Handorakel und Kunst der Weltklugheit

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[49]76 Nicht immer zu Scherzen aufgelegt sein. Bedachtsamkeit erkennt man am Ernst, der mehr gilt als das Geistreich-Sein. Wer immer scherzt, ist nie wirklich ein Mann. Wir stellen ihn den Lügnern gleich, weil wir beiden nicht trauen: dem einen nicht, weil uns Lügen misstrauisch, den anderen nicht, weil sie sich lustig machen. Nie weiß man, ob sie aus Vernunft sprechen, was darauf hinausläuft, keine Vernunft zu haben. Es gibt keine größere Taktlosigkeit als dauernde Freundlichkeit. Andere erwerben den Ruhm von Vielrednern und verlieren das Vertrauen der Klugen. Heiterkeit soll ihre Weile haben; alle andere Zeit der Ernst.

77 Sich allen anpassen können. Verborgene proteische Fähigkeit: Gelehrter unter Gelehrten, Heiliger unter Heiligen. So gewinnt man alle, weil die Ähnlichkeit Wohlwollen schafft. Die Gemüter beobachten und sich auf jedes einstellen; auf den Ernsten und auf den Heiteren eingehen, sich je nach Umgang verändern ist dringend für Leute in Abhängigkeit. Dieses große Feingefühl im Leben verlangt ein großes Talent; weniger schwierig für einen Mann, der vielseitig im Wissen und vielschichtig in den Geschmacksrichtungen ist.

78 Kunst des Tastens. Der Dumme fällt immer mit der Tür ins Haus, denn alle Dummen sind waghalsig. Dieselbe Einfalt, die sie zuerst daran hindert, an Vorkehrungen zu denken, nimmt ihnen später das Gefühl für Peinlichkeiten. Dagegen tritt die Weisheit tastend auf, Aufmerksamkeit und Zurückhaltung sind ihre Vorhut, damit sie ohne Gefahr [50]fortschreiten kann. Wer umsichtig sein will, darf keinesfalls vorpreschen, selbst wenn ihm das Glück einmal recht gibt. Es ist nötig, langsam zu gehen, wenn man große Tiefe befürchtet: dann wird sich der scharfe Blick nach vorne tasten und vorsichtig den Grund erobern. Heute gibt es große Untiefen im menschlichen Umgang: deshalb trifft es sich, immer ein Senkblei herabzulassen.

79 Anmutiges Gemüt. In Mäßigung ist es eine Gabe, kein Fehler: ein Korn von Witz gibt allem Würze. Die Großen spielen dieses anmutige Spiel, denn ihm kommt allgemeine Zuneigung entgegen; doch behält es immer die Miene der Klugheit im Auge und achtet auf den Anstand. Andere nutzen einen Witz als Abkürzung, um sich aus einer Verlegenheit zu befreien, denn es gibt Dinge, die man als Scherz auffassen muss – und manchmal sind es gerade die, welche der andere besonders ernst nimmt. Dies zeigt Umgänglichkeit, ist ein Angelhaken für Herzen.

80 Aufmerksamkeit beim Beschaffen von Auskünften. Man lebt vor allem von Auskunft, das wenigste sehen wir: wir leben vom Vertrauen zu anderen. Das Ohr ist die zweite Tür der Wahrheit, die erste der Lüge. Gewöhnlich sieht man die Wahrheit, in Ausnahmefällen hört man sie; selten kommt sie in ihrer reinen Substanz an, am wenigsten wenn sie von weit kommt; aufgrund der Gefühle, durch die sie geht, hat sie immer etwas Gemischtes; die Leidenschaft färbt alles, was sie berührt, mit ihren Farben, manchmal abscheulich, manchmal angenehm; sie will immer Eindruck [51]machen: zugunsten dessen, den sie lobt, und mehr noch zuungunsten dessen, den sie tadelt. Es bedarf in dieser Hinsicht der vollen Aufmerksamkeit, um die Absicht des Vermittlers zu entdecken und im Voraus zu wissen, mit welchem Fuß er sich bewegte. Die Überlegung soll der Kontrast zu dem sein, was fehlt und falsch ist.

81 Die Erneuerung seines Glanzes befördern. Das ist ein Vorrecht des Phönix. Exzellenz pflegt alt zu werden und mit ihr der Ruhm; Gewohnheit verringert Bewunderung, und das mittelmäßige Neue siegt über gealterte Exzellenz. Also soll man die Wiedergeburt in der Kraft, im Verstand, im Glück, in allem befördern; stattliche Neuheit betonen, wie die Sonne immer wieder neu aufgehen, die Bühnen des Glanzes wechseln, damit der Entzug auf der einen und die Neuheit auf der anderen hier Applaus und dort Verlangen herausfordern.

82 Nie das Schlechte oder das Gute ausschöpfen. Auf Mäßigung in allem führte ein Weiser die gesamte Weisheit zurück. Das höchste Recht wird Unrecht, und presst man die Apfelsine zu sehr aus, wird sie am Ende bitter: auch im Genuss soll man nie bis zum Äußersten gehen. Selbst der Geist wird erschöpft, wenn man ihn ausschöpft, und statt Milch bekommt Blut, wer rücksichtslos melkt.

[52]83 Sich ab und an ein lässliches Versehen erlauben. Eine Nachlässigkeit pflegt die größte Empfehlung der Fähigkeiten zu sein. Der Neid hält ein Scherbengericht ab, je ziviler der Fall desto strafrechtlicher die Form. Er klagt es dem Vollkommensten als Fehler an, keinen Fehler zu haben, und verurteilt das ganz und gar, weil es ganz vollkommen ist; mit Argusaugen findet er Fehler an dem, was sehr gut ist, eigentlich nur zum Trost. Wie der Blitz schlägt die Kritik bei den höchsten Erhebungen ein. Es darf selbst Homer einmal eindösen, und man soll ab und an Nachlässigkeit des Verstandes oder der Tapferkeit, aber nie der Klugheit vorgeben, um so die Missgunst abzuwiegeln, damit die nicht wie ein Gift platzt: dies wird sein, als ob man dem Stier des Neides das Tuch überwirft, um die Unsterblichkeit zu retten.

84 Die Feinde zu nutzen wissen. Alle Dinge muss man richtig zu nehmen wissen, nicht an der Klinge, mit der sie verletzen, sondern am Griff, mit dem sie verteidigen sollen; umso mehr gegenüber Widersachern. Der kluge Mann schlägt mehr Gewinn aus seinen Feinden als der unbedarfte aus seinen Freunden. Missgunst ebnet oft Berge der Schwierigkeit, die anzugehen Gunst nicht wagte. Für viele haben Leute, die ihnen missgünstig waren, ihre Größe aufgebaut. Mehr verletzt Schmeicheln als Hass, denn dieser heilt wirksam von den Flecken, die jenes verbirgt. Der Kluge macht die Abneigung zu einem Spiegel, der schärfer ist als die Zuneigung und der Nachrede seiner Fehler vorbeugt oder sie ausbessert; groß ist die Umsicht, wenn man an der Grenze von Konkurrenz, von Missgunst lebt.

[53]85 Nicht die Trumpfkarte sein. Es ist ein Nachteil alles Vortrefflichen, dass allzu viel Gebrauch zu Missbrauch wird; da es eben alle begehren, sind am Ende alle verärgert. Großes Unglück, zu nichts gut zu sein; kein geringeres, es für alles sein zu wollen; diese verlieren, weil sie viel gewinnen, und am Ende so sehr verabscheut werden, wie sie zuerst begehrt waren. Jede Art von Vollkommenheit nutzt sich wie eine Trumpfkarte ab, indem sie die anfängliche Wertschätzung des Seltenen verliert und die Verachtung des Gewöhnlichen erlangt. Die einzige Lösung für alles Hochbesondere ist, mit dem Glanz ein Maß einzuhalten: der Überschuss soll in der Vollkommenheit liegen, die Mäßigung im Zeigen. Je mehr eine Fackel leuchtet, desto mehr verbraucht sie sich und desto weniger dauert sie an. Sparsames Erscheinen belohnt sich mit Erfolgen bei der Wertschätzung.

86 Übler Nachrede vorbeugen. Der Pöbel hat viele Köpfe; und so auch viele Augen für die Missgunst und viele Zungen, um dem Ansehen zu schaden. Wenn sich in ihm eine schlechte Nachrede verbreitet, beeinträchtigt sie das größte Ansehen, und falls ein Name daraus wird, zerstört er das Ansehen für immer. Anlass ist gewöhnlich ein auffälliger Fehler, etwas Lächerliches, das leicht zum Gegenstand seiner Geschwätzigkeit wird, so wie es auch der gemeinen Missgunst von einzelnen Widersachern zugeworfene Makel gibt; denn es gibt Stimmen der Missgunst, die großes Ansehen schneller mit einem Witz als mit einer Entstellung zerstören. Leicht gelangt man in üblen Ruf, weil das Schlechte sehr glaubhaft und schwer zu löschen ist. Der kluge Mann soll sich deshalb solche Fehler ersparen und [54]seine Umsicht der Unverschämtheit des Pöbels entgegenstellen, einem Schaden vorbeugen ist leichter als ihn beheben.

87 Bildung und Form. Geboren wird der Mensch als Barbar, indem er sich bildet, erlöst er sich vom Zustand des Tiers. Personen erschafft die Bildung; und umso mehr je größer sie ist. In ihrem Namen konnte Griechenland den ganzen Rest des Universums barbarisch nennen. Sehr roh ist die Unwissenheit; nichts bildet mehr als das Wissen. Doch selbst das größte Wissen war plump, solange es keine Form hatte. Nicht nur das Verstehen braucht Form, auch das Wollen und mehr noch das Gespräch. Man findet Menschen, zu denen innere und äußere Schönheit als Form gehört, in Gedanken und Worten, im Aussehen ihres Körpers, das wie die Rinde, und in den Gaben ihrer Seele, die wie die Frucht sind. Andere gibt es im Gegensatz dazu, die so roh sind, dass sie all ihren Dingen, selbst den herausragenden, durch unerträglich barbarische Schlampigkeit den Glanz nehmen.

88 Anspruchsvoll soll das Verhalten sein, Erhabenheit zeigen. Der große Mann darf nicht kleinlich in seinem Vorgehen sein. Er soll nie viel auf Einzelheiten eingehen, am wenigsten auf unangenehme: denn, wenn es auch von Vorteil ist, nebenbei alles zu bemerken, ist es nicht gut, alles absichtlich wahrnehmen zu wollen. Man soll gewöhnlich mit einer edlen Allgemeinheit vorgehen, die zum vornehmen Anstand gehört. Führen ist zu einem großen Teil sich verstellen; man muss von den meisten Angelegenheiten [55]hinsichtlich seiner Verwandten, Freunde und vor allem Feinde absehen. Jede Kleinlichkeit ist ärgerlich und gelegentlich lästig. Immer wieder auf einen Ärger zurückkommen ist eine Art von Besessenheit. Und im Allgemeinen wird sich jeder so verhalten, wie es seinem Herzen und seiner Fähigkeit entspricht.

 

89 Kenntnis seiner selbst. Im Gemüt, im Verstand; im Urteilen, in den Gefühlen. Niemand kann Herr über sich sein, wenn er sich nicht zuerst kennt. Für das Gesicht gibt es Spiegel, für das Gemüt gibt es sie nicht: das konzentrierte Nachdenken über sich selbst soll der Spiegel sein. Und wenn man je sein äußeres Bild vergäße, soll man doch das innere erhalten, um es zu ändern und zu verbessern. Er soll für Unternehmungen seine Klugheit und seine Unterscheidungsfähigkeit kennenlernen; man prüfe für Kämpfe seinen Zorn; man soll für alles seinen Grund vermessen und sein Talent gewogen haben.

90 Kunst, lange zu leben: gut leben. Zwei Dinge bringen das Leben schnell zu Ende: die Dummheit und die Niedertracht. Manche verloren es, weil sie es nicht zu erhalten wussten; und andere, weil sie nicht wollten. So wie die Tugend sich selbst belohnt, so bestraft das Laster sich selbst. Wer intensiv im Laster lebt, stirbt schnell auf zweierlei Weise; wer intensiv in der Tugend lebt, stirbt nie. Die Standhaftigkeit der Seele teilt sich dem Körper mit, und man hat lange ein gutes Leben nicht nur nach innen, sondern auch nach außen.

[56]91 Nie mit Skrupeln über Unvorsichtigkeit handeln. Die Vermutung des Misslingens bei einem, der zu Werke geht, fällt dem Beobachter klar ins Auge, zumal wenn er ein Widersacher ist. Wenn der Sachverstand schon bei heißer Leidenschaft Skrupel hat, dann wird er nach Verschwinden der Leidenschaft die deutliche Torheit verurteilen. Gefährlich sind die Handlungen im Zweifel, ob genug Vorsicht gewaltet hat; sicherer wäre die Unterlassung. Die Klugheit gibt sich nicht mit Wahrscheinlichem ab: sie schreitet immer am Mittag des Lichts der Vernunft. Wie kann ein Unternehmen gut gehen, das der Argwohn schon verurteilt, während es ausgedacht wird? Und wenn ein mit dem inneren nemine discrepante gereifter Entschluss oft unglücklich endet, was soll einer erwarten lassen, der im Schwanken der Vernunft und mit einer schlechten Prognose durch den Sachverstand begann?

92 Hirn vor allem. Und ich sage ohne Ausnahme. Es ist die erste und höchste Regel des Handelns und des Redens, umso empfehlenswerter, je größer und höher die Ämter. Ein Korn Klugheit ist mehr wert als Tonnen von Spitzfindigkeit. Es ist ein Weg in Sicherheit, aber ohne großen Beifall, wenn auch der Ruf, klug zu sein, der Triumph des Ruhmes ist: es wird genügen, die Klugen zu befriedigen, deren Stimme der Prüfstein des Gelingens ist.

93 Universaler Mensch. Aus der ganzen Vollkommenheit zusammengesetzt, steht er für viele. Leben macht er zur Freude und gibt dieses Genießen der Mitwelt weiter. Die [57]Abwechslung in Vollkommenheit ist unterhaltsames Leben. Große Kunst, alles Gute zu erreichen; und da ihn die Natur zum Inbegriff alles Natürlichen in seiner höchsten Form gemacht hat, soll ihn das Können durch Übung und Bildung zu einem Universum des Geschmacks und des Verstandes machen.

94 Undurchschaubarkeit der eigenen Möglichkeiten. Der umsichtige Mann soll verhüten, dass der Grund seines Wissens oder seiner Kraft je ermessen wird, wenn er wünscht, dass ihn alle verehren: er darf sich dem Erkennen öffnen, nicht dem Durchschauen. Niemand soll die Grenzen seines Potenzials wahrnehmen wegen der offensichtlichen Gefahr einer Ernüchterung. Nie soll er es dahin kommen lassen, dass jemand ihn ganz erfasst: größere Verehrung bewirken der Eindruck und die Ungewissheit im Blick auf die Grenzen des Potenzials, das ein jeder hat, als deren offenes Erscheinen, so groß es auch sein mag.

95 Die Erwartung aufrecht halten können: ihr immer einen Köder vorsetzen. Das Viele soll noch mehr versprechen, und die beste Handlung soll das in-Aussicht-Stellen von größeren sein. Man darf nicht die ganze verbleibende Hand in der ersten Runde spielen, und eine große List ist es, sich in den Kräften, im Wissen mäßigen zu können, um so die Leistungsfähigkeit zu befördern.

[58]96 Von der großen moralischen Urteilsfähigkeit. Sie ist der Thron der Vernunft, der Sockel der Bedachtsamkeit, in ihrem Namen fällt das Gelingen leicht. Sie ist eine Glücksgabe des Himmels, und zwar die erste, beste und deshalb am meisten begehrte: so sehr das dringend benötigte erste Stück der Rüstung, dass der Mangel keines anderen ihn mangelhaft macht; man bemerkt am meisten ihr Ausbleiben. Alle Handlungen des Lebens hängen von ihrem Einfluss ab, und alle fordern ihre Einschätzung, denn alles soll mit Hirn geschehen. Sie besteht in einem angeborenen Hang zu allem, was am meisten der Vernunft entspricht, und verheiratet sich deshalb immer mit dem Richtigsten.

97 Das Ansehen erlangen und erhalten. Es ist der Ertrag des Ruhms. Große Anstrengung verlangt es, weil es aus vortrefflichen Eigenschaften hervorgeht, die so selten wie die mittelmäßigen verbreitet sind. Einmal erlangt, lässt es sich leicht erhalten. Es verpflichtet sehr und wirkt mehr. Eine Art von Hoheit ist es, wenn es durch die Erhabenheit seines Grundes und seiner Reichweite zur Verehrung wird; doch das wirkliche Ansehen ist jenes, das immer dauerte.

98 Den Willen verschlüsseln. Es sind die Leidenschaften die geheimen Türen des Geistes. Das am meisten praktische Können besteht im Sich-Verstellen: Wer mit offenen Spielkarten spielt, nimmt das Risiko an, zu verlieren. Die Zurückhaltung des Vorsichtigen soll mit der Aufmerksamkeit des Weltoffenen rivalisieren: gegen Luchsaugen für die Rede, Sepia-Tinte für die Innerlichkeit. Man soll seinen [59]Geschmack nicht kennen, damit man ihm nicht zuvorkommen kann, in einigen Fällen mit Widerspruch, in anderen mit Schmeichelei.

99 Wirklichkeit und Schein. Die Dinge gelten nicht nach dem, was sie sind, sondern nach dem, was sie scheinen. Selten sind die, die nach innen sehen, und viele die, die sich an das Erscheinende halten. Recht haben mit einem Gesicht von Verschlagenheit reicht nicht.

100 Von Täuschungen befreiter Mann: weiser Christ, philosophischer Hofmann; doch ohne es zu zeigen oder gar zur Schau zu stellen. Obwohl es die größte Beschäftigung der Weisen ist, hat das Philosophieren das Ansehen verloren. Es lebt das Wissen der Klugen ohne Autorität. Seneca führte es in Rom ein, es erhielt sich einige Zeit am Hof, und wird jetzt als Zumutung angesehen. Doch die Befreiung von Täuschungen war immer Nahrung der Bedachtsamkeit, Entzücken am Rechtschaffenen.

101 Die Hälfte der Welt lacht über die andere Hälfte, und töricht sind alle. Entweder ist alles gut, oder alles ist schlecht, je nach den Ansichten: dieser folgt dem, was der andere verfolgt. Unerträglich dumm, wer jeden Gegenstand an seine Auffassung anpassen will. Was vollkommen ist, hängt nicht von einer einzigen Zustimmung ab: so zahlreich sind die Geschmäcker wie die Gesichter – und so verschieden. Es gibt keinen Fehler ohne Gefallen: man soll [60]den Dingen nicht misstrauen, weil manche ihnen nicht zustimmen, es wird nicht an anderen fehlen, die sie schätzen; doch der Beifall der Letzteren soll ihm nicht in den Kopf steigen, andere werden ihn verurteilen. Die Norm der wahren Zufriedenheit ist die Billigung der Männer von Ansehen, die im entsprechenden Zusammenhang etwas zu sagen haben. Man lebt weder von einer einzigen Ansicht noch von einer einzigen Konvention noch von einem einzigen Jahrhundert.

102 Magen für große Bissen des Glücks. Nicht der am wenigsten wichtige Teil im Körper der Bedachtsamkeit ist ein großer Magen, denn aus großen Teilen setzt sich eine große Fähigkeit zusammen. Von guten Glücksfällen wird nicht verlegen, wer größere verdient; was für manche Übersättigung, ist für andere Hunger. Viele gibt es, für die jeder große Leckerbissen wegen ihres kleinen Körperbaus zur Verschwendung wird, weil sie weder an so hohe Ämter gewöhnt noch für sie geboren sind; ihr Verhalten wird säuerlich, und die Dämpfe, welche aus der ungemessenen Ehre aufsteigen, machen ihren Kopf schwindlig; in hoher Stellung laufen sie große Gefahr, und sie verlieren die Fassung, weil das Glück nicht in sie passt. Der große Mann soll also zeigen, dass ihm noch Raum für Größeres bleibt, und mit besonderer Aufmerksamkeit jedes Anzeichen von Engherzigkeit fliehen.

[61]103 Jeder majestätisch auf seine Weise. Alle Handlungen sollen, wenn nicht die eines Königs, doch eines solchen würdig sein, jede entsprechend ihrem Bereich; königlich das Verhalten, innerhalb der Grenzen seiner klug wahrgenommenen Bedingungen: erhabene Handlungen, aufsteigende Gedanken. In allen Dingen soll er einen König nach Verdiensten, wenn schon nicht in Wirklichkeit darstellen, denn die wahre Herrschaft besteht in der Rechtschaffenheit der Sitten, und keine Größe muss beneiden, wer ihre Norm sein kann. Besonders an die, die dem Thron nahestehen, soll sich etwas von der wahren Überlegenheit kleben: sie sollen eher an den Gaben der Majestät teilhaben als an den Riten der Eitelkeit, nicht Unvollkommenes mit Aufgeblasenheit, sondern das Hohe mit Substanz erfüllen.

104 Den Ämtern den Puls gefühlt haben. Sie sind voneinander verschieden: meisterliches Wissen, das viel Aufmerksamkeit braucht. Manche verlangen Mut, andere Scharfsinn. Leichter bewältigen lassen sich jene, die von der Aufrichtigkeit, schwerer die, welche vom Geschick abhängen: mit einem guten Charakter hat man genug für jene; für diese kann keine Aufmerksamkeit und Wachheit ausreichen. Eine anstrengende Beschäftigung, Menschen zu regieren und besonders, wenn sie verrückt oder dumm sind: man braucht doppelt so viel Hirn für den Umgang mit denen, die keines haben. Unerfreuliches Amt, welches einen ganzen Menschen verlangt, mit abgezählten Stunden und einem bestimmten Gegenstand; besser sind die ohne Langeweile, welche zum Ernst Vielfältigkeit hinzufügen, denn Abwechslung erfrischt. Am angesehensten sind die, [62]welche weniger oder entferntere Abhängigkeit haben. Und dasjenige ist das schlechteste, das einen am Ende in der menschlichen Wohnstätte schwitzen lässt, und mehr noch in der göttlichen.

105 Nicht ermüden. Der Mensch mit einem einzigen Anliegen und der mit einer einzigen Form der Rede pflegen lästig zu sein. Die Kürze ist schmeichelnd und besser zum Verhandeln: als Höflichkeit gewinnt sie, was sie als Kürze verliert. Das Gute, falls kurz, zweimal gut; und selbst das Schlechte, falls wenig, nicht so schlecht. Mehr wirken Quintessenzen als Mischmasch; und es ist eine allgemein geltende Wahrheit, dass ein weitläufiger Mensch nur selten verständig ist, nicht so sehr nach dem Materiellen der Anordnung wie nach dem Formellen der Rede. Es gibt Menschen, die eher zur Peinlichkeit als zum Schmuck des Universums dienen, verlorene Möbel, welche alle aus dem Weg räumen. Der Umsichtige darf nie peinlich werden, vor allem nicht gegenüber hochgestellten Persönlichkeiten, die sehr beschäftigt leben; und es wäre schlechter, eine von ihnen unangenehm zu berühren als die ganze übrige Welt. Das gut Gesagte ist schnell gesagt.

 

106 Nicht mit dem Glück prahlen. Mehr verletzt es, die Würde hervorzuheben als die Person. Sich inszenieren ist verhasst, es war genug, beneidet zu werden. Ansehen gewinnt man umso weniger, je mehr man es sucht, es hängt von der Achtung der anderen ab; und so kann man es sich nicht nehmen, sondern von den anderen verdienen und [63]dann erwarten. Die großen Ämter verlangen ihrer Ausübung entsprechende Autorität, ohne die kann man sie nicht mit Würde ausüben: man soll zur Erfüllung des wesentlichen Teils seiner Verpflichtungen diejenige bewahren, die man verdient; sie nicht erzwingen, aber fördern. Und all die, welche sich in ihrem Amt inszenieren, zeigen an, dass sie es nicht verdienten und dass die Würde nur angefügt ist. Wer auf seinen Wert bestehen will, soll dies mehr mit seinen herausragenden Fähigkeiten tun als mit Zufälligkeiten; auch einen König soll man mehr wegen seiner persönlichen als wegen seiner äußerlichen Herrschaft verehren.

107 Nicht Selbstzufriedenheit zeigen. Man soll weder unzufrieden leben, das ist Kleinmut, noch selbstzufrieden, das ist Dummheit. Bei den meisten entsteht die Selbstzufriedenheit aus Unwissen und bleibt in einer dummen Glückseligkeit stecken, die zwar Vergnügen immer weiter am Leben erhält, aber nicht den Ruf bewahrt. Da sie nicht an die höchsten Vollkommenheiten bei den anderen heranreicht, begnügt sie sich mit jeder gemeinen Mittelmäßigkeit im Eigenen. Misstrauen war immer nützlich, nicht nur klug, entweder als Maßnahme für ein gutes oder als Trost für ein schlechtes Ende: eine Enttäuschung kehrt bei dem nicht wieder, der sie schon befürchtete. Selbst Homer döst manchmal ein, und Alexander fällt aus der Illusion über seinen Status. Die Dinge hängen von vielen Umständen ab, und was an einer Stelle und Gelegenheit triumphierte, misslingt an anderer. Doch unheilbar dumm ist es, wenn die eitelste Selbstzufriedenheit zu einer Blume wurde und aus ihrem Samen Knospen treibt.

[64]108 Kurzer Weg, um Person zu sein: sich auf Umgang verstehen. Der Verkehr mit anderen ist sehr wirksam: Verhaltensformen und Geschmäcker werden weitergegeben, das Gemüt und sogar der Verstand verbreiten sich, ohne dass man es merkt. Der Vorschnelle soll deshalb versuchen, sich zum Selbstbeherrschten zu gesellen; und so mit den anderen Gemütslagen; mit dieser wird ihm die Mäßigung ohne Gewaltsamkeit gelingen: es ist ein großer Vorteil, sich mäßigen zu können. Die Abwechslung zwischen Gegensätzen verschönt und trägt das Universum, und wenn sie schon Harmonie in der Natur stiftet, dann umso mehr in der Sittlichkeit. Man soll sich dieses Prinzip des Umgangs bei der Auswahl von Vertrauten und Untergebenen zunutze machen, denn durch die Vermittlung zwischen den Extremen gleicht sich eine sehr kluge Mittellage ab.

109 Kein beständiger Ankläger sein. Es gibt Menschen mit heftigem Gemüt: alles machen sie zu einer Straftat, und nicht aus Leidenschaft, sondern aus natürlicher Neigung. Sie verurteilen alle: manche für das, was sie taten, andere für das, was sie tun werden. Daraus spricht ein Geist, der schlechter als grausam ist, nämlich schäbig; und sie klagen mit solcher Übertreibung an, dass sie aus den Atomen Balken machen, um die Augen auszuhöhlen; als Wächter über alle Orte machen sie zur Galeere, was Elysium sein sollte; und wenn die Leidenschaft dazwischenkommt, treiben sie alles aufs Äußerste. Hingegen findet die Einfachheit für alles einen Ausweg, wenn nicht absichtlich, dann aus Nichtbeachtung.

[65]110 Nicht darauf warten, eine untergehende Sonne zu sein. Es ist eine Maxime der Klugen, die Dinge zu lassen, bevor diese uns verlassen. Man soll sich darauf verstehen, gerade aus dem Ende einen Triumph zu machen; selbst die Sonne zieht sich manchmal, wenn sie hell scheint, hinter eine Wolke zurück, damit man nicht sieht, wie sie sinkt, und lässt es offen, ob sie unterging oder nicht unterging. Man soll den Körper auf Distanz von den Untergängen halten, um nicht aus Enttäuschung einzubrechen; man soll nicht warten, bis die Leute einem den Rücken zukehren, und dem Gefühl nach lebendig, dem Ansehen nach tot begraben. Der Verständige zieht das Rennpferd rechtzeitig zurück und wartet nicht, bis es stürzt und mitten in der Bahn das Lachen auf sich zieht; die Schönheit soll rechtzeitig und schlau den Spiegel brechen und nicht später aus Ungeduld, wenn sie ihr von Täuschung befreites Bild sieht.

111 Freunde haben. Ist das zweite Sein. Jeder Freund ist gut und weise für den Freund. Zwischen ihnen geht alles gut. So viel wird einer wert sein, wie die anderen wollen; und damit sie ihn wollen, muss man den Mund über das Herz gewinnen. Nichts hat eine solche Zauberwirkung wie Gefälligkeit, und das beste Mittel, um Freundschaften zu gewinnen, ist, sie zu erschaffen. Es hängt das meiste und das Beste, das wir haben, von den anderen ab. Man muss entweder mit Freunden oder mit Feinden leben. Jeden Tag soll man eine Freundschaft auf den Weg bringen, wenn nicht zum engen Umgang, so doch zum Umgang in Zuneigung, einige bleiben dann als Vertraute, nachdem sie aus einer Auswahl als die Richtigen hervorgegangen sind.

[66]112 Echtes Wohlwollen gewinnen. Denn selbst die erste und höchste Ursache bezieht es in ihre wichtigsten Angelegenheiten ein und benutzt es. Durch Neigung gelangt man zu Achtung. Manche verlassen sich so sehr auf den Wert, dass sie die Bemühung geringschätzen; doch wer aufmerksam ist, weiß sehr wohl, dass man allein aufgrund der Verdienste und ohne die Unterstützung der Gefälligkeit einen großen Umweg geht. Alles erleichtert und ergänzt das Wohlwollen; nicht immer stellt es sich vor, dass die Fähigkeiten da sind, sondern setzt sie voraus, wie den Mut, die Charakterfestigkeit, das Wissen und sogar die Umsicht; nie sieht es etwas Hässliches, weil es das nicht sehen möchte. Gewöhnlich entsteht es aus der materiellen Entsprechung im Gemüt, der Nation, der Verwandtschaft, dem Vaterland und dem Amt; erhabener ist die formale in Fähigkeiten, Verpflichtungen, Ansehen, Verdiensten. Es zu gewinnen ist die ganze Schwierigkeit, bewahren lässt es sich leicht; man kann es erarbeiten und verstehen, Nutzen aus ihm zu ziehen.

113 Im günstigen Glück Vorkehrungen für das ungünstige treffen. Es ist eine gute Entscheidung, im Sommer den Vorrat für den Winter anzulegen, und zwar mit mehr Bequemlichkeit; die Gefallen sind dann billig, es gibt einen Überfluss an Freundschaften. Gut ist es, Dinge für die schlechte Zeit aufzuheben, wenn alles teuer ist und fehlt. Es soll einen Rückhalt an Freunden und dankbar Gesinnten geben, eines Tages wird er zu schätzen wissen, was er jetzt nicht achtet. Die Niedertracht hat nie Freunde: im günstigen Glück, weil sie die nicht kennt; im ungünstigen kennen die sie nicht.

[67]114 Nie wetteifern. Jedes Streben gegen einen Widerstand schadet dem Ansehen; um den Glanz zu schwächen, neigt die Konkurrenz gleich zur Verunglimpfung. Gering ist die Zahl derer, die einen redlichen Krieg führen. Der Wetteifer entdeckt Mängel wieder, welche die Höflichkeit vergaß; viele lebten in Ansehen, solange keiner mit ihnen wetteiferte. Die Hitze der Gegnerschaft belebt oder erweckt gestorbene Schande zu neuem Leben, sie gräbt Stänkereien der Vergangenheit und Vorvergangenheit aus. Mit lauten Verunglimpfungen setzt die Konkurrenz ein und nimmt sich nicht nur, was sie darf, zur Hilfe, sondern was sie kann; und obwohl die Beleidigungen als Waffen oft, ja meist nicht erfolgreich sind, macht sie aus ihnen niedrige Befriedigungen ihrer Rache und schüttelt diese so heftig, dass sie den Staub des Vergessens von den Kränkungen fallen lässt. Immer war das Wohlwollen friedlich und das Ansehen wohlwollend.

115 Sich auf die Charakterfehler der Bekannten einstellen wie auf die hässlichen Gesichter: das ist angebracht, wo Abhängigkeit verbindet. Es gibt raue Gemüter, mit denen und ohne die man nicht leben kann; sich daran wie an etwas Hässliches gewöhnen ist also geschickt, damit sie nicht in einer schrecklichen Situation von neuem beeindrucken; beim ersten Mal entsetzen sie, aber nach und nach geht ihnen jener erste Schrecken verloren; und die Überlegung kommt dem Missfallen zuvor oder erträgt es.

[68]116 Immer mit Leuten umgehen, die Verpflichtungen haben. Er kann sich für sie und sie für sich einsetzen. Eben ihre Verpflichtung ist die größte Garantie im Verkehr mit ihnen, selbst in unklaren Momenten, denn sie handeln wie der, der sie sind; und besser mit rechtschaffenen Leuten streiten, als über schlechte triumphieren. Es gibt keinen guten Umgang mit der Zerrüttung, weil sie sich nicht zur Standhaftigkeit verpflichtet fühlt; deshalb gibt es unter Zerrütteten weder wahre Freundschaft, noch ist ihre Zuwendung echt, auch wenn sie so aussieht, weil sie nicht auf Ehre beruht. Menschen ohne sie soll er immer zurückweisen, denn wer sie nicht schätzt, schätzt die Tugend nicht; und die Ehre ist der Thron der Standhaftigkeit.

117 Nie von sich reden. Man muss sich dann entweder loben, was Eitelkeit, oder man muss sich tadeln, was Kleinmut ist; und Mangel an Klugheit bei dem, der spricht, wird zur Qual für die, welche zuhören. Wenn man dies im vertrauten Umgang vermeiden muss, dann umso mehr auf hoher Ebene, wo die Rede öffentlich ist, und als Dummheit alles gilt, was so aussieht. Dasselbe Abweichen von Klugheit liegt im Sprechen über die, welche anwesend sind, wegen der Gefahr, auf eine von zwei Klippen zu stoßen: auf die der Schmeichelei oder des Tadels.

118 Den Ruf erwerben, höflich zu sein, das reicht, um ihn beliebt zu machen. Die Höflichkeit ist der Hauptteil der Bildung, eine Art Zauber, und so vereint sie die Gunst aller, wie die Unhöflichkeit übergreifende Verachtung und [69]Ärgernis. Wenn diese aus Arroganz entspringt, ist sie abstoßend, wenn aus Gewöhnlichkeit verachtenswert. Die Höflichkeit muss immer eher mehr als weniger, aber nie gleich verteilt sein, denn dann verkäme sie zur Ungerechtigkeit; gegenüber Feinden gilt sie als Schuldigkeit, mit der man seinen Wert sichtbar macht; sie kostet wenig und ist viel wert; jeder, der verehrt, wird geehrt. Das aufmerksame Verhalten und die Ehre haben diesen Vorteil, dass sie bleiben: jenes bei dem, der es zeigt, diese bei dem, der sie walten lässt.