»Das ist kein Deckname. Das Geld gehört tatsächlich ihr!«
»Es wäre schlimm für uns, wenn es so wäre, aber es ist nicht so. Sehen Sie, Herr Generaldirektor, ohne es zu wollen, haben Sie mir zu einer von mir selbst nicht gewollten Karriere verholfen. Erst musste ich Verwaltungsrat werden, und dann wurde es unbedingt nötig, dass ich Zensor der Nationalbank wurde. Mit der mächtigen Hilfe unseres Präsidenten ging auch das. Ich musste es werden, um ganz genauen Einblick zu gewinnen. Mir können Sie also jetzt keine Romane über Ihre Frau Schwiegermama erzählen. Schließlich werde ich, und zwar heute noch, sogar Generaldirektor werden, aber nur für so lange, bis wir einen geeigneten Ersatz für Sie gefunden haben werden.«
»Sie tun immer, als wenn ich defraudiert hätte. Das werden Sie mir doch erst beweisen müssen!«
»Aber, lieber Generaldirektor – es ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass ich Sie so nennen darf –, begreifen Sie denn Ihre Situation noch immer nicht? Ich kann Ihnen mit wenigen Worten verraten, wie Sie es angestellt haben. Sie kannten Benk von früher her und wussten, dass es die Sehnsucht seines Lebens war, sich in Amerika, in der Atmosphäre der Freiheit, einen Wirkungskreis zu schaffen. Als er seine Bücher abgeschlossen hatte und seinen Urlaub antreten wollte, boten sie ihm sechzigtausend Kronen dafür, dass er spurlos verschwinde. Ein Makel könne auf seinen Namen nicht fallen, da er doch die Kasse in voller Ordnung übergeben und sein Absolutorium in der Tasche habe. Sein Verschwinden werde zwar Bestürzung aber sonst keinerlei Nachteil hervorrufen. Für Sie würde die Bestürzung von unermesslichem Vorteil zur Befestigung Ihrer Stellung sein. Denn Sie seien dann der einzige, der für den weiteren ungestörten Gang der Maschine sorgen könne, und damit sei Ihre Unentbehrlichkeit eklatant dokumentiert. Das sei Ihnen das Opfer wert. Benk ließ sich überreden, umso eher, als Sie ihn schon von der Schule her kannten. Sie duzten sich ja auch, nur freilich auf Ihren Wunsch in der Bank nicht.«
»Es ging einfach nicht – der anderen Beamten wegen.«
»Ich begreife. Nun konnte also der große Coup von Ihnen gewagt werden. Sie fühlten sich sicher. Der Verdacht würde doch auf den verschwundenen Kassier fallen. Sie konnten wissen oder doch mit gutem Grund annehmen, dass man aus Scheu vor dem öffentlichen Skandal von der gerichtlichen Anzeige absehen werde. Übrigens hatten Sie auch für diesen Fall Ihre Maßnahmen getroffen. Soll ich Sie Ihnen rekapitulieren?«
»Ich danke, ich verzichte.«
»Gut, so will ich nur andeuten, dass ich unter anderen auch bei der H. A. P. A. G. – das ist die Hamburg-amerikanische Paketboot-Aktiengesellschaft – einiges erhoben habe. Ich habe mir die Nummer der Kajüte notiert, die Sie auf der ›Kolumbia‹ gemietet hatten. Die Urlaubsverhältnisse hätten Ihnen hinlänglich Zeit zu dem wünschenswerten Vorsprung gewährt.«
»Was wollen Sie nun von mir?«
»Eine Kleinigkeit, Ihre Unterschrift. Sie haben das durch Vollmacht ausgewiesene Verfügungsrecht über das Depot Ihrer ›Schwiegermama‹ bei der Nationalbank. Das Depot reicht gerade aus, um den Schaden der A. B. B. zu decken. Diese Vollmacht werden Sie auf mich übertragen. Hier ist das vollständig adjustierte Schriftstück, Sie brauchen nur Ihren werten Namen darunter zu setzen.«
»Das werde ich nicht tun!«
»Wie Sie glauben, – genötigt wird nicht. Ich wollte Ihr Bestes, und nur wenn Sie sich selbst davon überzeugt haben, sollen Sie unterschreiben, sonst nicht. Die Verhältnisse haben sich nämlich zu Ihren Ungunsten verschoben, geehrter Herr. Alle Vorkehrungen zur Sicherung jenes Depots sind getroffen, falls Sie sich wirklich weigern sollten. Sie müssten sich nämlich klar machen, dass die A. B. B. jetzt keine Ursache mehr hat, die gerichtliche Anzeige zu scheuen. Der etwaige üble Eindruck der Nachricht von dem großen Unterschleif würde durch die Tatsache paralysiert werden, dass man nicht nur deren Urheber prompt erwischt, sondern auch für die sofortige Schadensgutmachung prompt gesorgt hat. Nun – was meinen Sie?«
Der Generaldirektor unterschrieb. Dagobert fertigte einen im Vorzimmer des Auftrages harrenden Vertrauensmann mit dem Schriftstück ab.
»Nur noch zwei Minuten«, nahm er dann wieder das Wort. »Die Nationalbank ist ja gleich daneben. Inzwischen kann ich Ihnen ja sagen, dass es eine sinnige Überraschung für unseren Herrn Präsidenten sein wird, eine unschuldige Freude, die er nicht erwartet hat. Denn ich habe weder ihm, noch sonst jemandem von dem Fortgange meiner Bemühungen berichtet. Ich liebe es, mit fertigen Tatsachen zu kommen. Man hat so seine Eigenheiten!«
Nach wenigen Minuten ertönte wirklich ein Signal vom Telefonapparat am Schreibtisch her. Der Generaldirektor legte die Hörmuschel ans Ohr.
»Die Nationalbank«, meldete er, »ich verstehe aber nicht –, der Mohr kann gehen – Schluss!«
»Ganz richtig!« rief Dagobert. »Das ist das Schlagwort, das ich mir bestellt habe zur Bestätigung, dass alles in Ordnung sei. Und jetzt, Herr Ringhoff, sind Sie Generaldirektor – gewesen! Erlauben Sie nur, dass ich die Türen öffne. Damit ist die Überwachung aufgehoben.«
Ringhoff nahm seinen Hut, verneigte sich und verließ die A. B. B., um sie nie wieder zu betreten.
1 französische Redewendung: ›Mach die Frau ausfindig!‹, gemeint ist: ›Da steckt eine Frau dahinter!‹ <<<
Seit einiger Zeit ward Andreas Grumbach, der Präsident des Klubs der Industriellen, durch häufig wiederkehrende anonyme Briefe behelligt, die indessen ihren Zweck nur in recht unvollkommenem Maße erfüllten. Andreas Grumbach zählt, vermöge seines Reichtums, seines Ansehens in geschäftlichen Kreisen und seiner gesellschaftlichen Stellung zu den Großen dieser Welt, und diese lassen sich durch Briefe so leicht nicht ins Bockshorn jagen. Wenn man täglich seine hundert und mehr Briefe empfängt und durchfliegt, so wird man bald doch recht abgestumpft, und mancher Absender würde sehr enttäuscht sein in seinen Erwartungen und etwaigen Hoffnungen, wenn er selber sähe, wie wenig tief die moralische Wirkung geht, die er mit seinem Schreiben zu erzielen gedachte. Da ist keine Spur mehr von jenen Gemütsbewegungen, welchen der beim Anblick eines Briefträgers unterworfen ist, der alle heiligen Zeiten einmal einen Brief erhält.
Andreas Grumbach kannte die Briefe bald. Es war immer dasselbe eigentümliche Papier und sie wiesen immer dieselbe eigentümliche steile Handschrift auf, und er warf sie nun immer uneröffnet in den Papierkorb. Damit wäre die Sache abgetan gewesen. Es kam aber etwas dazu, was den Fall einigermaßen komplizierte. Auch Grumbachs Gemahlin wurde mit derartigen Briefen förmlich überschüttet und sie brachte ihnen gegenüber nicht dieselbe kühle Philosophie auf, wie ihr Mann. Sie war unglücklich, weinte viel, ward nervös und getraute sich gar nicht mehr unter die Leute. Alles Zureden half nichts. Sie kam aus den Erregungen gar nicht mehr heraus, sie hatte keine frohe Stunde mehr und ihr Leben war geradezu zerstört.
Auch Frau Grumbach nahm eine hervorragende Stellung in der Gesellschaft ein und sie war auf sie ängstlicher bedacht, als es wohl unumgänglich nötig gewesen wäre. Denn niemand dachte daran, sie zu bestreiten oder gar zu untergraben; aber in ihr selbst wirkte noch ein Gefühl der Unsicherheit. Sie war die kleine Schauspielerin Violet Moorlank, als Grumbach sie nahm, und daher noch die Unsicherheit. Nie hatte sich zwar die üble Nachrede an sie herangewagt, aber die heimliche Angst, dass die Gesellschaft sie nicht werde anerkennen und für voll nehmen wollen, war sie doch niemals ganz los geworden. Diese Angst war nun ganz überflüssig; denn ihres Gatten Ansehen war gefestigt und stark genug, um auch ihre Stellung zu einer durchaus unangefochtenen zu machen, aber sie bestand einmal, war nie ganz auszutilgen und ward nun natürlich maßlos gesteigert durch jene infamen Briefe mit ihrem tückischen, hämischen und unsäglich gemeinem Inhalt.
Da entschloss sich denn Andreas Grumbach, doch alles daranzusetzen, um der Sache womöglich ein Ende zu machen. Er hatte ja seinen Freund Dagobert Trostler, den gedienten Lebemann, dessen große Passion es war, sich in der ihm reichlich zugemessenen Zeit der Muße als Amateurdetektiv zu betätigen. Der hatte ihm schon in manchen schwierigen und heiklen Fällen mit seiner Findigkeit und Kunst der Kombination wesentliche Dienste geleistet, er würde sicherlich auch da Rat schaffen können.
Dagobert war Hausfreund bei Grumbachs, und als sie nun wieder einmal zu dritt bei Tische saßen, setzte ihm Grumbach den Fall auseinander, indem er ihm zunächst nur von jenen Briefen sprach, die ihm gesandt worden waren.
»Also das ist es, Frau Violet!« entgegnete Dagobert, sich an die Hausfrau wendend. »Wissen Sie, Gnädigste, dass ich schon ernstlich böse war auf Sie! Sie haben einen Kummer und halten ihn geheim vor mir, sagen mir kein Sterbenswörtchen. Gehört sich das?«
»Wer spricht denn von mir?«
»Wir sprechen nur von Ihnen. Ihr Mann ist ein – Mann und ein Mann setzt sich leicht über gewisse Bübereien hinweg. Ich müsste mich aber schlecht verstehen auf die Psychologie jener anonymen Bestien, wenn ich annähme, dass sie sich damit begnügten, nur den Mann zu quälen, wo sich ihnen eine so schöne Gelegenheit darbietet, auch die Frau zu malträtieren. Das ist ja immer noch das dankbarere und sicherere Unternehmen.«
»Dagobert, vor Ihnen kann man wirklich nichts geheimhalten!« entgegnete Frau Violet. »Nun denn – ja; ich werde malträtiert mit diesen fürchterlichen Briefen, und sie werden mich noch zur Verzweiflung treiben.«
»Es war mir nach den Andeutungen Ihres Mannes nicht schwer, Ihrem Kummer auf den Grund zu kommen. Dass ein Kummer bestand, wusste ich und habe ich Ihnen längst angesehen. Da Sie aber fortgesetzt schwiegen, durfte ich nicht fragen. Wollen Sie mir die Briefe zeigen?«
»Nicht um die Welt!«
»Ich begreife; sie sind zu unflätig, aber schließlich – es wird doch nötig sein, wenn wir versuchen wollen, den Täter oder – die Täterin zu entdecken.«
»Die Täterin? So schreibt keine Frau!«
»Hüten wir uns vor vorgefassten Meinungen! Sie kennen meine Anschauungen, Frau Violet. In allem Guten und Großen stelle ich die Frau höher als den Mann; in allem Bösen, oder sagen wir lieber in aller Bosheit stelle ich sie tiefer. Jedenfalls geben Sie mir die Briefe und zwar alle, die Sie haben. Grumbach hat die seinigen weggeworfen. Das war übereilt und ist sehr schade. Je mehr Material ich habe, desto eher kann ich hoffen, eine Spur zu entdecken.«
Frau Violet brachte die Briefe, einen ganzen Stoß, wohl an sechzig oder achtzig Stück.
»Sie dürfen sie aber nicht in meiner Gegenwart lesen«, verwahrte sich Frau Violet, »ich müsste vor Scham in die Erde sinken.«
»Ich werde sie zu Hause studieren«, beruhigte sie Dagobert. »Untersuchen wir also hier zunächst nur einige Äußerlichkeiten. Die Briefe sind alle vollkommen gleichförmig. Resedagrünes Papier mit der Ambition elegant zu sein, und dabei doch nur eine billige und schlechte Imitation des gediegenen geschöpften holländischen Büttenpapieres – leider!«
»Warum – ›leider‹, Dagobert?«
»Weil ich schon im Stillen gewisse Hoffnungen gehegt hatte. Ich hatte nämlich schon einmal einen Fall mit anonymen Briefen. Der war aber kinderleicht. Der vorliegende scheint weitaus schwieriger zu sein.« »Was war das für ein Fall? Das müssen Sie erzählen, Dagobert!«
»Mit Vergnügen, meine Gnädigste, aber vorläufig wollen wir bei der Sache bleiben. Alles deutet darauf hin, dass der Absender oder die Absenderin mit großer Vorsicht arbeitet. Die Schrift nämlich lässt einen Schluss auf das Geschlecht nicht zu. Ich darf das sagen; denn was in Sachen der Grafologie durch Studium und Beobachtung zu erlernen ist, das habe ich zu lernen mich redlich bemüht.«
Dagobert prüfte die Adressen mit einer Taschenlupe und dachte dann intensiv nach. Dabei drehte er ganz in sich versunken an seinem Petrusschöpfchen, dass es sich bald in die Höhe reckte fast wie der Schopf eines Clowns.
»Da geht Männliches und Weibliches durcheinander, dass man förmlich verrückt werden könnte«, sagte er vor sich hin. »Das ist entweder ein sehr männliches Frauenzimmer oder ein weibischer Mann. Haben Sie gar keinen Verdacht, Frau Violet?«
»Nicht die leiseste Ahnung!«
»Auf die Grafologie dürfen wir hier also keine besonderen Hoffnungen setzen. Bei verstellter Handschrift – und hier ist sie mit System und Konsequenz verstellt – muss sie versagen. Hier können wir nur annehmen, dass die Hand, die das schrieb, für gewöhnlich eine schräge Schrift schreibt. Das ist alles. Durch die steile, aufrechte Stellung hier ist der Schriftcharakter natürlich völlig verändert, und es ist sehr die Frage, ob die Briefe mir genügende Anhaltspunkte bieten werden, den Originalcharakter zu rekonstruieren.«
»Sie haben also keine Hoffnung, Dagobert, den Schurken zu entlarven?«
»Der Fall interessiert mich, und ich werde mir Mühe geben. Vor allen Dingen muss ich das Material studieren. Es wäre ja auch möglich, dass aus dem Inhalt der Briefe, aus dem Stil, aus einzelnen Wendungen, aus der Orthografie Anhaltspunkte zu gewinnen wären. Im vorhinein lässt sich da gar nichts sagen. Wie vorsichtig gearbeitet wird, das können Sie beispielsweise aus den Poststempeln ersehen. Da sehen Sie, fast jeder Brief trägt einen anderen Stempel. Hier Postamt 66, hier Postamt 125, hier Postamt 13, 47, 59 – die Briefe wurden auf weiten Spaziergängen oder Spazierfahrten aufgegeben. Da geht es freilich nicht an, ein bestimmtes Postamt oder einen bestimmten Briefkasten zu überwachen.«
»Sie haben also wirklich keine Hoffnung?«
»Ich sagte, dass ich mir Mühe geben werde, also habe ich Hoffnung.«
»Das klingt recht zuversichtlich, Dagobert.«
»Schließlich darf man sich ja auch etwas zutrauen!«
»Sie sagten, dass Sie schon einen ähnlichen Fall gehabt hätten, Dagobert. Wie war es damit?« Frau Violet war begreiflicherweise sehr neugierig, darüber Näheres zu erfahren.
»Der Fall war, wie ich schon erwähnte, sehr einfach, aber er hat mir gleichwohl viel Vergnügen gemacht. Eines Tages erscheint der Adjutant des Erzherzogs Othmar bei mir und bescheidet mich in das erzherzogliche Palais. Ich gehe also gleich mit, und in einer Privataudienz macht mir der Erzherzog die schmeichelhafte Eröffnung, dass er mit ganz besonderem Interesse von einigen meiner Leistungen als Amateurdetektiv gehört habe. Auch er hätte nun einen Auftrag, beziehungsweise eine Bitte. Natürlich stellte ich mich sofort zur Verfügung und bemerkte, dass Seine Kaiserliche Hoheit nur zu befehlen hätte.
Der Fall lag wie hier. Es handelte sich um anonyme Briefe, und auch hier war nicht nur der Herr des Hauses, sondern auch seine durchlauchtigste Gemahlin mit ihnen bedacht worden. Der Erzherzog sagte mir, dass ihm viel daran läge, den Schreiber zu ermitteln, dass es ihm aber widerstrebe, sich an die Polizei zu wenden. Nach allem, was er gehört, hätte er in dieser Sache mehr Vertrauen zu mir.
Schön. Ich ließ mir die Briefe geben. Das war erstaunlich; es waren ihrer Hunderte! Ich nahm sie mit.«
»Waren sie auch so gemein?« fragte Frau Violet gespannt.
»O, meine Gnädigste, was man Ihnen auch geschrieben haben mag, es ist unmöglich, dass die Unflätigkeit und Gemeinheit, die dort aufgestapelt ward, erreicht, geschweige denn überboten worden ist.«
»Und Sie haben diese Schufterei enthüllt?!«
»Ich hatte Glück. Die Sache war in vierundzwanzig Stunden erledigt.«
»Erzählen Sie, Dagobert!«
»Als ich die Briefe an mich nahm, war auch dort meine erste Frage natürlich, ob die Hoheiten etwa schon einen Verdacht oder einen Anhaltspunkt hätten. Die Frage wurde verneint. Ich nahm also die Briefe mit nach Hause, las sie aufmerksam durch und überlegte dann reichlich zwei Stunden, ohne jedoch zu irgendeinem nennenswerten Resultat zu kommen. Der erste halbe Tag verging, ohne dass mir eine halbwegs vernünftige Idee eingefallen wäre. Erst in der Nacht, förmlich im Schlafe kam mir die Erleuchtung. Ich hatte mich zu Bett begeben, und nach langen fruchtlosen Bemühungen einzuschlafen, war endlich der erste Schlummer über mich gekommen, aus dem ich aber bald wie im Schrecken auffuhr. Nun war mit einem Male die Idee da, auf der sich weiter bauen ließ. Die Briefe lagen auf meinem Nachtkästchen. Ein feiner Chypreduft war von ihnen aus mir in die Nase gefahren. Chypre ist ein vornehmes Parfüm. Ich machte Licht, so viel Licht, als überhaupt möglich war und nahm die Briefe wieder vor. Da wurde mir sofort eines klar: das ganze intensive Studium der Schrift und des Inhalts der Briefe war vorderhand vollkommen überflüssig und nutzlos gewesen. Ich musste mich da nur an Äußerlichkeiten halten und konnte nur von diesen ausgehen. Bei aller Niedrigkeit des Inhalts umgab doch eine gewisse vornehme Atmosphäre die Briefe. Gewiss, auch da konnte bewusste, auf Täuschung und Irreführung gerichtete Absichtlichkeit mitspielen, aber immerhin – sie wies auf ein vornehmes Haus, wenn schon nicht auf vornehme Provenienz überhaupt. Es konnte ja ein tückischer Lakai oder eine boshafte Zofe die Hand im Spiele haben. Sie konnten das parfümierte Papier der Herrschaft entwendet haben. Von dem Parfüm erhoffte ich allerdings keine Aufklärung, aber – das Papier! Ich bin Kenner in Papiersorten. Es war das köstlichste und, ich kann sagen, das kostbarste Luxuspapier, das mir je in die Hände geraten war. Es war also ein ziemlich kostspieliger Luxus, solche Briefe massenhaft in die Welt zu senden, und wenn der Absender das Papier nicht stahl, dann musste er wohl in der Lage sein, sich diesen Luxus zu gönnen.
In aller Frühe setzte ich mich in meinen Unnummerierten und fuhr bei einigen besseren Papierhandlungen vor. Ich legte ein abgerissenes, unbeschriebenes Blatt eines Briefes vor und verlangte jene Sorte. Auf die Auskunft, die ich erhielt, war ich von vornherein gefasst gewesen. Diese Sorte führten sie nicht: sie sei zu teuer und fände wohl keinen Absatz. Die Auskunft freute mich. Damit war der Kreis für meine Nachforschungen schon bedeutend enger gezogen.
Nun betrat ich mit einiger Spannung den Laden ›L. Wiegand, k. k. Hoflieferant‹ am Graben. Ich wusste, dass dieses Geschäft zweifellos die vornehmste Kundschaft der Stadt habe. Ich zeigte das Muster, und der Chef, der mich persönlich bediente, legte mir sofort die gewünschte hochelegante Kassette mit hundert Bogen und den dazu gehörigen Umschlägen vor. ›Sechzig Kronen!‹ Ich kaufte, erbat aber eine Unterredung unter vier Augen.
Der Mann führte mich in das kleine Kontor, das sich hinten an seinen Laden schloss.
Ich möchte von Ihnen erfahren, Herr Wiegand, begann ich, ob dieses Papier auch noch in einem anderen Geschäft in Wien verkauft wird.
Ganz bestimmt nicht, erwiderte er selbstbewusst. Die Bezugsquelle ist mein Geheimnis.
Es ist englisches Fabrikat, schaltete ich ein, um ein wenig mit meiner Sachkenntnis zu protzen.
Allerdings, aber es gibt nur eine Fabrik, die es erzeugt. Für die anderen Geschäfte, fügte er geringschätzig hinzu, ist das auch kein Artikel. Es würde ihnen liegen bleiben.
Verkaufen Sie viel davon?
O, sehr viel! Ich bin zufrieden.
Ich sah, dass ich die Geschichte nicht ganz richtig angepackt hatte. Wenn ich den jetzt noch weiter renommieren ließ, dann kam ich von meinem Ziele nur immer mehr ab. Ich nahm also, gewissermaßen um mich zu legitimieren, ein Dutzend Briefe aus der Tasche und zeigte ihm die Aufschriften. Die Wirkung war eine befriedigende; sein Gesicht nahm sofort einen ehrfürchtigen Ausdruck an.
Herr Wiegand, sagte ich, Sie sind Hoflieferant und sicher muss Ihnen daran gelegen sein, sich den Hof zu verpflichten.
Er verbeugte sich sehr devot und legte die Hand aufs Herz, um anzudeuten, dass – für den Hof! – er bereit sei, auch sein Leben zu lassen.
Also, Herr Wiegand, fuhr ich fort, Sie werden sich die höchsten Herrschaften zu Danke verbinden, wenn Sie mir einige Fragen beantworten. Verkaufen Sie wirklich viel von dem Papier?
Herr, ich mache mein Geschäft damit. Es geht mit dem übrigen. Davon allein könnte ich natürlich nicht leben.
Das kann ich mir denken. Sind Sie in der Lage, die hauptsächlichsten Abnehmer für diesen Artikel namhaft zu machen? Merken Sie wohl auf, Herr Wiegand, den Kaiserlichen Hoheiten ist die präzise Beantwortung dieser Frage von besonderer Wichtigkeit!
Der Mann war ganz Bereitwilligkeit und Ergebenheit. Er knickte förmlich zusammen, so oft ich der hohen Herrschaften Erwähnung tat. Er dachte nach und gestand dann, dass er für dieses Papier eigentlich nur drei Kundschaften habe. Er liefere das Papier für den serbischen Hof, dann sei Lady Primrose von der englischen Botschaft Abnehmerin, die stärkste Kundschaft sei aber Gräfin Tildi Leys, die monatlich mindestens einmal erscheine, um eine Kassette zu kaufen. Ich danke Ihnen, Herr Wiegand, ich werde nicht ermangeln, Ihre gütige Bereitwilligkeit hohen Orts entsprechend hervorzuheben.
Dann ging ich. Ich war befriedigt. Denn nun war der Kreis doch schon recht eng gezogen. Also drei Ausgangspunkte und alle drei eigentlich gleichwertig. So musste ich sie einschätzen. Denn ich habe es mir bei meinem Metier zum Grundsatz gemacht, von vornherein gar nichts als unwahrscheinlich anzunehmen, wenn ich nicht gute Gründe für eine solche Annahme hatte.
Anzufangen war hier zweifelsohne mit der Gräfin Leys. Nicht nur weil da die Nachforschung am leichtesten und bequemsten schien, sondern weil da schon eine bestimmte, vielversprechende Angabe vorlag. Der starke Verbrauch war doch auffällig.
Ich sah auf die Uhr: zehn Uhr. Aus den Poststempeln der Briefe hatte ich erkundet, dass sie an verschiedenen Stellen zwar, aber doch fast ausnahmslos zur selben Zeit, so gegen zwölf Uhr mittags aufgegeben worden waren.
Meinen Wagen dirigierte ich in die Reisnerstraße und ließ gegenüber von dem Palais Leys halten, und da blieb ich nun in den Wagen zurückgelehnt als Beobachtungsposten. Bei meinem Geschäft muss man Geduld haben. Ich ließ mich’s nicht verdrießen und hatte ein scharfes Auge darauf, wer aus dem Hause ging. Die Dienerschaft interessierte mich nicht. Denn zweierlei war mir schon klar geworden: erstens dass die Briefe nicht aus dem Kreise der Dienerschaft hervorgegangen waren. Wenn die Gräfin monatlich ungefähr nur eine Kassette verbrauchte – was freilich unter normalen Verhältnissen schon sehr viel war – so war es doch unmöglich, dass ihr unbemerkt so viel von dem Papier gestohlen werden konnte, als für jene massenhaften Briefe nötig war. Und zweitens: Wenn man schon solche Briefe schreibt, dann vertraut man ihre Aufgabe nicht der Dienerschaft an. Derlei besorgt man schon selber und höchst persönlich.
Ungefähr eine Stunde hatte ich gewartet, als aus dem Palasttore ein pompöser Portier heraustrat, um die Ausfahrt einer Equipage1 zu sichern. Ich gab meinem Kutscher einen Wink. Wir fuhren dem Wagen nach.
So lange wir fuhren, blieb ich ruhig sitzen; da konnte nichts geschehen. Als aber nach einer ausgiebigen, etwa halbstündigen Spazierfahrt haltgemacht wurde, sprang ich rasch aus dem Wagen. Wir waren auf dem Schottenring, und der schönste Frühlingssonnenschein beleuchtete die Szenerie.
Ein rascher Blick belehrte mich, dass ein Briefkasten in der Nähe war. Aus der Equipage stieg, unterstützt von einem am Schlag stehenden Bedienten, eine elegante junge Dame von ganz außerordentlicher Schönheit, blond, das reine Madonnengesicht. Sie schritt zum Briefkasten. Ich war rascher dort, öffnete die Klappe und hielt sie, als wolle ich ihr den Vortritt lassen oder gar behilflich sein. Sie dankte mit einer leichten Neigung des Kopfes und einem verbindlichen Lächeln. Als sie dann ihren Brief in den Spalt schieben wollte, entriss ich ihn mit einem raschen Schwung ihren Fingern und brachte ihn in meiner Tasche in Sicherheit.
Entsetzt und wie gelähmt blickte sie auf mich; sie brachte zunächst kein Wort hervor und war dem Umsinken nahe.
Verzeihen Sie, Gräfin, sagte ich, das musste sein!
Nun erst fand sie wieder Worte.
Wer sind Sie? Was wollen Sie? Sie haben da eine Infamie begangen. Geben Sie nur meinen Brief wieder, oder ich nehme die Hilfe der Polizei in Anspruch.
Das wäre das beste, was Sie tun könnten. Gräfin. Ich mache darauf aufmerksam, dass wir gerade vor der Polizeidirektion stehen – wenn es also gefällig ist –! Ich habe hier noch einige Briefe, die wir zur Vergleichung mit heranziehen könnten.
Ich zog ein Päckchen Briefe aus der Tasche und zeigte sie ihr. Sie wurde sehr bleich und war nun nahe daran, ihre ganze Fassung zu verlieren. Der Bediente, der jetzt erst zu bemerken schien, dass da nicht alles ganz in Ordnung sei, rückte nun heran, gleichsam zu ihrem Schutze.
Vor allen Dingen, Gräfin, schaffen Sie uns den Bengel vom Halse. Er braucht nicht zu hören, was wir verhandeln.
Ein Blick von ihr beorderte die Bedientenseele zurück.
Und nun, Gräfin, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich heiße Dagobert Trostler, bin, was Sie vielleicht beruhigen wird, keine Amtsperson, bin aber von den Hoheiten beauftragt, dem hässlichen Spuk ein Ende zu machen. Es war der letzte derartige Brief, den Sie geschrieben haben.
Sie nickte stumm, und wie sie so völlig vernichtet dastand, begann sie mir leid zu tun. Was wollen Sie? Man hat seine kleinen Schwächen, und vor Frauenschönheit habe ich nie recht standhalten können. Ja doch, sie war eine schwer Schuldige, aber sie war reizend. Wir können da nicht stehenbleiben, redete ich weiter auf sie ein. Wollen Sie mich in Ihrem Wagen mitnehmen, oder ziehen Sie es vor, mit mir zu promenieren und uns unsere Wagen nachfahren zu lassen?
Sie zog das letztere vor, und so marschierten wir denn traulich nebeneinander.
Was werden Sie jetzt tun, Herr Trostler? fragte sie.
Was ich muss, Gräfin. Ich werde meinen hohen Austraggebern Bericht erstatten.
Sie werden meinen Namen nennen?
Ich muss wohl.
Damit werden Sie ein Todesurteil gesprochen haben.
Ein gesellschaftliches Todesurteil – vielleicht. Es wäre kein unverdientes.
Nicht nur gesellschaftlich. Wenn Sie das tun, dann lebe ich heute meinen letzten Tag.
Ich sah sie an. Das war nicht phrasenhaft gesprochen. In ihren Augen flimmerte etwas, was auf einen unerschütterlichen Entschluss deutete. Nun, wissen Sie, Frau Violet, man ist schließlich doch kein Unmensch. Es war ein schmähliches, ein hässliches Verbrechen, das da begangen worden war. Diese ideale Mädchenschönheit hatte Tag für Tag Worte niedergeschrieben, die einen Wachtmeister von den Dragonern hätten zum Erröten bringen müssen, aber ein Selbstmord – das hätte ich doch nicht gern aufs Gewissen genommen!«
»Sie haben sie doch nicht etwa straflos laufen lassen, Herr Dagobert?« rief Frau Violet mit kaum verhohlener Entrüstung.
»Nein; Strafe muss sein. Ich war nur schwankend, ob es gleich die Todesstrafe sein müsste. Ich hatte in meinem Gedächtnis einige Notizen über die gräfliche Familie Leys aufgespeichert. Der Vater der jungen Dame war Alkoholiker gewesen und ist im Delirium gestorben, ein Bruder war Epileptiker. Ohne Zweifel lag da eine erbliche Belastung vor, durch welche allein die perverse Neigung, so schändliche Dinge niederzuschreiben, bei diesem jungen Mädchen zu erklären war.«