Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung

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[36]3.2 Äußerungssituation und deiktische Interpretation

Da die Interpretation deiktischer Ausdrücke den Bezug auf die Äußerungssituation erfordert und damit ein hohes Kontextabhängigkeit deiktischer AusdrückeMaß an Kontextabhängigkeit aufweist, ist es sicher nicht verkehrt, deiktische Ausdrücke im Rahmen der Pragmatik zu diskutieren. Eine zentrale Eigenschaft deiktischer Ausdrücke wurde bereits im letzten Abschnitt angedeutet: Im Gegensatz zu Eigennamen wie Lisbeth oder Erna weisen deiktische Ausdrücke wie ich oder du keinen festen inhaltlichen Bezug, keine feste Referenz auf. Worauf deiktische Ausdrücke in einer konkreten Äußerung referieren, wird über ihre Ausdrucksbedeutung und relevante Eigenschaften der Äußerungssituation festgelegt.

Wird die Referenz deiktischer Ausdrücke allein über die Ausdrucksbedeutung und relevante Eigenschaften der Äußerungssituation festgelegt, dann spricht man auch Rein indexikalische und echt demonstrative Ausdrückevon rein indexikalischenrein indexikalisch Ausdrücken. Tatsächlich sind die Pronomina ich und du in diesem Sinne rein indexikalisch, genauso wie das Temporaladverb jetzt oder das Lokaladverb hier. Demonstrative Ausdrücke wie der, dieser Mann oder auch das lokale Adverb dort sind dagegen nicht rein indexikalisch, da für die eindeutige Identifizierung der (intendierten) Referenz im Allgemeinen noch weitere Informationen erforderlich sind wie z. B. ein gestischer Verweis auf die gemeinte Person. So wird ein Sprecher bei der [37]Äußerung des Satzes »Diesen Mann dort drüben, den konnte ich noch nie leiden!« in Richtung der fraglichen Person nicken oder vielleicht sogar mit dem Finger auf sie zeigen (ZeigegestusZeigegestus). Ist die fragliche Person auch auf andere Art und Weise identifizierbar (z. B., weil er gerade großspurig eine Runde Champagner spendiert hat), dann kann der Zeigegestus auch entfallen. Echt demonstrativDeixisecht demonstrativ deiktische Ausdrücke sind dadurch charakterisiert, dass sie ohne einen Zeigegestus überhaupt nicht inhaltlich interpretiert werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Partikel so in einem Satz wie »Ich habe gestern einen Fisch gefangen, der war SO groß!«.

Der Begriff des rein indexikalischen Ausdrucks geht im Wesentlichen auf die Vorstellung zurück, dass die für die Interpretation von Ausdrücken wie ich, du, hier oder jetzt relevanten Eigenschaften des Äußerungskontexts (Wer ist der Sprecher? Wer ist der Adressat? Wo fand die Äußerung statt? Wann fand die Äußerung statt?) über Indexeinen Index, also eine geordnete Liste von (abstrakten) Gegenständen der Art <Sprecher, Adressat, Ort, Zeit …>, modelliert werden können. Der Index einer Äußerungssituation beinhaltet damit alle relevanten Informationen zur Interpretation dieser Ausdrücke. In diesem Sinne sind sie nur vom Index der Äußerungssituation abhängig (vgl. hierzu z. B. die Arbeiten von Lewis 1970 und Kaplan 1989; weitere Diskussion, insbesondere zum Deutschen, findet sich z. B. in Ehrich 1992a).

Mit der Art der Referenz (Person, Ort, Zeit) werden in der Regel mindestens drei Typen deiktischer Ausdrücke unterschieden: personale DeixisDeixispersonale, lokale DeixisDeixislokale und temporale DeixisDeixistemporale. Für alle diese deiktischen Ausdrücke ist nicht nur charakteristisch, dass sie über die Äußerungssituation zu interpretieren sind. Es ist auch charakteristisch, dass diese Interpretation auf eine ganz spezifische Art und Weise erfolgt: Deiktische Ausdrücke wie ich, jetzt oder hier werden systematisch auf ein mehrdimensionales Koordinatensystem bezogen, in dessen Mittelpunkt (im Normalfall) der Sprecher zu lokalisieren ist. Dieser Mittelpunkt wird mit Bühler (1934) die Ich-Jetzt-Hier-Origo oder einfach Origobezug deiktischer Ausdrückekurz die OrigoOrigo (der Ursprung, das deiktische ZentrumZentrumdeiktischesOrigo) genannt.

Als deiktisch oder indexikalisch bezeichnet man sprachliche Ausdrücke, die nicht aus eigener Kraft direkt auf einen (abstrakten) Gegenstand referieren, sondern deren Referenz relativ zum deiktischen Zentrum, der Origo, über relevante Eigenschaften der Äußerungssituation und weitere Hinweise wie z. B. Gesten festgelegt wird.

Dieser relationale Bezug auf die Origo lässt sich am besten an einem Ein BeispielBeispiel illustrieren: Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Promotionsfeier und Sie hören eine Ihnen unbekannte Person in der Ferne sagen: »Dort hinten habe ich gestern ganz alleine das Buffet aufgebaut.« Nehmen wir außerdem an, Sie stehen gerade direkt neben dem Buffet. Dann werden Sie keine Probleme haben aufzulösen, was die fragliche Person mit »dort hinten« gemeint hat, und Sie werden sich etwas denken in der Art: »Ah, hier hat er gestern (angeblich) ganz alleine das Buffet aufgebaut«. Vergleicht man nun die beiden Äußerungen, dann ist klar, dass sich die beiden lokalen Adverbien dort und hier in den Äußerungen auf denselben Ort beziehen (den Ort des Buffets) und die beiden Personalpronomina ich und er auf dieselbe Person (die Person, die das Buffet nach eigener Aussage ganz alleine aufgebaut hat). Aber während der Sprecher der ersten Äußerung das Adverb dort benutzt, um sich auf den Ort des Buffets zu beziehen, und das Pronomen ich, um auf sich selbst zu referieren, benutzen Sie in ihrer gedanklichen Äußerung bei gleichem Bezug das Adverb hier und das Pronomen er. Die Wahl des pronominalen Ausdrucks hängt also offenbar erstens davon ab, wer der Produzent der Äußerung ist: Mit ich bezieht sich der Produzent einer Äußerung auf sich selbst, mit er bezieht er sich (im Normalfall) auf eine dritte Person (und mit du bezieht er sich auf den Adressaten der Äußerung). Zweitens hängt sie aber (mindestens) im Fall von dort und hier auch davon ab, wie der fragliche Ort relativ zum Sprecher zu verorten ist: Ist er in seiner unmittelbaren Nähe, dann wird der Sprecher hier verwenden. Ist der Ort aber hinreichend weit vom Sprecher entfernt, dann wird er dort verwenden.

Dieses Beispiel zeigt, dass man bei lokaler Deixis zwischen Nahraum und (gerichteter) Distanzraumeinem NahraumNahraum, dem Hier, der den Ort des Sprechers inkludiert, und einem komplementären DistanzraumDistanzraum, dem Dort, unterscheiden kann. Die Ausdehnung des Nahraums ist dabei selbst wieder stark kontextabhängig (ich kann von hier in meinem Büro, von hier in Saarbrücken oder auch von hier in Europa sprechen) und die Grenze zwischen Nah- und Distanzraum ist im Allgemeinen vage. Die Richtung, in der das distaledistal (vom Sprecher entfernte) Objekt zu lokalisieren ist, ist dagegen zumindest im Fall von dort für die Unterscheidung zwischen Nahraum und Distanzraum zunächst unerheblich.

Im Fall der temporalen Deixis ist das etwas anders. Zeit hat (in unserer Vorstellung) eine gerichtete lineare Struktur und der Zeitpunkt der Äußerung, das Jetzt, teilt diese gerichtete Zeitlinie ein in ein Davor und ein Danach, in eine Vergangenheit und eine Zukunft. Diese Zweiteilung schlägt sich natürlich auch in der Art der Versprachlichung nieder: Mit gestern beziehen wir uns eben auf den Tag vor dem Tag der Äußerung und mit morgen auf den Tag nach dem [39]Tag der Äußerung. Mit vorhin bezeichnen wir einen Zeitraum, der zwar Teil des Davor ist, dabei aber relativ nahe am Jetzt, und mit nachher bezeichnen wir einen ebenfalls Jetzt-nahen Zeitraum im Danach.

Ob die Unterscheidung zwischen Nähe und Distanz auch bei der personalen Deixis sinnvoll ist, ist nicht völlig klar. Für die Charakterisierung von ich und du ist eigentlich die Unterscheidung zwischen Produzent und Adressat ausreichend. Dennoch wird nicht selten angenommen, dass die erste Person ich ein proximalesproximal (inkludiert den Sprecher) und die zweite Person du ein medialesmedial Verhältnis ausdrückt in dem Sinne, dass der Adressat zwar nicht mehr Teil der Origo, aber noch Teil der Äußerungssituation ist. Die dritte Person er, sie, es dagegen würde man eher als distal charakterisieren: Sie ist im Gegensatz zu ich und du eben nicht mehr notwendig Teil der Äußerungssituation.

Abschließend sei noch erwähnt, dass der Bezugspunkt deiktischer Ausdrücke, die Ich-Jetzt-Hier-Origo, entlang jeder der drei Dimensionen Das Verschieben der Origoverschoben werden kann. Man spricht hier auch von Deixis am PhantasmaDeixisam Phantasma (vgl. Bühler 1934). Am deutlichsten ist dies wohl im Fall der lokalen Deixis: Wenn eine Ärztin in einer Krankenakte notiert, dass das linke Bein des Patienten gebrochen ist und operiert werden muss, dann meint links hier links vom Patienten aus gesehen, und nicht links von der Ärztin aus gesehen. Die Ärztin nimmt hier bei der Formulierung per Konvention (aus guten Gründen) gedanklich die Perspektive des Patienten ein.

3.3 Äußerungsbedeutung und kommunikativer Sinn

In Abschnitt 3.1 wurde gezeigt, dass sich die Äußerungsbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks direkt aus seiner Ausdrucksbedeutung durch Verankerung der in der Äußerung enthaltenen deiktischen Ausdrücke in der Äußerungssituation ergibt. Machen wir uns das noch einmal an einem inzwischen klassischen Beispiel von Posner (1979: 357) klar, das als »Maat-Beispiel« in die Literatur eingegangen ist:

 

Ein Schiffsmaat versteht sich nicht mit seinem Kapitän. Der Kapitän ist Antialkoholiker, während der Maat häufig betrunken ist. Der Kapitän möchte ihm deshalb gerne eine Ordnungsstrafe verpassen lassen, wenn das Schiff wieder in den Hafen kommt. Eines Tages, als der Kapitän Wache hat und der Maat wieder zu grölen anfängt, wird es dem Kapitän zu viel, und er schreibt in das Logbuch: […] »Heute, 23. März, der Maat ist betrunken.« Als der Maat [40]einige Tage später selbst Wache hat, sieht er diesen Logbucheintrag und überlegt, wie er dagegen angehen kann, ohne sich weiter zu kompromittieren. Schließlich macht auch er einen Eintrag ins Logbuch, der lautet: […] »Heute, 26. März, der Kapitän ist nicht betrunken«.

Betrachten wir zunächst den Logbucheintrag des Der Maat und sein KapitänKapitäns. Der Kapitän hat »Heute, 23. März, der Maat ist betrunken.« in das Logbuch eingetragen. Diesen Eintrag können wir natürlich als eine Form der Äußerung auffassen, und in dieser Äußerung sind deiktische Ausdrücke wie heute auch bereits (im Wesentlichen) im Äußerungskontext verankert. Die Äußerungsbedeutung des Logbucheintrags lässt sich damit in aller Kürze wie folgt zusammenfassen: »Dass der Maat (des fraglichen Schiffs) am 23. März (des fraglichen Jahres) betrunken ist.« Dies ist im Wesentlichen auch die Information, die der Kapitän mit seinem Logbucheintrag den verantwortlichen Personen kommunizieren möchte. Analog können wir die Äußerungsbedeutung des zweiten Logbucheintrags wie folgt paraphrasieren: »Dass der Kapitän (des fraglichen Schiffs) am 26. März (des fraglichen Jahres) nicht betrunken ist.« Der wesentliche Unterschied zum Eintrag des Kapitäns und damit der Witz der ganzen Geschichte ist natürlich, dass der Maat mit seiner Äußerung dem Leser des Logbuchs etwas ganz anderes nahelegen möchte, ohne dies aber explizit zu formulieren: »Dass der Kapitän normalerweise betrunken ist.« Tatsächlich zielt der Logbucheintrag des Maats vor allem darauf ab. Mit anderen Worten: Der Maat hat etwas (intentional und erfolgreich) kommuniziert (»dass der Kapitän normalerweise betrunken ist«), ohne dies explizit zu sagen. Das, was er im eigentlichen Sinne ›gesagt‹ hat und worauf man ihn festnageln kann, ist lediglich die unstrittige Aussage, dass der Kapitän am 26. März nicht betrunken war.

Die zentrale Frage, die dieses Beispiel aufwirft, ist die folgende: Wie kann es sein, dass wir mehr (intentional und erfolgreich) kommunizieren können, als wir im strikten Sinne des Wortes eigentlich sagen? Eine erste Ein erster ErklärungsversuchErklärung liegt gerade bei diesem Beispiel recht nahe: Ein Logbuch ist dadurch charakterisiert, dass in ihm nur besonders relevante bzw. erwähnenswerte Ereignisse verzeichnet werden. Indem der Maat die Aussage, dass der Kapitän am 26. März nicht betrunken war, explizit ins Logbuch aufnimmt, kennzeichnet er sie als besonders relevant. Besonders relevant ist sie aber eigentlich nur, wenn der Kapitän im Normalfall betrunken ist. Folglich ist es für den Leser des Logbucheintrags naheliegend und plausibel, genau dies anzunehmen. Diese zusätzliche Annahme hat aber lediglich den Status einer Hypothese des Adressaten, die die Äußerung in einen größeren Zusammenhang einordnet und ihr damit einen tieferen, erklärenden Sinn verleiht. Plausibilitätsannahmen dieser [41]Art werden auch als abduktive Schlussfolgerungen bezeichnet (vgl. hierzu Peirce 1997 [1903] und mit Bezug auf die Grice’sche Implikaturtheorie auch Hobbs 2004). Charakteristisch für abduktive Schlüsse ist, dass zusätzliche Information dazu führen kann, dass der Adressat die fragliche Hypothese wieder verwirft (oder erst gar nicht annimmt). Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass der Leser des Logbuchs außerdem weiß, dass am 24. März (des fraglichen Jahres) die Trinkwasservorräte an Bord zur Neige gegangen sind und die Besatzung von diesem Zeitpunkt an nur noch Rum trinken konnte, um ihren Durst zu stillen. In einem solchen Kontext wird der Leser sicher nicht den Schluss ziehen, dass der Kapitän sonst immer betrunken ist. Er wird wohl eher annehmen, dass der Kapitän, vermutlich aus Pflichtbewusstsein, an diesem Tag gar nichts getrunken hat. Schlussfolgerungen, die durch zusätzliches Wissen aufgehoben werden können, heißen nicht-monoton.

Unter einer abduktiven FolgerungSchlussfolgerungabduktive ist eine erklärende Hypothese zu verstehen: Eine beobachtete Äußerung erklärt sich nur über eine plausible Zusatzannahme.

Eine Schlussfolgerung heißt nicht-monotonSchlussfolgerungnicht-monotone, wenn die Hinzunahme einer weiteren Annahme dazu führen kann, dass die Schlussfolgerung nicht mehr legitim ist.

Das, was der Produzent einer Äußerung in erster Linie mit seiner Äußerung kommunizieren möchte, werden wir im Folgenden Kommunikativer Sinnden kommunikativen Sinn dieser Äußerung nennen. Der kommunikative Sinn einer Äußerung kann im Wesentlichen mit ihrer Äußerungsbedeutung zusammenfallen (wie das vielleicht im Fall des Kapitäns ist; wobei wir auch hier ein übergeordnetes Ziel unterstellen können, nämlich dass er den Maat für sein unverantwortliches Handeln bestraft wissen will). Das ist aber wohl eher die Ausnahme. Im Normalfall zielen unsere Äußerungen auf mehr oder sogar auf ganz anderes ab, als wir im strikten Sinne eigentlich sagen. Nehmen wir z. B. an, dass mich eine Kollegin fragt, ob ich mit in die Mensa komme, und ich darauf lediglich antworte, dass (heute) um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Dann wird die fragliche Kollegin nicht annehmen, dass mein primäres kommunikatives Ziel darin besteht, ihr mitzuteilen, dass (heute) um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Sondern sie wird aus meiner Äußerung schließen, dass ich vermutlich die Vorlesung halten muss und deswegen nicht mit in die [42]Mensa gehen kann. Und sie wird annehmen, dass ich ihr genau das mit meiner Äußerung vermitteln wollte. Mit anderen Worten: Sie wird unterstellen, dass genau dies der kommunikative Sinn meiner Äußerung ist.

Der kommunikative Sinnkommunikativer Sinn einer Äußerung ergibt sich ausgehend von der (angereicherten) Äußerungsbedeutung als nicht-monotoner Schlussprozess auf der Grundlage von Relevanzbetrachtungen und weiteren kontextuellen Annahmen.

3.4 Gesagtes und Gemeintes

In der Literatur gibt es inzwischen eine Vielzahl prominenter Ansätze, die das oben angedeutete Phänomen zu erklären versuchen. Ein besonders einflussreicher Ansatz ist sicher die von Sperber & Wilson (1986) entwickelte Relevanztheorie, in deren Zentrum die Annahme der (optimalen) Relevanz sprachlicher Äußerungen steht. Der Fixpunkt in dieser Diskussion ist und bleibt aber nach wie vor die Arbeit von H. Paul Grice (1975) zu Logic and Conversation. H. Paul Grice war der Erste, der dem Phänomen, dass wir Mehr meinen als sagenmehr meinen können als wir sagen, systematisch nachgegangen ist.

Der zentrale Gedanke seines Erklärungsansatzes besteht in der Annahme, dass Kommunikation als rationales VerhaltenKommunikation eine Form rationalen Verhaltens ist: Sprecher und Adressat verfolgen in einem Gespräch im Regelfall ein gemeinsames Ziel. Dieses Ziel kann sehr unterschiedlicher Natur sein (Sprecher und Adressat möchten sich vielleicht auf einen Cappuccino verabreden; oder Sprecher und Adressat sind Tischnachbarn bei einer Feier und wollen sich nur unterhalten; oder beide sind Wissenschaftler und diskutieren über eine neue Theorie), und wir können dieses Ziel vielleicht nicht einmal klar formulieren, aber wir unterstellen, dass wir ein solches gemeinsames Ziel haben. Um dieses Ziel zu erreichen, so Grice, orientieren wir uns an bestimmten Regeln oder Maximen. Diese beiden Annahmen bilden gewissermaßen den theoretischen Überbau.

Wenn wir uns jetzt der Kommunikation auf der Ebene einer einzelnen Äußerung zuwenden, dann ist hier der zentrale Gedanke, dass ein Sprecher mit seiner Äußerung immer eine Kommunikative Intention und Hypothesenbildungbestimmte kommunikative Intentionkommunikative Intention (Absicht) verfolgt. Die Aufgabe des Adressaten in einer Kommunikationssituation ist dann, ausgehend von der Annahme, dass der Sprecher eine solche Intention verfolgt, diese Intention zu rekonstruieren, also danach zu fragen, warum der Sprecher das geäußert hat, was er geäußert hat, und was der Sprecher mit seiner Äußerung kommunizieren wollte, was also ihr [43]kommunikativer Sinn ist. Da dieser im Allgemeinen nicht mit dem zusammenfällt, was der Sprecher mit seiner Äußerung explizit gesagt hat, wird der Adressat plausible Hypothesen darüber aufstellen müssen, was die kommunikative Intention des Sprechers sein könnte.

Hier wird sich der Adressat nicht zuletzt davon leiten lassen, was das gemeinsame Ziel der Konversation ist. Und er wird unterstellen, dass sich der Sprecher an denselben Regeln orientiert wie er. Und er wird annehmen, dass auch der Sprecher unterstellt, dass sich der Adressat an denselben Regeln orientiert wie der Sprecher. Und er wird davon ausgehen, dass sie sich nicht nur dieses Verhalten gegenseitig zuschreiben, sondern dass sie sich auch gegenseitig zuschreiben, dass sie sich dieses Verhalten zuschreiben. Diese gestufte Gegenseitige ZuschreibungenForm der gegenseitigen Zuschreibung führt leicht zu einem Knoten im Kopf, sie ist aber absolut zentral dafür, dass wir als Adressat die kommunikative Intention des Sprechers rekonstruieren können: Nur wenn der Adressat davon ausgehen kann, dass auch der Sprecher davon ausgeht, dass Sprecher und Adressat voneinander annehmen, dass sie sich an denselben Regeln orientieren, kann der Adressat unterstellen, dass der Sprecher diese Regeln gezielt einsetzt, um das zu kommunizieren, was er kommunizieren möchte. Und nur weil der Sprecher annimmt, dass der Hörer dies annimmt, kann er die Ausrichtung an diesen Regeln erst gezielt einsetzen.

So viel zu den zentralen Gedanken, die dem Grice’schen Ansatz zugrunde liegen. Wie hat Grice diese Gedanken jetzt aber in seinem Ansatz umgesetzt? Die Annahme, dass Sprecher und Adressat in einem Gespräch ein gemeinsames Ziel verfolgen, geht in ein Kooperationsprinzip und Konversationsmaximenübergeordnetes KooperationsprinzipKooperationsprinzip ein (das nur bei unkooperativem Verhalten in Frage gestellt wird). Die erwähnten Regeln, an denen sich Sprecher und Adressat nach Grice in einem Gespräch orientieren, finden sich in vier KonversationsmaximenKonversationsmaximenMaxime wieder, die in Anlehnung an Immanuel Kants Kategorienlehre in der Kritik der reinen Vernunft als Maxime der QualitätMaximeder Qualität, Maxime der QuantitätMaximeder Quantität, Maxime der RelationMaximeder Relation (oder auch der Relevanz) und Maxime der ModalitätMaximeder Modalität bezeichnet werden. Die Maximen sind in Abbildung 3.2 in vereinfachter Form und in Übersetzung wiedergegeben.


Abb. 3.2: Die Grice’schen Konversationsmaximen

Um es gleich ganz deutlich zu sagen: Grice nimmt weder an, dass die Zum Status der KonversationsmaximenMaximen alle gleichrangig nebeneinander stünden (er gesteht z. B. der Maxime der Qualität eine besondere Rolle zu), noch nimmt er etwa an, dass es eine perfekte Arbeitsteilung zwischen den Maximen gäbe (so ist zum Beispiel ein Zuviel an Information in der Regel irrelevante Information). Auch nimmt Grice nicht an, dass wir uns in unserer alltäglichen Kommunikation sklavisch an diese Maximen halten würden. Im Gegenteil. Eine der zentralen Einsichten von Grice [44]ist gerade, dass wir die obigen Maximen (mehr oder weniger bewusst) in unterschiedlicher Weise einsetzen können, um Inhalte indirekt und auf einer impliziten Ebene zu kommunizieren: Indem wir uns an die Maximen halten, aber auch, indem wir gegen die Maximen (scheinbar) verstoßen. Inhalte, die wir auf der Grundlage der Grice’schen Maximen und auf der Grundlage dessen, was explizit gesagt wurde, kommunizieren, nennt Grice Konversationsimplikaturen. Vor allem in der germanistisch-linguistischen Literatur werden Konversationsimplikaturen auch gerne als das GemeinteGemeintes bezeichnet. Der Begriff der Konversationsimplikatur fällt dabei im Wesentlichen zusammen mit dem des kommunikativen Sinns.

Der Begriff der KonversationsimplikaturKonversationsimplikaturenImplikatur bezeichnet Inhalte, die auf der Basis des Gesagten, auf der Basis der Grice’schen Maximen und auf der Grundlage von allgemeinem und persönlichem Weltwissen (nicht-monoton) kommuniziert werden.

 

Das GesagteGesagtes im Sinne von Grice (1975) fällt im Wesentlichen mit der als wahr bzw. falsch beurteilbaren Äußerungsbedeutung eines satzwertigen Ausdrucks zusammen.

Machen wir uns die Stellung der (Scheinbarer) Verstoß gegen eine MaximeKonversationsmaximen im kommunikativen Verstehensprozess an einem einfachen Beispiel klar. Im letzten Abschnitt wurde ein Szenario entwickelt, in dem ich einer Kollegin auf die Frage, ob ich mit in die Mensa komme, antworte: »Um 12 Uhr findet die Einführungsvorlesung statt«. Das, was ich mit dieser Äußerung explizit gesagt habe, ist, dass (am [45]Tag der Äußerung) um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Das ist aber nicht, was meine Kollegin wissen wollte. Sie wollte wissen, ob ich mit zur Mensa komme. Da meine Äußerung diese Frage nicht direkt beantwortet, ist sie zumindest auf den ersten Blick irrelevant (ein Verstoß gegen die Maxime der Relation). Wieso kann ich dann aber mit dieser Äußerung dennoch kommunizieren, dass ich nicht mit in die Mensa kommen kann?

Nach Grice (1975) räsoniert der Adressat in etwa wie folgt: Ingo Reich hat mir gesagt, dass heute um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Das beantwortet aber nicht direkt meine Frage und ist daher streng genommen irrelevant. Da ich aber unterstellen kann, dass er das weiß, kann die Äußerungsbedeutung (das Gesagte) nicht bereits der kommunikative Sinn seiner Äußerung sein. Da es keine erkennbaren Gründe gibt anzunehmen, dass er sich bewusst unkooperativ verhält (sich also nicht an das Kooperationsprinzip hält), muss ich annehmen, dass seine Äußerung einen anderen kommunikativen Sinn hat und dieser kommunikative Sinn für mich von Relevanz ist (also meine Frage beantwortet). Was könnte dieser kommunikative Skizze eines InferenzprozessesSinn sein? Ich weiß, dass Ingo Reich gemeinsam mit Augustin Speyer die Einführungsvorlesung hält. Wenn er mir mit seiner Äußerung sagen möchte, dass er zur Mensazeit die Vorlesung halten muss, dann beantwortet das meine Frage (da ich dann schlussfolgern kann, dass er keine Zeit hat, mich in die Mensa zu begleiten). Also wird er wohl das gemeint haben. Explizit gesagt hat er also, dass heute um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Gemeint hat er damit (auf indirekte Weise) aber, dass er nicht mit in die Mensa kann.

Diese in ihrer Explizitheit vielleicht etwas skurril anmutende Rekonstruktion der Herleitung einer Konversationsimplikatur macht die Charakteristika dieser Art von Implikaturen recht deutlich: Das Gesagte für sich genommen stellt einen Verstoß gegen (mindestens) eine der Maximen dar. Gleichzeitig gibt es aber keine erkennbaren Gründe anzunehmen, dass sich der Sprecher nicht kooperativ verhält. Die Implikatur, das Gemeinte, ergibt sich dann letztlich aus der Frage, wie man diese beiden Sachverhalte miteinander in Einklang bringen kann. Grice spricht hier Ausbeutung und Aufhebbarkeitvon AusbeutungAusbeutung. Bei der Beantwortung der Frage, wie beide obigen Annahmen miteinander vereinbart werden können, müssen wir erstens notgedrungen auf unser Weltwissen zurückgreifen und können zweitens nur plausible Vermutungen anstellen, die sich auch als falsch erweisen können. So hätte ich als Sprecher meine Äußerung ergänzen können durch: »Aber ich glaube Augustin Speyer ist heute dran«. Dies widerspricht explizit der Implikatur, dass ich zur Mensazeit die Einführungsvorlesung halten muss, und der Adressat wird daher entweder die Implikatur erst gar nicht ziehen oder sie wieder verwerfen müssen. Grice spricht hier davon, dass [46]Konversationsimplikaturen aufgrund ihres indirekten (nicht-monotonen) Charakters aufhebbarAufhebbarkeit (cancelable) sind.

Ein besonderes Charakteristikum dieser Art von Konversationsimplikatur ist, dass die Implikaturen nur in ganz spezifischen Kontexten überhaupt entstehen, also einen sehr hohen Grad an Kontextabhängigkeit aufweisen. Stellen wir uns zur Illustration einen ganz anderen Kontext vor. In diesem anderen Kontext planen wir mit der ganzen Abteilung die Lehre für das kommende Semester. Ein neuer Mitarbeiter sagt, dass er seinen Grundkurs (zur Einführungsvorlesung) gerne dienstags von 12–14 Uhr halten würde. Darauf erwidere ich: »Um 12 Uhr ist die Einführungsvorlesung«. In diesem Kontext löst die Äußerung eine ganz andere Implikatur aus. Der neue Mitarbeiter wird die Äußerung sicher so verstehen, dass er mit seinem Grundkurs auf einen anderen Termin ausweichen muss. Und in einem Kontext, in dem ein Studierender von mir die Grice’sche Theorie der Konversationsimplikaturen erklärt bekommen möchte, wird er die Äußerung als Aufforderung verstehen, vielleicht doch besser in die Vorlesung zu gehen. Implikaturen, die nur in solchen ganz spezifischen Kontexten entstehen, werden in der Partikulare KonversationsimplikaturenLiteratur partikulare Konversationsimplikaturen genannt. Partikulare Konversationsimplikaturen entstehen typischerweise durch Ausbeutung einer Maxime, beinhalten also meist einen (scheinbaren) Verstoß und sind damit für den Adressaten vergleichsweise leicht wahrnehmbar bzw. auffällig.

Partikulare KonversationsimplikaturenImplikaturpartikulare sind Konversationsimplikaturen, die ganz spezifische Kontexte benötigen, um den fraglichen Inferenzprozess auszulösen.

Generalisierte KonversationsimplikaturenImplikaturgeneralisierte sind Konversationsimplikaturen, die ganz spezifische Kontexte benötigen, um den Inferenzprozess zu blockieren.

Die Beachtung von Konversationsmaximen führt in der Regel ebenfalls zu Konversationsimplikaturen, so genannte Generalisierte Konversationsimplikaturengeneralisierte Konversationsimplikaturen. Diese sind aber eher unauffälliger Natur, da sie gewissermaßen den Normalfall darstellen und es ganz spezifische Kontexte braucht, damit sie nicht entstehen. Geben wir auch hierzu ein einfaches Beispiel: Aufgrund der Maxime der Qualität löst bei Annahme der Beachtung jede Äußerung eines (deklarativen) Satzes S die Implikatur aus, dass der Sprecher glaubt, dass S [47]wahr ist. Diese Implikatur wird jetzt nur unter ganz spezifischen Umständen blockiert. Ein solcher Umstand wäre Ironie.

Da die Maxime der Qualität einen etwas besonderen Status hat, möchte ich das Phänomen der generalisierten Konversationsimplikaturen hier lieber am Beispiel der Beachtung der Maxime der Quantität illustrieren. Nehmen wir an, ich gebe die Klausur zur Pragmatik-Vorlesung zurück und sage in meinen einleitenden Einige sagen, nicht alle meinenWorten: Einige Studierende haben die Klausur bestanden. Wie würden Sie diese Äußerung verstehen? Vermutlich als: Nicht alle Studierende haben die Klausur bestanden. Und entsprechend würde sich wohl etwas Unruhe im Plenum breit machen. Die zentrale Beobachtung ist nun, dass mit der Äußerung von einige X ein Sprecher im Regelfall gleichzeitig nicht alle X kommuniziert: Wenn ich sage, dass einige deutsche Spieler bei der WM 2018 gut gespielt haben, dann lege ich nahe, dass das nicht auf alle zutrifft. Und wenn ich sage, dass einige Würstchen beim Grillen nicht verbrannt sind, dann heißt es für die Adressaten der Äußerung: Augen auf bei der Auswahl der Würstchen.

Die Tatsache, dass in der Regel mit einer Äußerung von einige auch nicht alle kommuniziert wird, könnte zu der Annahme verführen, dass dies Teil der lexikalischen Bedeutung von einige ist: Einige bedeutet eben einige und nicht alle. Tatsache ist aber auch, dass einige nicht in jeder Verwendung einige und nicht alle bedeuten kann. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich gestern Abend einige Gläser Wein getrunken habe, dann will ich damit nicht nahelegen, dass ich nicht alle Gläser Wein getrunken habe. Oder wenn eine Kollegin bei mir zu Hause anruft und mir sagt, dass einige Studierende vor meinem Büro warten, dann wird sie damit ebenfalls nicht sagen wollen, dass nicht alle Studierende vor meinem Büro warten. Diese Beispiele sind nicht einfach zu erklären, wenn man einen Semantik oder Pragmatik?semantischen Ansatz verfolgt. Aus pragmatischer Perspektive kann man dagegen argumentieren, dass die Inferenz von einige auf nicht alle eben in solchen Kontexten blockiert wird, in denen das Quantifizierte (also die Studierenden bzw. der Wein) keine (wie auch immer) abgeschlossene Menge darstellt (innerhalb der wir die eine Gruppe von Personen bzw. Objekten mit der anderen kontrastieren können).

Die Frage aber bleibt, wie diese Generalisierte Quantitätsimplikaturengeneralisierten Konversationsimplikaturen zustande kommen. Im Allgemeinen wird mit Grice angenommen, dass Implikaturen dieser Art auf die Beachtung der Maxime der Quantität zurückgehen. Nehmen wir an, es hätten tatsächlich alle Studierende die Klausur bestanden. Dann ist sowohl die Aussage, dass alle Studierende die Klausur bestanden haben, wahr als auch die Aussage, dass einige Studierende die Klausur bestanden haben. Denn wenn alle die Klausur bestanden haben, dann haben notwendigerweise immer auch einige die Klausur bestanden. Aber die Aussage, dass alle [48]Studierende die Klausur bestanden haben, ist in diesem Kontext die informativere und damit nach der Maxime der Quantität auch angemessenere Äußerung. Wenn nun aber der Sprecher die weniger informative Aussage äußert und wir davon ausgehen können, dass er die Maxime der Quantität beachtet, dann müssen wir daraus schließen, dass die Voraussetzung für die stärkere Aussage nicht gegeben ist. Und diese Voraussetzung ist, dass alle Studierende die Klausur bestanden haben. Also werden wir daraus schließen, dass nicht alle Studierende die Klausur bestanden haben.