Geschichten eines Geistreisenden

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Geschichten eines Geistreisenden

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Neues aus Joaquins Bar

© 2015 Axel Kruse

© 2016 Begedia Verlag

Umschlaggestaltung: Harald Giersche

Lektorat und ebook-Bearbeitung: Harald Giersche

ISBN: 978-3-95777-074-5 (epub)

Für meine Mutter,

bleib so, wie Du bist!

Vorwort

Axel Kruse hat unlängst in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegen genommen. Sie wissen das nicht, haben noch nie davon gehört? Dann befinden wir uns anscheinend nicht in derselben Zeitebene. Macht ja nichts! Vielleicht begegnen wir uns irgendwo in einer anderen Dimension, Parallelwelt oder dergleichen. Darauf muss man bei Axel Kruse immer gefasst sein. Mit seinem Roman »Neues aus Joaquins Bar« erweist er sich einmal mehr als Meister der Zeitreisen und Zeitsprünge. Wie in seinem preisgekrönten Werk »Seitwärts in die Zeit« wird man auch in seinem neuen Buch in eine ganz eigene Welt entführt. Nach einem bodenständigen Anfang durchdringt zunehmend Science Fiction den Handlungsablauf. Dabei werden seine Protagonisten immer wieder mit ungewöhnlichen, ja skurrilen Situationen konfrontiert. Rätselhaft entfaltet sich die Handlung und es werden jede Menge Fragen aufgeworfen auf die es keine plausiblen Antworten zu geben scheint. Die Story nimmt ungewöhnliche Wendungen, was für eine Vielzahl von Spannungselementen sorgt. Und dazwischen immer wieder die Bar mit Joaquins abstrusen Verschwörungstheorien.

Im Plot verstecken sich autobiographische Erlebnisse des Autors. Ob Daten, Orte des Geschehens, Personen oder Handlungsweisen, es schimmert an vielen Stellen latent etwas Axel Kruse durch die Zeilen. Dabei lernt man unausweichlich die Gegend um Essen und Kettwig näher kennen. Aber man erahnt auch dessen Schulalltag bei dem die meisten der Leser sich sicherlich an ihre eigene Schulzeit erinnern werden – Stichwort Hausaufgaben.

Darüber hinaus werden aber auch essentielle Fragen unserer Zeit behandelt, wobei der Autor zu den Themen Pazifismus, Nationalsozialismus, Antifaschismus, Ökologie und auch zum aktuellen Problem der Situation von Flüchtlingen Stellung bezieht.

Alles in allem bietet »Neues aus Joaquins Bar« ein unterhaltsames und zum Nachdenken anregendes Lesevergnügen, welches den Horizont erweitert und die Gedanken auf eine Reise ins Unbekannte schickt.

Dr. Sven Edmund Reiter, Güstrow

Wiedersehen

Alle zwei Jahre findet bei uns in Essen-Kettwig an unserer alten Schule, dem Theodor-Heuss-Gymnasium, am ersten Samstag im September ein Ehemaligentreffen statt. Es ist regelmäßig schlecht besucht, will meinen, aus meinem Jahrgang, der seinerzeit sicherlich so an die hundert Leute zählte, sind nur fünf bis zehn anwesend. Schlechte Quote also, trotzdem versuche ich immer dabei zu sein. Warum? Ich weiß es selber nicht so genau, einen wirklich engen Kontakt zu meinen Mitschülern hatte ich weder damals noch heute, aber irgendwie zieht es mich doch hin.

So auch dieses Mal. Die Anzahl der anwesenden damaligen Mitstreiter war auch dieses Jahr überschaubar, aber ich hatte Glück, ein alter Kumpel, den ich bereits seit mehr als zwanzig Jahren aus den Augen verloren hatte, hatte den Weg nach Kettwig gefunden. Wir setzten uns etwas abseits und klönten rum, später dann, als der amtierende Direktor gegen zweiundzwanzig Uhr einfach das Licht ausschaltete, um die Gäste hinauszukomplimentieren und die Schule endlich abschließen zu können, schlug ich vor, den Abend in Joaquins Bar ausklingen zu lassen.

»Joaquins Bar?«, fragte er irritiert. »Kenne ich gar nicht, ist die neu in Kettwig?«

Ich kam mir grandios in der Rolle des allwissenden Gastgebers vor. »Nein, nicht neu, aber ein Insidertipp, du wirst erstaunt sein.« So folgte er meiner Führung. Unser Weg führte uns von unserer alten Schule durch Kettwigs wunderschöne Altstadt in Richtung des Marktplatzes und der Kirche, die wir zur Hälfte umrundeten und uns noch einen Blick vom Aussichtspunkt über den Kettwiger Stausee gönnten, bevor wir die Kirchtreppe hinabstiegen und dann ... aber das wissen Sie ja, mehr darf ich nicht verraten, Joaquin liebt Diskretion und handverlesene Gäste.

Obwohl Joaquin ja recht konservativ in seinen Werten ist, hat er eine Neuerung eingeführt. Die Tür zum Gastraum hat jetzt einen automatischen Schließmechanismus. Allerdings ist dies kein gewöhnlicher, sondern ein althergebrachter. Er besteht aus einem etwa schädelgroßen Stein, und einem simplen Seilsystem, das über Rollen an der Tür zur Wand geführt wird. Sobald jemand die Tür öffnet, wird der Stein nach oben gezogen und sobald die Tür losgelassen wird, zieht die Schwerkraft den Stein wieder nach unten und die Tür wird geschlossen. An sich nichts Ungewöhnliches, in alten Zeiten muss so ein Mechanismus weit verbreitet gewesen sein. Neu war hier jedoch, dass der Stein, wie bereits erwähnt etwa schädelgroß, in grün angestrichen war. Er war außerdem mit Augen versehen worden. Sah man nicht so genau hin, dann glich er verblüffend dem Kopf eines dieser Rosswell-Aliens, Sie wissen schon, was ich meine.

Der Gastraum war vollkommen leer. Thomas, mein Freund, blickte sich um und sah mich an. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Ich reagierte sofort. »Wir sind etwas früh, hier geht es erst zu später Stunde richtig los, warte es ab.«

Er nickte. Noch schien ich in seinen Augen vertrauenswürdig zu sein. Wir setzten uns an die Bar, warteten ein wenig und schon stürzte Joaquin herein. Er hatte sich hinten im Lagerraum aufgehalten. Als er mich erblickte, hellten sich seine Gesichtszüge sofort auf. Er brauchte nicht lange, dann standen zwei Bier vor uns auf dem Tresen.

»Du hast einen neuen Türschließer«, wagte ich anzumerken. Neutral genug, so dass er sich nicht beleidigt fühlen konnte.

Er nickte eifrig. »Ja, kolossale Erwerbung meinerseits, nicht wahr? So wissen sie immer, wo sie einkehren können!«

Irritiert blickte Thomas ihn an. »Wer?«, fragte er und gab Joaquin damit sein Stichwort.

»Na, die Aliens natürlich. Ist schon schwer für sie, hier bei uns eine adäquate Kneipe zu finden.« Mit diesen Worten eilte er hinfort, um gerade neu angekommene Gäste zu begrüßen.

Thomas sah mich völlig perplex an, der Abend versprach interessant zu werden.

»Nun erzähl mal, wie es dir so ergangen ist«, fragte ich ihn, hatte doch fast ausschließlich ich bislang unsere Unterhaltung bestritten, er hatte noch so gut wie gar nichts erzählt.

Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, sah noch einmal hinein und sagte dann: »Willst du das wirklich wissen?« Theatralisch, ja, ich weiß, aber genauso hat es sich zugetragen.

Ich nickte. »Was hast du denn nach der Schulzeit gemacht? Ich meine, nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten. Dass du direkt im Anschluss Maschinenbau studiert hast, weiß ich ja noch.« Irgendwie hatten damals alle, na ja, recht viele aus meinem Bekanntenkreis, Maschinenbau studiert. Ging mir vollkommen ab, aber solche Menschen muss es ja auch geben.

»Bist du schon einmal gestorben?«, fragte er mich unvermittelt.

Völlig verblüfft ob dieser Frage, verschluckte ich mich an meinem Bier und hustete erst einmal meine Kehle wieder frei. »Natürlich nicht«, antwortete ich dann. Was wollte er mir erzählen?

Die erste Wiederholung

»Ich schon«, erwiderte er und nahm noch einen tiefen Schluck aus seinem Glas, bevor er begann:

Es war an einem Septembertag, ein Montag. Ich hatte den ganzen Tag über im Büro bereits so einen Druck auf der Brust, schrieb es dem Wetter zu. Habe ich auch meinem Kollegen gesagt, der schaute mich nur kurz an und meinte dann, dass das Wetter doch genauso sei wie immer, keine Schwüle, eher kühl. Ich dachte noch bei mir: Der kriegt mal wieder gar nichts mit, aber weit gefehlt.

Auf der Fahrt nach Hause wurde es schlimmer, als ich dann endlich mein Zuhause erreichte, war es kaum noch zum Aushalten. Ich legte mich kurz auf die Couch im Wohnzimmer, das brachte aber auch keine Linderung. Weder meine Frau noch eines meiner Kinder war anwesend, so überlegte ich alleine, was denn zu tun sei. Zum Arzt fahren? Die Praxis war um diese Uhrzeit bereits geschlossen. Zur Notaufnahme ins Krankenhaus? Den Notarzt anrufen? Zuerst ging ich einmal zur Toilette, da mir übel wurde, äußerst übel. Dort angelangt musste ich mich übergeben und zwar so stark, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Dann kam der Schmerz! Der Schmerz, der in der Brust begann und sich übergangslos in beide Arme fortsetzte. Ich brach vor der Toilette zusammen, der Schmerz wurde immer schlimmer, ich verlor das Bewusstsein.

Irgendwann wachte ich dann wieder auf. Mein Vater strich mir mit seiner Hand über den Kopf. »Thomas, es ist Zeit zum Aufstehen«, sagte er und betrieb damit das uralte Ritual, unser Ritual, als ich noch bei meinen Eltern wohnte.

Ich blinzelte, vom Flur fiel etwas Licht ins Kinderzimmer auf mein Gesicht. »Weck deinen kleinen Bruder nicht auf«, ermahnte mich mein Vater. »Er muss erst später aufstehen.«

Ich verstand nichts mehr, was war geschehen? Egal, das würde ich später ergründen, jetzt verspürte ich erst einmal ein dringendes Bedürfnis meine Notdurft zu verrichten. Ich sprang aus dem oberen Bett des Doppelstockbettes heraus, logischerweise, wie fast immer früher, landete ich auf einem der meinem Bruder gehörenden Legosteine, die flächendeckend auf dem Fußboden verteilt waren. Der Schmerz überzeugte mich davon, dass ich nicht träumte.

Ich schlich mich in den Flur, der grün gestrichen war, nicht weiß, wie er sich noch vor einer Woche dargestellt hatte, als ich meine Eltern besuchte. Nein, grün! Dieses merkwürdige, kräftige grün! Siebziger Jahre, die des vorigen Jahrhunderts, wie man heute so zu sagen pflegte. Das war in den Siebziger Jahren so gewesen. Damals hatten meine Eltern den Flur in diesem grün gestrichen, die Badezimmer waren in hellblau und in hellgrün gefliest, vom Boden bis zur Decke, rundum, wie im Schwimmbad.

 

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und strich mit der Hand die Wand im Flur entlang. Ja, Raufaser, grün gestrichen, nicht der weiße Rauputz von letzter Woche. Ich ging ins Gäste-WC, das Bad wurde morgens immer von meinem Vater benutzt. Auf der Toilette sitzend, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Was lief hier ab? Ich war doch gerade fünfzig Jahre alt geworden, schoss es mir durch den Kopf. Das hier konnte doch nicht real sein. Der Legostein fiel mir wieder ein und dann der Schmerz in meinem Fuß, gut der hatte nachgelassen ..., dann erinnerte ich mich an die Schmerzen in meiner Brust. Ich schob meine rechte Hand unter den Schlafanzug, legte sie auf mein Herz und hörte in mich hinein, nein, da war nichts, absolut nichts, alles schien völlig in Ordnung.

»Thomas, bist du da drin?«, schallte es durch die Tür. »Mach mal, ich muss auch!« Die Stimme meiner Schwester rief mich in die Realität oder zumindest in das, was ich zurzeit dafür hielt, zurück.

»Ja, einen kleinen Moment noch«, antwortete ich und beeilte mich, fertig zu werden.

Eine Viertelstunde später saß ich am Frühstückstisch und sah meine Mutter und meinen Vater vor mir. So jung! Ich konnte es nicht fassen. »Soll ich euch mitnehmen?«, fragte mein Vater meine Schwester und mich. »Oder nehmt ihr das Fahrrad?«

»Fahrrad«, würgte ich hervor. Ich war doch immer mit dem Rad gefahren, zumindest ab einem gewissen Alter. Meine Schwester zog es noch vor, von meinem Vater mit dem Auto mitgenommen zu werden. Gut so, ich brauchte Ruhe und die Einsamkeit des Radfahrens, um überlegen zu können.

»Hast du deine Tasche gepackt?«, fragte meine Mutter.

Ich wusste es nicht. Oft genug hatte ich damals meine Sachen erst morgens zusammengesucht, manchmal auch am Abend vorher. Ich zuckte mit den Achseln und eilte in mein Zimmer. Mein kleiner Bruder war mittlerweile ebenfalls aufgestanden und hatte sich ins Bad begeben, sodass ich Licht machen konnte.

Meine Tasche stand auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Auf dem Tisch lagen keine Utensilien herum, die Tasche sah gepackt aus, also ergriff ich sie, nahm meinen Schlüsselbund vom Haken, den ich an meinen Schrank in meinem Zimmer angebracht hatte, zog meine Schuhe an, ergriff meine Jacke und wandte mich zur Tür. Kam jetzt der unsägliche Moment? Er kam!

Meine Mutter stürzte aus der Küche, umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Mach´s gut, Thomas«, sagte sie und ich flüchtete schnell zur Tür hinaus.

Mein Rad stand wie immer draußen im Nieselregen vor der Tür im Fahrradständer. Ich blickte zurück, ja, so hatte das Haus damals in den Siebzigern ausgesehen, als es noch nicht mit Schiefer verkleidet worden war. Sieben Stockwerke hoch, fünf Eingänge, L-förmig gebaut. Ein Wohnblock, an den sich zwei weitere, ähnlich gestaltete Blöcke anschlossen, die um einen großzügigen Innenhof herum angesiedelt worden waren. Vor wenigen Jahren waren hier noch eine Kuhweide und Felder gewesen, jetzt stand hier eine Hochhaussiedlung. – Ich hatte diesen Hof geliebt, hier hatte ich gespielt, es war eine Unmenge an Kindern vorhanden, es war eine schöne Zeit, aber, verdammt noch mal, ich gehörte nicht hierher, nicht hier und jetzt!

Ich war fünfzig Jahre alt, hatte selbst Kinder, war verheiratet und ... hatte vermutlich gerade einen Herzinfarkt erlitten. Erneut tastete ich mit meiner Hand meinen Brustkorb ab, nein, da war nichts.

Was sollte ich tun? Ich schritt zu meinem Rad, öffnete das Schloss, wischte den Sattel ab, sodass meine Hose nicht allzu nass werden würde. Warum hatte ich das Rad damals eigentlich nicht regelmäßig in den Fahrradkeller gebracht? Sicherlich, der war im Keller, ich musste eine Treppe runter, aber da stand es trocken, würde nicht rosten ... Der Lenker würde nicht während der Fahrt brechen, fiel mir ein. Ich rüttelte daran, nein, das würde heute nicht geschehen, dazu bedurfte es vermutlich noch einiger Jahre, die das Rad draußen stehen würde.

Ich schnallte meine Tasche auf dem Gepäckträger fest, saß auf und fuhr los. Es war schön, einfach genial. Diese Strecke hatte ich geliebt. Die Rheinstraße ein Stück entlang, dann links abbiegen und den Hohlweg hinunter, da bekam man richtig Fahrt, später war es dann auf dem Rückweg beschwerlich, da musste ich sicherlich die Hälfte des Berges schieben, aber runter, das war einfach genial.

Die Ampel an der Graf-Zeppelin-Straße war grün, ich konnte ohne anzuhalten die Straße überfahren. Nun lag links der Friedhof, meine Großmutter kam mir in den Sinn, sollte ich anhalten und ... Ich schalt mich einen Idioten, jetzt und hier? Sie musste noch leben, ich würde sie besuchen können, ein Aspekt, der mir an dieser Situation sehr gefiel. Aber jetzt war die Schule mein Ziel. Kurze Zeit später langte ich dort an und stellte mein Rad auf dem Fahrradhof rechts vor der Schule ab. Ich war früh genug, um noch einen Platz unter der Überdachung zu ergattern, noch standen nicht viele Räder hier. Fuhren heutzutage eigentlich immer noch so viele Schüler täglich mit dem Rad zur Schule? Meine Kinder taten es nicht und deren Freunde ebenfalls nicht. Damals, heute, ich brachte die Zeiten durcheinander, hier und jetzt würde sicherlich der komplette Hof mit Rädern vollgestellt sein. Wie viele Räder passten hier hin? Zweihundert? Dreihundert? Schwer zu schätzen. Die Schule hatte damals annähernd eintausend Schüler, wie mir einfiel, die Quote war sicherlich nicht schlecht.

Der Raucherhof, direkt vor dem Eingang gelegen, kam mir wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten vor, aber hier standen die Oberstufenschüler und rauchten tatsächlich. Ich ging durch die Gruppen hindurch, da gehörte ich noch nicht zu, das war mir klar, sie waren allesamt wesentlich größer als ich, wo waren meine Mitschüler? Wo musste ich hin? Zwischen siebter und neunter Klasse war sicherlich alles möglich. Wohin also? Ich sah mich um.

Da gingen ein paar meiner Mitschüler, also hinterher. Sie gingen ins Treppenhaus, dort die Treppe runter in den Keller, demnach waren wir in der siebten oder achten Klasse, damals waren wir im Souterrain untergebracht, da zu viele Parallelklassen existierten, die normalen Klassenräume reichten nicht aus, geburtenstarke Jahrgänge halt.

»Hast du Englisch?«, wurde ich gefragt, als ich vor dem Klassenraum ankam.

Ich zuckte die Achseln, ich hatte keine Ahnung, welches Fach jetzt dran war.

»Das musst du doch wissen, ob du die Hausaufgaben gemacht hast«, fuhr mich Stefan an.

»Ach so«, antwortete ich und mir lief es siedend heiß den Rücken herunter, die gleiche körperliche Reaktion, wie ich sie von früher her kannte. Hausaufgaben, die waren doch dazu da, dass man sie kurz vor der Schule oder in den Pausen zwischen den Stunden von den anderen abschrieb. Nur in Ausnahmefällen machte ich sie damals selbst. Demnach stand zu erwarten, dass ich sie nicht hatte, ich riss meine Tasche auf, wühlte darin herum und brachte doch tatsächlich das Englischheft zum Vorschein. Ich blätterte darin herum, bis zur letzten beschriebenen Seite und zeigte diese meinem Mitschüler.

Der wandte sich genervt ab. »War doch irgendwie klar, dass du es nicht hast«, maulte er und fragte schon andere Mitschüler.

Ich sah auf meine Uhr, noch gut fünf Minuten bis zum Unterrichtsbeginn, konnte ich es noch schaffen, die Hausaufgaben abzuschreiben? Stefan hatte eine Mitschülerin davon überzeugen können, dass es lebensnotwendig war, dass sie ihm ihr Heft lieh, also los, hinterher. Wir schrieben beide so schnell und so viel ab, wie wir konnten, bis zum Klingelton und etwas darüber hinaus. Wir hatten knapp die Hälfte des Textes geschafft, als Sabine uns ihr Heft wieder abnahm, Frau Matthay hatte das Klassenzimmer betreten.

Alle Mitschüler holten nunmehr ihre Hefte heraus und legten sie aufgeschlagen auf die Tische. Frau Matthay ging herum, kontrollierte oberflächig die Texte. Vor meinem Tisch blieb sie stehen, schaute kritisch auf das Heft. War ja klar, auch mir, wenn ich denn Lehrer gewesen wäre, wäre aufgefallen, dass der Text zu kurz war. »Morgen nochmal«, war ihr Kommentar dazu. Auch Stefan hatte Pech, wie noch drei weitere Mitschüler. Die Stunde verlief quälend langsam. Ich bekam mit, dass Stefan unter dem Tisch irgendwelche anderen Hausaufgaben abschrieb. Welche wohl? Es lief mir erneut siedend heiß den Rücken herunter, sollte es dieser Tag sein? Dieser Tag, sechs Einzelstunden, mit sechs vorzulegenden Hausaufgaben, von denen ich nicht eine gemacht hatte! Es war dieser Horrortag, der schlimmste in der ganzen Schulzeit. Danach hatte ich es seinerzeit kapiert und die Hausaufgaben ernster genommen. Maximal drei Aufgaben pro Tag, vorzugsweise die der später liegenden Stunden, konnte ich schaffen in den Pausen abzuschreiben, aber nicht sechs. Drei musste ich selber erledigen, das hatte ich dann später beherzigt, aber heute ..., heute war eben dieser schreckliche Tag!

Englisch, danach Mathe, dann Erdkunde, Geschichte, Französisch (der Horror schlechthin bei Herrn Huch) und dann noch Physik. Ich versuchte alles zu schaffen, manche Lehrer sahen nicht so genau hin, bei vieren fiel ich auf, Pech gehabt, wie damals. Sabine fragte mich nach zwei Pausen entnervt, ob ich denn überhaupt nichts gemacht hätte. Ich zuckte mit den Achseln, was sollte ich auch antworten? Irgendwie ging dann dieser Schultag doch vorüber.

Der allgemeine Schüleraufbruch nach der sechsten Unterrichtsstunde war phänomenal für mich. Dass es so katastrophal war, war mir in meiner Erinnerung nie so vorgekommen. Vor allem der Start der fahrradfahrenden Schüler war bemerkenswert. Dutzende Räder steuerten gleichzeitig das Nadelöhr, auch Tor genannt, an, durch das man hindurch musste, um vom Fahrradhof über den Gehweg die Straße zu erreichen. Den Gehweg, der nunmehr von den übrigen Schülern auf ihrem Weg nach Hause genutzt wurde und das alles ohne Kollisionen, ohne Schutzhelme. – Die Diktatur der Fürsorge hatte, zumindest was die Fahrradfahrer anging, noch nicht eingesetzt, die Helmpflicht kam erst Jahre später. Damals machten wir uns noch lustig über die blödsinnige Vorschrift, dass jetzt Mofafahrer einen Integralhelm zu tragen hatten, ließen wir die doch mit unseren Rädern quasi auf der Straße stehen.

Das Gros der Schüler, die mit dem Fahrrad unterwegs waren, wandte sich nach rechts, korrekt der Einbahnstraße folgend. Ich fuhr entgegen der Fahrtrichtung nach links und erreichte nach nicht einmal einhundert Metern dann wieder Rechtssicherheit, da dort die Straße in beide Fahrtrichtungen befahren werden durfte. Für mich war es notwendig diesen Weg zu nehmen, da er mich an der Bude an der Corneliusstraße vorbeiführte. Wie ich in der Schule mitbekommen hatte, war heute Donnerstag und donnerstags erschien immer das neue Zack-Heft. In meiner Hosentasche hatte ich die dafür notwendigen 1,50 DM gefunden, ich musste sie mir wohl am gestrigen Abend zu eben diesem Zweck eingesteckt haben. In die Comicabenteuer vertieft, radelte ich einhändig weiter, wieder am Friedhof an der Brederbachstraße vorbei und entschied mich dann, das Rad den kompletten Berg nach oben zu schieben, um dabei weiter schmökern zu können. Die Comics kannte ich zwar alle noch fast auswendig, hatte ich sie mir doch später in meinem Erwachsenenleben erneut in Luxusausgaben zugelegt, aber es war ein besonderes Gefühl, die Erstausgabe im deutschsprachigen Raum quasi druckfrisch in den Händen zu halten.

Irgendwann langte ich dann zu Hause an, stand vor der Tür und traute mich nicht hinein. Wie sollte ich mich verhalten? Das etwa vierzehnjährige Kind spielen? Der Comic war ja gut und schön gewesen, aber jetzt war ich in der Realität angekommen. Ich entschied mich dazu, erst einmal gute Miene zum bösen Spiel zu machen und versuchte den Nachmittag so zu verbringen, wie ich ihn damals verbracht haben könnte, sogar an die Hausaufgaben wagte ich mich heran. Dröges Zeug, überspitzt dargestellt: Warum sollte ich seitenweise 1+1 rechnen, wenn ich kapiert hatte, wie es ging? – Nun, ich hatte es ja nicht kapiert, aber diese Hausaufgaben brachten mich diesbezüglich auch nicht weiter.

Ich sah mir mein Bücherregal an, fast ausschließlich Karl May, den konnte ich jetzt wirklich nicht mehr lesen. Aber da, da waren ein paar Bücher von B. Traven, mein Vater hatte sie mir seinerzeit überlassen, die hatte ich seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen, ich vertiefte mich in die Rebellion der Gehenkten und der Nachmittag verging wie im Fluge.

Nach dem Abendessen verschwand ich zügig im Bett, las das Buch zu Ende und schaltete das Licht aus. Ich lag noch lange wach und dachte an den morgigen Tag. Würde ich wieder hier aufwachen oder würde ich in meine Zeit zurückkehren? – Irgendwann schlief ich ein.

 

Mein Vater strich mir sanft über den Kopf. »Du musst aufstehen, mein Sohn«, sagte er dabei. »Die Schule wartet.« Der Lichtschein aus dem Flur fiel mir ins Gesicht.

Ich kletterte aus dem Bett, diesmal vorsichtiger, wegen der Legosteine, begab mich ins Bad und führte das morgendliche Ritual aus. Wie sollte ich den Tag verbringen? So tun, als ob alles normal wäre, so wie gestern? Ich dachte an meine Familie, meine Frau, meine Kinder. Wo waren sie? Warum war ich hier? Wie war ich hierhergekommen? – Die Maschinerie des Alltags brachte mich zum Funktionieren.

Eine Idee schoss mir durch den Kopf, die Stadtbücherei. Ich war doch damals immer in die Stadtbücherei gegangen, hatte mir dort Bücher ausgeliehen. Hatte ich den dazu notwendigen Ausweis bereits oder musste ich ihn erst beantragen? Wo pflegte ich denn damals das Teil hinzulegen? Ich wusste es nicht mehr. Im Portemonnaie war er nicht, auf dem Bücherregal ebenfalls Fehlanzeige.

Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken. »Thomas, beeil dich, du musst los, du kommst sonst zu spät«, rief sie aus der Küche.

Ich antwortete nicht, der Ausweis war jetzt wichtiger. – Da, unter einem Stapel Papier lugte er hervor, glücklich ergriff ich ihn und steckte ihn ein. Jetzt konnte erst einmal nichts mehr schiefgehen, in der Stadtbücherei in Kettwig hatten sie ein zwar beschränktes, aber dann doch anständiges Sortiment an guten Büchern. Etwas genervt, ich konnte es kaum abwarten, brachte ich die Schule hinter mich und fuhr dann, selbstredend entgegen sämtlicher Einbahnstraßenregelungen, durch die Kettwiger Altstadt zur Stadtbücherei.

Zielstrebig betrat ich die Räumlichkeiten, sie sahen noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Da, vor Kopf, dieses Regal, dort standen sie, die Bücher, die mich interessierten. Mit dem Finger fuhr ich die Buchrücken ab, sofort breitete sich ein Gefühl der Enttäuschung in mir aus, aber was hatte ich denn erwartet? Die hier stehenden Werke kannte ich alle bereits, wie sollte es auch anders sein? Damals hatte ich sie doch über Jahre hinweg ausgeliehen und gelesen und mir später dann auch noch gekauft, als ich über eigenes Geld verfügte. Ich konnte den Inhalt der meisten Werke fast rezitieren!

Ich fing noch einmal im obersten Regalfach an, da stand eine Reihe mit Titeln von Asimov, geniale Bücher in ihrer Zeit, für mich mittlerweile etwas altbacken. Einige russische Autoren schlossen sich an, auch die hatte ich damals gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite, kein Wort ausgelassen, trotz der offensichtlichen Ideologie, die hier transportiert wurde, aber mir ging es um die Idee, die hinter den Werken stand und die war oft genug trotzdem genial.

Weiter. Da kam Clarke, Heinlein und da ... Simak! Ich griff zu. Wie oft hatte ich den gelesen, sämtliche seiner Bücher, oft, mehrmals. Vor allem seine Kurzgeschichten, einfach genial, der Mann. Ich blätterte herum, ja, da war sie! Der große Vorgarten, die Geschichte, die mich so sehr beeindruckt hatte. Vier Bücher von Simak wanderten in meinen Korb. – Wie viele Bücher durfte ich mir gleichzeitig ausleihen? Egal, ich nahm mir noch zwei Werke von Heinlein, ebenfalls Kurzgeschichten, da war er in meinen Augen stark und bückte mich zu den unteren Regalreihen. Ringwelt, nein, das musste ich nicht noch einmal lesen, war zwar nicht so schlecht gewesen hatte aber Längen und dann diese endlosen Fortsetzungen, Niven hatte bestimmt gut daran verdient. Ich fuhr mit dem Finger weiter ..., dann stutzte ich. Niven? Das Buch musste falsch einsortiert sein, es stand nicht unter N, auch nicht unter L, wie Larry Niven. Ich ging zurück. Da stand nur der Titel auf dem Buchrücken, kein Autorenname. Wahrscheinlich deshalb unter R abgelegt, dachte ich und zog das gebundene Buch heraus. Mir wurde schwindlig, ich musste mich auf den Boden setzen, da prangte ein anderer Name ganz groß auf dem Cover: Randolph Zoran. – Wer zum Teufel war Randolph Zoran? Ich schlug das Buch auf, suchte im Impressum. Copyright 1953! Originaltitel Ringworld! – Das konnte nicht sein, das war doch unmöglich. Das Buch hatte Larry Niven geschrieben, in den Siebzigern, das wusste ich ganz genau!

Ich legte das Buch in meinen Korb und zog weitere Bücher, die neben diesem gestanden hatten heraus. Alle gaben sie Randolph Zoran als Verfasser an. Und die Titel? Ich kannte sie alle! Der Wüstenplanet, die Flusswelt der Zeit, Gateway, Ender, Planet der Habenichtse – das alles sollte dieser Zoran geschrieben haben? Ich schlug die Seiten mit dem Impressum nach und nach auf. Die Werke stammten allesamt aus den vierziger und fünfziger Jahren. Auch das war falsch, sie waren in der realen Welt, in meiner Welt, erst wesentlich später verfasst worden.

Ich legte sie alle in meinen Korb, stellte dafür die Werke von Heinlein und Simak zurück, ich musste dem hier erst einmal auf den Grund gehen. Das Wochenende verbrachte ich damit, sie alle zu lesen. Meine Eltern mussten akzeptieren, dass ich nicht mit zu den Großeltern fuhr, das hier war wichtiger!

Sie waren gut, sie waren besser als die Originale, die ich kannte. Dieser Zoran hatte einen besseren Stil. Er hatte die Längen, die die Originale durchaus hatten, gestrafft, einige neue Ideen eingebracht und einfach phantastisch geschrieben. Der Liste am Ende der Bücher entnahm ich, welche Werke er noch geschrieben hatte. Allesamt bekannte Bücher, Bestseller in meiner Zeit. Er hatte jedoch nicht den Fehler begangen, sie mit den endlosen Fortsetzungen zu beglücken, nein er hatte immer nur das jeweilige Hauptwerk neu geschrieben. Bände sprach für mich der Herr der Ringe, als phantastisches Fantasywerk mit 300 Seiten angepriesen. Der Mann schien wirklich mit Verstand an die Nacherzählung herangegangen zu sein!

Ich ließ das Buch in meiner Hand sinken. Mir war mittlerweile klar geworden, was hier geschehen war. Dieser Randolph Zoran musste ein ähnliches Schicksal wie ich erlitten haben, er hatte jedoch etwas daraus gemacht. Mit seinem Wissen und seiner schriftstellerischen Begabung, hatte er sicherlich viel Geld verdient, führte jetzt bestimmt ein sorgenfreies Leben. Konnte ich das auch? Ich überlegte, wie ich mein Vorauswissen über die Entwicklung der Welt einsetzen könnte. – Die Lottozahlen der kommenden Woche wusste ich nicht, so weit, so gut ...

1977, was wusste ich noch über diese Zeit? Herzlich wenig, wie ich mir eingestehen musste. Nachschlagen konnte ich auch nirgendwo. Wer war denn aktuell in Deutschland an der Regierung? Brandt? Oder war es schon Schmidt? Egal, das ließ sich herausfinden. Auf jeden Fall wusste ich, dass 1982 Kohl die Ära der SPD geführten Kabinette ablösen würde. Ließ sich damit etwas machen? Was war mit den Terroranschlägen der RAF, die fielen doch auch in diese Zeit. Konnte ich da Honig saugen, die Behörden irgendwie informieren? Tschernobyl, das war sicherlich etwas, das verhinderungswürdig war, fiel mir ein. – Aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Ein vierzehnjähriger Junge mit überbordender Fantasie, mit der literarischen Vorliebe für Science Fiction, der die offiziellen Stellen Jahre vorher von einer Katastrophe in einem Kernkraftwerk im Ostblock unterrichtete?

Nein, ich benötigte Unterstützung, das war klar, aber welche? Wen hatte ich denn in meinem eigentlichen Leben kennengelernt, den ich jetzt aktivieren könnte? Ich hatte in den 1980ern in der Verwaltung eines Konzerns gearbeitet, der in Duisburg im Innenhafen saß. Da könnte ich versuchen anzusetzen. Mein damaliger Chef, Peter Wilhelm Groß, den würde ich kontaktieren!

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