Detektiv Dagobert

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»Das ist kein Deck­na­me. Das Geld ge­hört tat­säch­lich ihr!«

»Es wäre schlimm für uns, wenn es so wäre, aber es ist nicht so. Se­hen Sie, Herr Ge­ne­ral­di­rek­tor, ohne es zu wol­len, ha­ben Sie mir zu ei­ner von mir selbst nicht ge­woll­ten Kar­rie­re ver­hol­fen. Erst muss­te ich Ver­wal­tungs­rat wer­den, und dann wur­de es un­be­dingt nö­tig, dass ich Zen­sor der Na­tio­nal­bank wur­de. Mit der mäch­ti­gen Hil­fe un­se­res Prä­si­den­ten ging auch das. Ich muss­te es wer­den, um ganz ge­nau­en Ein­blick zu ge­win­nen. Mir kön­nen Sie also jetzt kei­ne Ro­ma­ne über Ihre Frau Schwie­ger­ma­ma er­zäh­len. Schließ­lich wer­de ich, und zwar heu­te noch, so­gar Ge­ne­ral­di­rek­tor wer­den, aber nur für so lan­ge, bis wir einen ge­eig­ne­ten Er­satz für Sie ge­fun­den ha­ben wer­den.«

»Sie tun im­mer, als wenn ich de­frau­diert hät­te. Das wer­den Sie mir doch erst be­wei­sen müs­sen!«

»Aber, lie­ber Ge­ne­ral­di­rek­tor – es ist wahr­schein­lich das letz­te Mal, dass ich Sie so nen­nen darf –, be­grei­fen Sie denn Ihre Si­tua­ti­on noch im­mer nicht? Ich kann Ih­nen mit we­ni­gen Wor­ten ver­ra­ten, wie Sie es an­ge­stellt ha­ben. Sie kann­ten Benk von frü­her her und wuss­ten, dass es die Sehn­sucht sei­nes Le­bens war, sich in Ame­ri­ka, in der At­mo­sphä­re der Frei­heit, einen Wir­kungs­kreis zu schaf­fen. Als er sei­ne Bü­cher ab­ge­schlos­sen hat­te und sei­nen Ur­laub an­tre­ten woll­te, bo­ten sie ihm sech­zig­tau­send Kro­nen da­für, dass er spur­los ver­schwin­de. Ein Ma­kel kön­ne auf sei­nen Na­men nicht fal­len, da er doch die Kas­se in vol­ler Ord­nung über­ge­ben und sein Ab­so­lut­o­ri­um in der Ta­sche habe. Sein Ver­schwin­den wer­de zwar Be­stür­zung aber sonst kei­ner­lei Nach­teil her­vor­ru­fen. Für Sie wür­de die Be­stür­zung von un­er­mess­li­chem Vor­teil zur Be­fes­ti­gung Ih­rer Stel­lung sein. Denn Sie sei­en dann der ein­zi­ge, der für den wei­te­ren un­ge­stör­ten Gang der Ma­schi­ne sor­gen kön­ne, und da­mit sei Ihre Unent­behr­lich­keit ekla­tant do­ku­men­tiert. Das sei Ih­nen das Op­fer wert. Benk ließ sich über­re­den, umso eher, als Sie ihn schon von der Schu­le her kann­ten. Sie duz­ten sich ja auch, nur frei­lich auf Ihren Wunsch in der Bank nicht.«

»Es ging ein­fach nicht – der an­de­ren Be­am­ten we­gen.«

»Ich be­grei­fe. Nun konn­te also der große Coup von Ih­nen ge­wagt wer­den. Sie fühl­ten sich si­cher. Der Ver­dacht wür­de doch auf den ver­schwun­de­nen Kas­sier fal­len. Sie konn­ten wis­sen oder doch mit gu­tem Grund an­neh­men, dass man aus Scheu vor dem öf­fent­li­chen Skan­dal von der ge­richt­li­chen An­zei­ge ab­se­hen wer­de. Üb­ri­gens hat­ten Sie auch für die­sen Fall Ihre Maß­nah­men ge­trof­fen. Soll ich Sie Ih­nen re­ka­pi­tu­lie­ren?«

»Ich dan­ke, ich ver­zich­te.«

»Gut, so will ich nur an­deu­ten, dass ich un­ter an­de­ren auch bei der H. A. P. A. G. – das ist die Ham­burg-ame­ri­ka­ni­sche Pa­ket­boot-Ak­ti­en­ge­sell­schaft – ei­ni­ges er­ho­ben habe. Ich habe mir die Num­mer der Ka­jü­te no­tiert, die Sie auf der ›Ko­lum­bia‹ ge­mie­tet hat­ten. Die Ur­laubs­ver­hält­nis­se hät­ten Ih­nen hin­läng­lich Zeit zu dem wün­schens­wer­ten Vor­sprung ge­währt.«

»Was wol­len Sie nun von mir?«

»Eine Klei­nig­keit, Ihre Un­ter­schrift. Sie ha­ben das durch Voll­macht aus­ge­wie­se­ne Ver­fü­gungs­recht über das De­pot Ih­rer ›Schwie­ger­ma­ma‹ bei der Na­tio­nal­bank. Das De­pot reicht ge­ra­de aus, um den Scha­den der A. B. B. zu de­cken. Die­se Voll­macht wer­den Sie auf mich über­tra­gen. Hier ist das voll­stän­dig ad­jus­tier­te Schrift­stück, Sie brau­chen nur Ihren wer­ten Na­men dar­un­ter zu set­zen.«

»Das wer­de ich nicht tun!«

»Wie Sie glau­ben, – ge­nö­tigt wird nicht. Ich woll­te Ihr Bes­tes, und nur wenn Sie sich selbst da­von über­zeugt ha­ben, sol­len Sie un­ter­schrei­ben, sonst nicht. Die Ver­hält­nis­se ha­ben sich näm­lich zu Ihren Un­guns­ten ver­scho­ben, ge­ehr­ter Herr. Alle Vor­keh­run­gen zur Si­che­rung je­nes De­pots sind ge­trof­fen, falls Sie sich wirk­lich wei­gern soll­ten. Sie müss­ten sich näm­lich klar ma­chen, dass die A. B. B. jetzt kei­ne Ur­sa­che mehr hat, die ge­richt­li­che An­zei­ge zu scheu­en. Der et­wai­ge üble Ein­druck der Nach­richt von dem großen Un­ter­schleif wür­de durch die Tat­sa­che pa­ra­ly­siert wer­den, dass man nicht nur de­ren Ur­he­ber prompt er­wi­scht, son­dern auch für die so­for­ti­ge Scha­dens­gut­ma­chung prompt ge­sorgt hat. Nun – was mei­nen Sie?«

Der Ge­ne­ral­di­rek­tor un­ter­schrieb. Da­go­bert fer­tig­te einen im Vor­zim­mer des Auf­tra­ges har­ren­den Ver­trau­ens­mann mit dem Schrift­stück ab.

»Nur noch zwei Mi­nu­ten«, nahm er dann wie­der das Wort. »Die Na­tio­nal­bank ist ja gleich da­ne­ben. In­zwi­schen kann ich Ih­nen ja sa­gen, dass es eine sin­ni­ge Über­ra­schung für un­se­ren Herrn Prä­si­den­ten sein wird, eine un­schul­di­ge Freu­de, die er nicht er­war­tet hat. Denn ich habe we­der ihm, noch sonst je­man­dem von dem Fort­gan­ge mei­ner Be­mü­hun­gen be­rich­tet. Ich lie­be es, mit fer­ti­gen Tat­sa­chen zu kom­men. Man hat so sei­ne Ei­gen­hei­ten!«

Nach we­ni­gen Mi­nu­ten er­tön­te wirk­lich ein Si­gnal vom Te­le­fon­ap­pa­rat am Schreib­tisch her. Der Ge­ne­ral­di­rek­tor leg­te die Hör­mu­schel ans Ohr.

»Die Na­tio­nal­bank«, mel­de­te er, »ich ver­ste­he aber nicht –, der Mohr kann ge­hen – Schluss!«

»Ganz rich­tig!« rief Da­go­bert. »Das ist das Schlag­wort, das ich mir be­stellt habe zur Be­stä­ti­gung, dass al­les in Ord­nung sei. Und jetzt, Herr Ring­hoff, sind Sie Ge­ne­ral­di­rek­tor – ge­we­sen! Er­lau­ben Sie nur, dass ich die Tü­ren öff­ne. Da­mit ist die Über­wa­chung auf­ge­ho­ben.«

Ring­hoff nahm sei­nen Hut, ver­neig­te sich und ver­ließ die A. B. B., um sie nie wie­der zu be­tre­ten.

1 fran­zö­si­sche Re­de­wen­dung: ›Mach die Frau aus­fin­dig!‹, ge­meint ist: ›Da steckt eine Frau da­hin­ter!‹ <<<

Anonyme Briefe.

Seit ei­ni­ger Zeit ward An­dre­as Grum­bach, der Prä­si­dent des Klubs der In­dus­tri­el­len, durch häu­fig wie­der­keh­ren­de an­ony­me Brie­fe be­hel­ligt, die in­des­sen ih­ren Zweck nur in recht un­voll­kom­me­nem Maße er­füll­ten. An­dre­as Grum­bach zählt, ver­mö­ge sei­nes Reich­tums, sei­nes An­se­hens in ge­schäft­li­chen Krei­sen und sei­ner ge­sell­schaft­li­chen Stel­lung zu den Gro­ßen die­ser Welt, und die­se las­sen sich durch Brie­fe so leicht nicht ins Bocks­horn ja­gen. Wenn man täg­lich sei­ne hun­dert und mehr Brie­fe emp­fängt und durch­fliegt, so wird man bald doch recht ab­ge­stumpft, und man­cher Ab­sen­der wür­de sehr ent­täuscht sein in sei­nen Er­war­tun­gen und et­wai­gen Hoff­nun­gen, wenn er sel­ber sähe, wie we­nig tief die mo­ra­li­sche Wir­kung geht, die er mit sei­nem Schrei­ben zu er­zie­len ge­dach­te. Da ist kei­ne Spur mehr von je­nen Ge­müts­be­we­gun­gen, wel­chen der beim An­blick ei­nes Brief­trä­gers un­ter­wor­fen ist, der alle hei­li­gen Zei­ten ein­mal einen Brief er­hält.

An­dre­as Grum­bach kann­te die Brie­fe bald. Es war im­mer das­sel­be ei­gen­tüm­li­che Pa­pier und sie wie­sen im­mer die­sel­be ei­gen­tüm­li­che stei­le Hand­schrift auf, und er warf sie nun im­mer un­er­öff­net in den Pa­pier­korb. Da­mit wäre die Sa­che ab­ge­tan ge­we­sen. Es kam aber et­was dazu, was den Fall ei­ni­ger­ma­ßen kom­pli­zier­te. Auch Grum­bachs Ge­mah­lin wur­de mit der­ar­ti­gen Brie­fen förm­lich über­schüt­tet und sie brach­te ih­nen ge­gen­über nicht die­sel­be küh­le Phi­lo­so­phie auf, wie ihr Mann. Sie war un­glück­lich, wein­te viel, ward ner­vös und ge­trau­te sich gar nicht mehr un­ter die Leu­te. Al­les Zu­re­den half nichts. Sie kam aus den Er­re­gun­gen gar nicht mehr her­aus, sie hat­te kei­ne fro­he Stun­de mehr und ihr Le­ben war ge­ra­de­zu zer­stört.

Auch Frau Grum­bach nahm eine her­vor­ra­gen­de Stel­lung in der Ge­sell­schaft ein und sie war auf sie ängst­li­cher be­dacht, als es wohl un­um­gäng­lich nö­tig ge­we­sen wäre. Denn nie­mand dach­te dar­an, sie zu be­strei­ten oder gar zu un­ter­gra­ben; aber in ihr selbst wirk­te noch ein Ge­fühl der Un­si­cher­heit. Sie war die klei­ne Schau­spie­le­rin Vio­let Moor­lank, als Grum­bach sie nahm, und da­her noch die Un­si­cher­heit. Nie hat­te sich zwar die üble Nach­re­de an sie her­an­ge­wagt, aber die heim­li­che Angst, dass die Ge­sell­schaft sie nicht wer­de an­er­ken­nen und für voll neh­men wol­len, war sie doch nie­mals ganz los ge­wor­den. Die­se Angst war nun ganz über­flüs­sig; denn ih­res Gat­ten An­se­hen war ge­fes­tigt und stark ge­nug, um auch ihre Stel­lung zu ei­ner durch­aus un­an­ge­foch­te­nen zu ma­chen, aber sie be­stand ein­mal, war nie ganz aus­zu­til­gen und ward nun na­tür­lich maß­los ge­stei­gert durch jene in­fa­men Brie­fe mit ih­rem tücki­schen, hä­mi­schen und un­säg­lich ge­mei­nem In­halt.

Da ent­schloss sich denn An­dre­as Grum­bach, doch al­les dar­an­zu­set­zen, um der Sa­che wo­mög­lich ein Ende zu ma­chen. Er hat­te ja sei­nen Freund Da­go­bert Trost­ler, den ge­dien­ten Le­be­mann, des­sen große Pas­si­on es war, sich in der ihm reich­lich zu­ge­mes­se­nen Zeit der Muße als Ama­teur­de­tek­tiv zu be­tä­ti­gen. Der hat­te ihm schon in man­chen schwie­ri­gen und hei­klen Fäl­len mit sei­ner Fin­dig­keit und Kunst der Kom­bi­na­ti­on we­sent­li­che Diens­te ge­leis­tet, er wür­de si­cher­lich auch da Rat schaf­fen kön­nen.

Da­go­bert war Haus­freund bei Grum­bachs, und als sie nun wie­der ein­mal zu dritt bei Ti­sche sa­ßen, setz­te ihm Grum­bach den Fall aus­ein­an­der, in­dem er ihm zu­nächst nur von je­nen Brie­fen sprach, die ihm ge­sandt wor­den wa­ren.

»Also das ist es, Frau Vio­let!« ent­geg­ne­te Da­go­bert, sich an die Haus­frau wen­dend. »Wis­sen Sie, Gnä­digs­te, dass ich schon ernst­lich böse war auf Sie! Sie ha­ben einen Kum­mer und hal­ten ihn ge­heim vor mir, sa­gen mir kein Ster­bens­wört­chen. Ge­hört sich das?«

 

»Wer spricht denn von mir?«

»Wir spre­chen nur von Ih­nen. Ihr Mann ist ein – Mann und ein Mann setzt sich leicht über ge­wis­se Büber­ei­en hin­weg. Ich müss­te mich aber schlecht ver­ste­hen auf die Psy­cho­lo­gie je­ner an­ony­men Bes­ti­en, wenn ich an­näh­me, dass sie sich da­mit be­gnüg­ten, nur den Mann zu quä­len, wo sich ih­nen eine so schö­ne Ge­le­gen­heit dar­bie­tet, auch die Frau zu mal­trä­tie­ren. Das ist ja im­mer noch das dank­ba­re­re und si­che­re­re Un­ter­neh­men.«

»Da­go­bert, vor Ih­nen kann man wirk­lich nichts ge­heim­hal­ten!« ent­geg­ne­te Frau Vio­let. »Nun denn – ja; ich wer­de mal­trä­tiert mit die­sen fürch­ter­li­chen Brie­fen, und sie wer­den mich noch zur Verzweif­lung trei­ben.«

»Es war mir nach den An­deu­tun­gen Ihres Man­nes nicht schwer, Ihrem Kum­mer auf den Grund zu kom­men. Dass ein Kum­mer be­stand, wuss­te ich und habe ich Ih­nen längst an­ge­se­hen. Da Sie aber fort­ge­setzt schwie­gen, durf­te ich nicht fra­gen. Wol­len Sie mir die Brie­fe zei­gen?«

»Nicht um die Welt!«

»Ich be­grei­fe; sie sind zu un­flä­tig, aber schließ­lich – es wird doch nö­tig sein, wenn wir ver­su­chen wol­len, den Tä­ter oder – die Tä­te­rin zu ent­de­cken.«

»Die Tä­te­rin? So schreibt kei­ne Frau!«

»Hü­ten wir uns vor vor­ge­fass­ten Mei­nun­gen! Sie ken­nen mei­ne An­schau­un­gen, Frau Vio­let. In al­lem Gu­ten und Gro­ßen stel­le ich die Frau hö­her als den Mann; in al­lem Bö­sen, oder sa­gen wir lie­ber in al­ler Bos­heit stel­le ich sie tiefer. Je­den­falls ge­ben Sie mir die Brie­fe und zwar alle, die Sie ha­ben. Grum­bach hat die sei­ni­gen weg­ge­wor­fen. Das war über­eilt und ist sehr scha­de. Je mehr Ma­te­ri­al ich habe, de­sto eher kann ich hof­fen, eine Spur zu ent­de­cken.«

Frau Vio­let brach­te die Brie­fe, einen gan­zen Stoß, wohl an sech­zig oder acht­zig Stück.

»Sie dür­fen sie aber nicht in mei­ner Ge­gen­wart le­sen«, ver­wahr­te sich Frau Vio­let, »ich müss­te vor Scham in die Erde sin­ken.«

»Ich wer­de sie zu Hau­se stu­die­ren«, be­ru­hig­te sie Da­go­bert. »Un­ter­su­chen wir also hier zu­nächst nur ei­ni­ge Äu­ßer­lich­kei­ten. Die Brie­fe sind alle voll­kom­men gleich­för­mig. Re­se­dagrü­nes Pa­pier mit der Am­bi­ti­on ele­gant zu sein, und da­bei doch nur eine bil­li­ge und schlech­te Imi­ta­ti­on des ge­die­ge­nen ge­schöpf­ten hol­län­di­schen Büt­ten­pa­pie­res – lei­der!«

»Wa­rum – ›lei­der‹, Da­go­bert?«

»Weil ich schon im Stil­len ge­wis­se Hoff­nun­gen ge­hegt hat­te. Ich hat­te näm­lich schon ein­mal einen Fall mit an­ony­men Brie­fen. Der war aber kin­der­leicht. Der vor­lie­gen­de scheint weitaus schwie­ri­ger zu sein.« »Was war das für ein Fall? Das müs­sen Sie er­zäh­len, Da­go­bert!«

»Mit Ver­gnü­gen, mei­ne Gnä­digs­te, aber vor­läu­fig wol­len wir bei der Sa­che blei­ben. Al­les deu­tet dar­auf hin, dass der Ab­sen­der oder die Ab­sen­de­rin mit großer Vor­sicht ar­bei­tet. Die Schrift näm­lich lässt einen Schluss auf das Ge­schlecht nicht zu. Ich darf das sa­gen; denn was in Sa­chen der Gra­fo­lo­gie durch Stu­di­um und Beo­b­ach­tung zu er­ler­nen ist, das habe ich zu ler­nen mich red­lich be­müht.«

Da­go­bert prüf­te die Adres­sen mit ei­ner Ta­schen­lu­pe und dach­te dann in­ten­siv nach. Da­bei dreh­te er ganz in sich ver­sun­ken an sei­nem Pe­trus­schöpf­chen, dass es sich bald in die Höhe reck­te fast wie der Schopf ei­nes Clowns.

»Da geht Männ­li­ches und Weib­li­ches durch­ein­an­der, dass man förm­lich ver­rückt wer­den könn­te«, sag­te er vor sich hin. »Das ist ent­we­der ein sehr männ­li­ches Frau­en­zim­mer oder ein wei­bi­scher Mann. Ha­ben Sie gar kei­nen Ver­dacht, Frau Vio­let?«

»Nicht die lei­ses­te Ah­nung!«

»Auf die Gra­fo­lo­gie dür­fen wir hier also kei­ne be­son­de­ren Hoff­nun­gen set­zen. Bei ver­stell­ter Hand­schrift – und hier ist sie mit Sys­tem und Kon­se­quenz ver­stellt – muss sie ver­sa­gen. Hier kön­nen wir nur an­neh­men, dass die Hand, die das schrieb, für ge­wöhn­lich eine schrä­ge Schrift schreibt. Das ist al­les. Durch die stei­le, auf­rech­te Stel­lung hier ist der Schrift­cha­rak­ter na­tür­lich völ­lig ver­än­dert, und es ist sehr die Fra­ge, ob die Brie­fe mir ge­nü­gen­de An­halts­punk­te bie­ten wer­den, den Ori­gi­nal­cha­rak­ter zu re­kon­stru­ie­ren.«

»Sie ha­ben also kei­ne Hoff­nung, Da­go­bert, den Schur­ken zu ent­lar­ven?«

»Der Fall in­ter­es­siert mich, und ich wer­de mir Mühe ge­ben. Vor al­len Din­gen muss ich das Ma­te­ri­al stu­die­ren. Es wäre ja auch mög­lich, dass aus dem In­halt der Brie­fe, aus dem Stil, aus ein­zel­nen Wen­dun­gen, aus der Or­tho­gra­fie An­halts­punk­te zu ge­win­nen wä­ren. Im vor­hin­ein lässt sich da gar nichts sa­gen. Wie vor­sich­tig ge­ar­bei­tet wird, das kön­nen Sie bei­spiels­wei­se aus den Post­stem­peln er­se­hen. Da se­hen Sie, fast je­der Brief trägt einen an­de­ren Stem­pel. Hier Post­amt 66, hier Post­amt 125, hier Post­amt 13, 47, 59 – die Brie­fe wur­den auf wei­ten Spa­zier­gän­gen oder Spa­zier­fahr­ten auf­ge­ge­ben. Da geht es frei­lich nicht an, ein be­stimm­tes Post­amt oder einen be­stimm­ten Brief­kas­ten zu über­wa­chen.«

»Sie ha­ben also wirk­lich kei­ne Hoff­nung?«

»Ich sag­te, dass ich mir Mühe ge­ben wer­de, also habe ich Hoff­nung.«

»Das klingt recht zu­ver­sicht­lich, Da­go­bert.«

»Schließ­lich darf man sich ja auch et­was zu­trau­en!«

»Sie sag­ten, dass Sie schon einen ähn­li­chen Fall ge­habt hät­ten, Da­go­bert. Wie war es da­mit?« Frau Vio­let war be­greif­li­cher­wei­se sehr neu­gie­rig, dar­über Nä­he­res zu er­fah­ren.

»Der Fall war, wie ich schon er­wähn­te, sehr ein­fach, aber er hat mir gleich­wohl viel Ver­gnü­gen ge­macht. Ei­nes Ta­ges er­scheint der Ad­ju­tant des Erz­her­zogs Oth­mar bei mir und be­schei­det mich in das erz­her­zog­li­che Palais. Ich gehe also gleich mit, und in ei­ner Pri­vat­au­di­enz macht mir der Erz­her­zog die schmei­chel­haf­te Er­öff­nung, dass er mit ganz be­son­de­rem In­ter­es­se von ei­ni­gen mei­ner Leis­tun­gen als Ama­teur­de­tek­tiv ge­hört habe. Auch er hät­te nun einen Auf­trag, be­zie­hungs­wei­se eine Bit­te. Na­tür­lich stell­te ich mich so­fort zur Ver­fü­gung und be­merk­te, dass Sei­ne Kai­ser­li­che Ho­heit nur zu be­feh­len hät­te.

Der Fall lag wie hier. Es han­del­te sich um an­ony­me Brie­fe, und auch hier war nicht nur der Herr des Hau­ses, son­dern auch sei­ne durch­lauch­tigs­te Ge­mah­lin mit ih­nen be­dacht wor­den. Der Erz­her­zog sag­te mir, dass ihm viel dar­an läge, den Schrei­ber zu er­mit­teln, dass es ihm aber wi­der­stre­be, sich an die Po­li­zei zu wen­den. Nach al­lem, was er ge­hört, hät­te er in die­ser Sa­che mehr Ver­trau­en zu mir.

Schön. Ich ließ mir die Brie­fe ge­ben. Das war er­staun­lich; es wa­ren ih­rer Hun­der­te! Ich nahm sie mit.«

»Wa­ren sie auch so ge­mein?« frag­te Frau Vio­let ge­spannt.

»O, mei­ne Gnä­digs­te, was man Ih­nen auch ge­schrie­ben ha­ben mag, es ist un­mög­lich, dass die Un­flä­tig­keit und Ge­mein­heit, die dort auf­ge­sta­pelt ward, er­reicht, ge­schwei­ge denn über­bo­ten wor­den ist.«

»Und Sie ha­ben die­se Schuf­te­rei ent­hüllt?!«

»Ich hat­te Glück. Die Sa­che war in vier­und­zwan­zig Stun­den er­le­digt.«

»Er­zäh­len Sie, Da­go­bert!«

»Als ich die Brie­fe an mich nahm, war auch dort mei­ne ers­te Fra­ge na­tür­lich, ob die Ho­hei­ten etwa schon einen Ver­dacht oder einen An­halts­punkt hät­ten. Die Fra­ge wur­de ver­neint. Ich nahm also die Brie­fe mit nach Hau­se, las sie auf­merk­sam durch und über­leg­te dann reich­lich zwei Stun­den, ohne je­doch zu ir­gend­ei­nem nen­nens­wer­ten Re­sul­tat zu kom­men. Der ers­te hal­be Tag ver­ging, ohne dass mir eine halb­wegs ver­nünf­ti­ge Idee ein­ge­fal­len wäre. Erst in der Nacht, förm­lich im Schla­fe kam mir die Er­leuch­tung. Ich hat­te mich zu Bett be­ge­ben, und nach lan­gen frucht­lo­sen Be­mü­hun­gen ein­zu­schla­fen, war end­lich der ers­te Schlum­mer über mich ge­kom­men, aus dem ich aber bald wie im Schre­cken auf­fuhr. Nun war mit ei­nem Male die Idee da, auf der sich wei­ter bau­en ließ. Die Brie­fe la­gen auf mei­nem Nacht­käst­chen. Ein fei­ner Chy­pre­duft war von ih­nen aus mir in die Nase ge­fah­ren. Chy­p­re ist ein vor­neh­mes Par­füm. Ich mach­te Licht, so viel Licht, als über­haupt mög­lich war und nahm die Brie­fe wie­der vor. Da wur­de mir so­fort ei­nes klar: das gan­ze in­ten­si­ve Stu­di­um der Schrift und des In­halts der Brie­fe war vor­der­hand voll­kom­men über­flüs­sig und nutz­los ge­we­sen. Ich muss­te mich da nur an Äu­ßer­lich­kei­ten hal­ten und konn­te nur von die­sen aus­ge­hen. Bei al­ler Nied­rig­keit des In­halts um­gab doch eine ge­wis­se vor­neh­me At­mo­sphä­re die Brie­fe. Ge­wiss, auch da konn­te be­wuss­te, auf Täu­schung und Ir­re­füh­rung ge­rich­te­te Ab­sicht­lich­keit mit­spie­len, aber im­mer­hin – sie wies auf ein vor­neh­mes Haus, wenn schon nicht auf vor­neh­me Pro­ve­ni­enz über­haupt. Es konn­te ja ein tücki­scher La­kai oder eine bos­haf­te Zofe die Hand im Spie­le ha­ben. Sie konn­ten das par­fü­mier­te Pa­pier der Herr­schaft ent­wen­det ha­ben. Von dem Par­füm er­hoff­te ich al­ler­dings kei­ne Auf­klä­rung, aber – das Pa­pier! Ich bin Ken­ner in Pa­pier­sor­ten. Es war das köst­lichs­te und, ich kann sa­gen, das kost­bars­te Lu­xus­pa­pier, das mir je in die Hän­de ge­ra­ten war. Es war also ein ziem­lich kost­spie­li­ger Lu­xus, sol­che Brie­fe mas­sen­haft in die Welt zu sen­den, und wenn der Ab­sen­der das Pa­pier nicht stahl, dann muss­te er wohl in der Lage sein, sich die­sen Lu­xus zu gön­nen.

In al­ler Frü­he setz­te ich mich in mei­nen Un­num­me­rier­ten und fuhr bei ei­ni­gen bes­se­ren Pa­pier­hand­lun­gen vor. Ich leg­te ein ab­ge­ris­se­nes, un­be­schrie­be­nes Blatt ei­nes Brie­fes vor und ver­lang­te jene Sor­te. Auf die Aus­kunft, die ich er­hielt, war ich von vorn­her­ein ge­fasst ge­we­sen. Die­se Sor­te führ­ten sie nicht: sie sei zu teu­er und fän­de wohl kei­nen Ab­satz. Die Aus­kunft freu­te mich. Da­mit war der Kreis für mei­ne Nach­for­schun­gen schon be­deu­tend en­ger ge­zo­gen.

Nun be­trat ich mit ei­ni­ger Span­nung den La­den ›L. Wie­gand, k. k. Hof­lie­fe­rant‹ am Gra­ben. Ich wuss­te, dass die­ses Ge­schäft zwei­fel­los die vor­nehms­te Kund­schaft der Stadt habe. Ich zeig­te das Mus­ter, und der Chef, der mich per­sön­lich be­dien­te, leg­te mir so­fort die ge­wünsch­te hoch­e­le­gan­te Kas­set­te mit hun­dert Bo­gen und den dazu ge­hö­ri­gen Um­schlä­gen vor. ›Sech­zig Kro­nen!‹ Ich kauf­te, er­bat aber eine Un­ter­re­dung un­ter vier Au­gen.

Der Mann führ­te mich in das klei­ne Kon­tor, das sich hin­ten an sei­nen La­den schloss.

Ich möch­te von Ih­nen er­fah­ren, Herr Wie­gand, be­gann ich, ob die­ses Pa­pier auch noch in ei­nem an­de­ren Ge­schäft in Wien ver­kauft wird.

Ganz be­stimmt nicht, er­wi­der­te er selbst­be­wusst. Die Be­zugs­quel­le ist mein Ge­heim­nis.

Es ist eng­li­sches Fa­bri­kat, schal­te­te ich ein, um ein we­nig mit mei­ner Sach­kennt­nis zu prot­zen.

Al­ler­dings, aber es gibt nur eine Fa­brik, die es er­zeugt. Für die an­de­ren Ge­schäf­te, füg­te er ge­ring­schät­zig hin­zu, ist das auch kein Ar­ti­kel. Es wür­de ih­nen lie­gen blei­ben.

Ver­kau­fen Sie viel da­von?

O, sehr viel! Ich bin zu­frie­den.

Ich sah, dass ich die Ge­schich­te nicht ganz rich­tig an­ge­packt hat­te. Wenn ich den jetzt noch wei­ter re­nom­mie­ren ließ, dann kam ich von mei­nem Zie­le nur im­mer mehr ab. Ich nahm also, ge­wis­ser­ma­ßen um mich zu le­gi­ti­mie­ren, ein Dut­zend Brie­fe aus der Ta­sche und zeig­te ihm die Auf­schrif­ten. Die Wir­kung war eine be­frie­di­gen­de; sein Ge­sicht nahm so­fort einen ehr­fürch­ti­gen Aus­druck an.

Herr Wie­gand, sag­te ich, Sie sind Hof­lie­fe­rant und si­cher muss Ih­nen dar­an ge­le­gen sein, sich den Hof zu ver­pflich­ten.

Er ver­beug­te sich sehr de­vot und leg­te die Hand aufs Herz, um an­zu­deu­ten, dass – für den Hof! – er be­reit sei, auch sein Le­ben zu las­sen.

Also, Herr Wie­gand, fuhr ich fort, Sie wer­den sich die höchs­ten Herr­schaf­ten zu Dan­ke ver­bin­den, wenn Sie mir ei­ni­ge Fra­gen be­ant­wor­ten. Ver­kau­fen Sie wirk­lich viel von dem Pa­pier?

Herr, ich ma­che mein Ge­schäft da­mit. Es geht mit dem üb­ri­gen. Da­von al­lein könn­te ich na­tür­lich nicht le­ben.

Das kann ich mir den­ken. Sind Sie in der Lage, die haupt­säch­lichs­ten Ab­neh­mer für die­sen Ar­ti­kel nam­haft zu ma­chen? Mer­ken Sie wohl auf, Herr Wie­gand, den Kai­ser­li­chen Ho­hei­ten ist die prä­zi­se Beant­wor­tung die­ser Fra­ge von be­son­de­rer Wich­tig­keit!

 

Der Mann war ganz Be­reit­wil­lig­keit und Er­ge­ben­heit. Er knick­te förm­lich zu­sam­men, so oft ich der ho­hen Herr­schaf­ten Er­wäh­nung tat. Er dach­te nach und ge­stand dann, dass er für die­ses Pa­pier ei­gent­lich nur drei Kund­schaf­ten habe. Er lie­fe­re das Pa­pier für den ser­bi­schen Hof, dann sei Lady Prim­ro­se von der eng­li­schen Bot­schaft Ab­neh­me­rin, die stärks­te Kund­schaft sei aber Grä­fin Til­di Leys, die mo­nat­lich min­des­tens ein­mal er­schei­ne, um eine Kas­set­te zu kau­fen. Ich dan­ke Ih­nen, Herr Wie­gand, ich wer­de nicht er­man­geln, Ihre gü­ti­ge Be­reit­wil­lig­keit ho­hen Orts ent­spre­chend her­vor­zu­he­ben.

Dann ging ich. Ich war be­frie­digt. Denn nun war der Kreis doch schon recht eng ge­zo­gen. Also drei Aus­gangs­punk­te und alle drei ei­gent­lich gleich­wer­tig. So muss­te ich sie ein­schät­zen. Denn ich habe es mir bei mei­nem Me­tier zum Grund­satz ge­macht, von vorn­her­ein gar nichts als un­wahr­schein­lich an­zu­neh­men, wenn ich nicht gute Grün­de für eine sol­che An­nah­me hat­te.

An­zu­fan­gen war hier zwei­felsoh­ne mit der Grä­fin Leys. Nicht nur weil da die Nach­for­schung am leich­tes­ten und be­quems­ten schi­en, son­dern weil da schon eine be­stimm­te, viel­ver­spre­chen­de An­ga­be vor­lag. Der star­ke Ver­brauch war doch auf­fäl­lig.

Ich sah auf die Uhr: zehn Uhr. Aus den Post­stem­peln der Brie­fe hat­te ich er­kun­det, dass sie an ver­schie­de­nen Stel­len zwar, aber doch fast aus­nahms­los zur sel­ben Zeit, so ge­gen zwölf Uhr mit­tags auf­ge­ge­ben wor­den wa­ren.

Mei­nen Wa­gen di­ri­gier­te ich in die Reis­ner­stra­ße und ließ ge­gen­über von dem Palais Leys hal­ten, und da blieb ich nun in den Wa­gen zu­rück­ge­lehnt als Beo­b­ach­tungs­pos­ten. Bei mei­nem Ge­schäft muss man Ge­duld ha­ben. Ich ließ mich’s nicht ver­drie­ßen und hat­te ein schar­fes Auge dar­auf, wer aus dem Hau­se ging. Die Die­ner­schaft in­ter­es­sier­te mich nicht. Denn zwei­er­lei war mir schon klar ge­wor­den: ers­tens dass die Brie­fe nicht aus dem Krei­se der Die­ner­schaft her­vor­ge­gan­gen wa­ren. Wenn die Grä­fin mo­nat­lich un­ge­fähr nur eine Kas­set­te ver­brauch­te – was frei­lich un­ter nor­ma­len Ver­hält­nis­sen schon sehr viel war – so war es doch un­mög­lich, dass ihr un­be­merkt so viel von dem Pa­pier ge­stoh­len wer­den konn­te, als für jene mas­sen­haf­ten Brie­fe nö­tig war. Und zwei­tens: Wenn man schon sol­che Brie­fe schreibt, dann ver­traut man ihre Auf­ga­be nicht der Die­ner­schaft an. Der­lei be­sorgt man schon sel­ber und höchst per­sön­lich.

Un­ge­fähr eine Stun­de hat­te ich ge­war­tet, als aus dem Palast­to­re ein pom­pö­ser Por­tier her­austrat, um die Aus­fahrt ei­ner Equi­pa­ge1 zu si­chern. Ich gab mei­nem Kut­scher einen Wink. Wir fuh­ren dem Wa­gen nach.

So lan­ge wir fuh­ren, blieb ich ru­hig sit­zen; da konn­te nichts ge­sche­hen. Als aber nach ei­ner aus­gie­bi­gen, etwa halb­stün­di­gen Spa­zier­fahrt halt­ge­macht wur­de, sprang ich rasch aus dem Wa­gen. Wir wa­ren auf dem Schot­ten­ring, und der schöns­te Früh­lings­son­nen­schein be­leuch­te­te die Sze­ne­rie.

Ein ra­scher Blick be­lehr­te mich, dass ein Brief­kas­ten in der Nähe war. Aus der Equi­pa­ge stieg, un­ter­stützt von ei­nem am Schlag ste­hen­den Be­dien­ten, eine ele­gan­te jun­ge Dame von ganz au­ßer­or­dent­li­cher Schön­heit, blond, das rei­ne Ma­don­nen­ge­sicht. Sie schritt zum Brief­kas­ten. Ich war ra­scher dort, öff­ne­te die Klap­pe und hielt sie, als wol­le ich ihr den Vor­tritt las­sen oder gar be­hilf­lich sein. Sie dank­te mit ei­ner leich­ten Nei­gung des Kop­fes und ei­nem ver­bind­li­chen Lä­cheln. Als sie dann ih­ren Brief in den Spalt schie­ben woll­te, ent­riss ich ihn mit ei­nem ra­schen Schwung ih­ren Fin­gern und brach­te ihn in mei­ner Ta­sche in Si­cher­heit.

Ent­setzt und wie ge­lähmt blick­te sie auf mich; sie brach­te zu­nächst kein Wort her­vor und war dem Um­sin­ken nahe.

Ver­zei­hen Sie, Grä­fin, sag­te ich, das muss­te sein!

Nun erst fand sie wie­der Wor­te.

Wer sind Sie? Was wol­len Sie? Sie ha­ben da eine In­fa­mie be­gan­gen. Ge­ben Sie nur mei­nen Brief wie­der, oder ich neh­me die Hil­fe der Po­li­zei in An­spruch.

Das wäre das bes­te, was Sie tun könn­ten. Grä­fin. Ich ma­che dar­auf auf­merk­sam, dass wir ge­ra­de vor der Po­li­zei­di­rek­ti­on ste­hen – wenn es also ge­fäl­lig ist –! Ich habe hier noch ei­ni­ge Brie­fe, die wir zur Ver­glei­chung mit her­an­zie­hen könn­ten.

Ich zog ein Päck­chen Brie­fe aus der Ta­sche und zeig­te sie ihr. Sie wur­de sehr bleich und war nun nahe dar­an, ihre gan­ze Fas­sung zu ver­lie­ren. Der Be­dien­te, der jetzt erst zu be­mer­ken schi­en, dass da nicht al­les ganz in Ord­nung sei, rück­te nun her­an, gleich­sam zu ih­rem Schut­ze.

Vor al­len Din­gen, Grä­fin, schaf­fen Sie uns den Ben­gel vom Hal­se. Er braucht nicht zu hö­ren, was wir ver­han­deln.

Ein Blick von ihr be­or­der­te die Be­dien­ten­see­le zu­rück.

Und nun, Grä­fin, ge­stat­ten Sie, dass ich mich vor­stel­le. Ich hei­ße Da­go­bert Trost­ler, bin, was Sie viel­leicht be­ru­hi­gen wird, kei­ne Amts­per­son, bin aber von den Ho­hei­ten be­auf­tragt, dem häss­li­chen Spuk ein Ende zu ma­chen. Es war der letz­te der­ar­ti­ge Brief, den Sie ge­schrie­ben ha­ben.

Sie nick­te stumm, und wie sie so völ­lig ver­nich­tet da­stand, be­gann sie mir leid zu tun. Was wol­len Sie? Man hat sei­ne klei­nen Schwä­chen, und vor Frau­en­schön­heit habe ich nie recht stand­hal­ten kön­nen. Ja doch, sie war eine schwer Schul­di­ge, aber sie war rei­zend. Wir kön­nen da nicht ste­hen­blei­ben, re­de­te ich wei­ter auf sie ein. Wol­len Sie mich in Ihrem Wa­gen mit­neh­men, oder zie­hen Sie es vor, mit mir zu pro­me­nie­ren und uns un­se­re Wa­gen nach­fah­ren zu las­sen?

Sie zog das letz­te­re vor, und so mar­schier­ten wir denn trau­lich ne­ben­ein­an­der.

Was wer­den Sie jetzt tun, Herr Trost­ler? frag­te sie.

Was ich muss, Grä­fin. Ich wer­de mei­nen ho­hen Aus­trag­ge­bern Be­richt er­stat­ten.

Sie wer­den mei­nen Na­men nen­nen?

Ich muss wohl.

Da­mit wer­den Sie ein To­des­ur­teil ge­spro­chen ha­ben.

Ein ge­sell­schaft­li­ches To­des­ur­teil – viel­leicht. Es wäre kein un­ver­dien­tes.

Nicht nur ge­sell­schaft­lich. Wenn Sie das tun, dann lebe ich heu­te mei­nen letz­ten Tag.

Ich sah sie an. Das war nicht phra­sen­haft ge­spro­chen. In ih­ren Au­gen flim­mer­te et­was, was auf einen un­er­schüt­ter­li­chen Ent­schluss deu­te­te. Nun, wis­sen Sie, Frau Vio­let, man ist schließ­lich doch kein Un­mensch. Es war ein schmäh­li­ches, ein häss­li­ches Ver­bre­chen, das da be­gan­gen wor­den war. Die­se idea­le Mäd­chen­schön­heit hat­te Tag für Tag Wor­te nie­der­ge­schrie­ben, die einen Wacht­meis­ter von den Dra­go­nern hät­ten zum Er­rö­ten brin­gen müs­sen, aber ein Selbst­mord – das hät­te ich doch nicht gern aufs Ge­wis­sen ge­nom­men!«

»Sie ha­ben sie doch nicht etwa straf­los lau­fen las­sen, Herr Da­go­bert?« rief Frau Vio­let mit kaum ver­hoh­le­ner Ent­rüs­tung.

»Nein; Stra­fe muss sein. Ich war nur schwan­kend, ob es gleich die To­dess­tra­fe sein müss­te. Ich hat­te in mei­nem Ge­dächt­nis ei­ni­ge No­ti­zen über die gräf­li­che Fa­mi­lie Leys auf­ge­spei­chert. Der Va­ter der jun­gen Dame war Al­ko­ho­li­ker ge­we­sen und ist im De­li­ri­um ge­stor­ben, ein Bru­der war Epi­lep­ti­ker. Ohne Zwei­fel lag da eine erb­li­che Be­las­tung vor, durch wel­che al­lein die per­ver­se Nei­gung, so schänd­li­che Din­ge nie­der­zu­schrei­ben, bei die­sem jun­gen Mäd­chen zu er­klä­ren war.«