden, als Zanetta ihre Diener anwies, Wein zu bringen und jeden Besucher mit der Begründung abzuweisen, sie sei nicht zu Hause. Dann nahm sie den Marquis an der Hand und zog ihn neben sich auf ein bequemes Sofa.
„Was hat Sie nach Venedig verschlagen?“ wollte sie wissen.
„Der Karneval, vor allem aber der Wunsch, Sie zu besuchen.“
„Ich werde diese Erklärung akzeptieren, obwohl ich natürlich weiß, daß sie nicht den Tatsachen entspricht. Als man mir von Ihrer Ankunft berichtet hat, ist mir die Tatsache nicht verborgen geblieben, daß Sie nicht allein hier sind.“
Als der Marquis sich dazu äußerte, fragte sie: „Sind Sie inzwischen verheiratet?“
„Aber nein“, wehrte er entsetzt ab. „Wie ich schon früher betont habe, werde ich diesen Fehler nicht so leicht begehen. Ich finde es weit amüsanter, ungebunden zu sein, und trage kein Verlangen nach dem Ehejoch.“
„Und Ihre Begleiterin?“
„Unwichtig. Ein Fehler, wie er manchmal unvermeidlich ist.“
Nach dieser Antwort verschwendeten weder Zanetta noch er einen Gedanken an Odette.
Sie unterhielten sich lange und angestrengt über vergangene Zeiten und die Gegenwart. Als das Dinner angekündigt wurde, zogen sie sich in ein kleines Boudoir zurück, wo ein Tisch für zwei Personen gedeckt war. Die brennenden Kerzen vertieften den Glanz in Zanettas schönen ausdrucksvollen Augen.
Sie war eine kluge und intelligente Frau, deren Einfühlungsvermögen und Verständnis die Männer unwiderstehlich anzog. Andererseits konnte kein Zweifel daran bestehen, daß sie sich jedes Mittels bediente, um einen Mann für sich zu gewinnen, der ihr Wohlgefallen erregte.
Als sie sich schließlich vom Tisch erhoben, nahm der Marquis Zanetta in die Arme. Ihr roter Mund lächelte verführerisch.
„Sie sind bezaubernd“, sagte er heiser.
„Und Sie haben Ihre Wirkung auf mich nicht verloren“, entgegnete sie.
Weiterer Worte bedurfte es nicht. Ein leidenschaftlicher Kuß genügte, und er wußte, daß Zanetta ihn immer noch mehr erregen konnte als jede andere Frau.
Als sie sich an ihn schmiegte, dachte er einen Augenblick lang an Caterinas weichen und unschuldigen Mund. Ich möchte jeden Eid darauf ablegen, daß ich der erste Mann bin, der sie geküßt hat, dachte er. Doch dann ließen Zanettas Arme um seinen Hals und ihre Schönheit ihn die Welt um sich vergessen.
„Guten Morgen, Caterina! Ich möchte mit dir sprechen.“
Caterina knickste vor ihrem Großvater, dann ging sie über den weichen Teppich des Salons zu einem kleinen Tisch am Fenster, wo er sein Frühstück einnahm.
Der Doge, Ludovico Manin, war immer noch ein gut aussehender Mann, und das Lächeln, mit dem er seine Enkelin bedachte, zeigte, daß er in seiner Jugend einen geradezu unwiderstehlichen Charme besessen haben mußte. Sein wichtigstes Amt - als Herrscher der Republik war er eine Art König - hinderte ihn nicht daran, ein Auge für schöne Frauen zu haben.
Er betrachtete daher nicht ohne Wohlgefallen seine Enkelin. Ihr blaßgrünes Kleid brachte ihr rotgoldenes Haar, das so typisch venezianisch war, besonders gut zur Geltung. Nicht ganz zu ihrer sonstigen Erscheinung paßten die blauen Augen, die einen auffallenden Kontrast zu ihrem Haar bildeten und in ihren Verwandten ständig die Erinnerung an ihr englisches Blut wachhielten.
„Ich muß dir etwas sagen, Caterina“, begann der Doge, wurde aber unterbrochen, weil sein Sohn Francesco in den Raum trat.
Wieder einmal wurde Caterina bewußt, wie sehr er ihrem verstorbenen Vater ähnelte. Sie konnte ihren jüngsten Onkel niemals ansehen, ohne im Herzen einen tiefen Schmerz zu empfinden. Er hauchte einen leichten Kuß auf ihre Wange, dann setzte er sich zu seinem Vater an den Tisch.
„Stimmt es, daß du für heute vormittag den Großen Rat einberufen hast, Papa?“
„Das habe ich“, erwiderte der Doge. „Und die Herren waren außerordentlich irritiert, daß sie sich von den Vergnügungen des Karnevals losreißen sollen, um erneut den Lektionen des Marquis von Melford zu lauschen, von denen ich allerdings auch zugeben muß, daß sie mich zu Tode langweilen und anöden.“
„Lektionen?“ rief Francesco. „Wer hat ihn dazu ermächtigt?“
„Vielleicht ist Lektion ein zu starkes Wort“, erwiderte der Doge lächelnd. „Es ist eigentlich mehr eine Warnung, wenn man seine Worte nicht sogar als Bitte auffassen könnte.“
„In welcher Beziehung?“ fragte Francesco neugierig.
„Anscheinend besitzt der britische Premierminister, Mr. Pitt, geheime Informationen, daß Frankreich Österreich den Krieg erklären will. Er befürchtet, daß unsere Unabhängigkeit in Gefahr ist, falls dies den Tatsachen entspricht. Ich persönlich finde den Gedanken absurd.“
„Natürlich ist er das“, stimmte Francesco zu. „Was sagt die Signoria dazu?“
Er bezog sich damit auf den Rat der Zehn, der in Venedig unter dem Dogen die Regierung bildete.
„Die Herren vertreten wie ich die Meinung, daß Mr. Pitt in Bezug auf Frankreichs Absichten unnötig alarmiert ist. Dort mag es vielleicht eine Revolution geben, die aber nicht notwendigerweise einen Krieg nach sich ziehen muß.“
„Natürlich nicht“, rief Francesco. „Und wenn diese Katastrophe eintreten sollte, könnte unsere Neutralität ein Vorteil für beide Seiten sein.“
„Genau dieses Argument habe ich dem Marquis gegenüber durchblicken lassen“, sagte der Doge.
„Du hättest hinzufügen sollen, daß es für uns außer Frage steht, uns in einem eventuellen Krieg einer der Parteien anzuschließen“, bemerkte Francesco.
Er erhob sich und durchquerte ruhelos den Raum, bevor er weitersprach.
„Es ist in der Tat demütigend, Vater. Wir waren eine Weltmacht, und unsere Flotte beherrschte die Meere. Schon der Name Venedig genügte, um die Vision des Sieges hervorzurufen.“
„Das war im 15. Jahrhundert“, sagte der Doge. „Seitdem haben wir vierzehn Inseln an den griechischen Archipel verloren. Dreißig Jahre später hat uns der Sultan Zypern weggenommen. Uns sind nur die Küsten Istriens und Dalmatiens geblieben.“ Nach einer Pause fügte er bitter hinzu: „Vor zehn Jahren konnte mein Vorgänger dem Großen Rat mitteilen: ,Wir besitzen weder Land- noch Seestreitkräfte, geschweige denn Verbündete’.“