Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung

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2.2 Aspekte sprachlicher Kodierung

Die spezifischen Charakteristika einer Kommunikationsform haben im Allgemeinen einen nicht geringen Einfluss darauf, wie wir die Information, die wir kommunizieren wollen, sprachlich verpacken (versprachlichen, kodieren). Während wir z. B. bei schriftlicher Kommunikation jederzeit an den Anfang eines Satzes oder an eine andere Stelle im Text zurückspringen und das gerade Gelesene nochmals verarbeiten können, ist das bei mündlicher Kommunikation nicht so einfach möglich. Wir können zwar Gehörtes in unserem Gedächtnis speichern, aber unser kognitiver Arbeitsspeicher ist hier, das zeigen experimentelle Untersuchungen, vergleichsweise Flüchtigkeit mündlicher Äußerungenklein. Eine unmittelbare Konsequenz ist, dass uns zu komplexe mündliche Äußerungen schnell vor Verarbeitungsschwierigkeiten stellen können. Das ist sicher einer der Gründe, wieso mündliche Äußerungen in der Regel kürzer und weniger komplex sind.

Gesprochene und geschriebene Sprache unterscheiden sich auch darin, dass synchrone mündliche Kommunikation (wie gerade gesehen) im Allgemeinen face-to-face erfolgt, wir also neben der sprachlichen Information gleichzeitig auch noch Fehlen mimischer und gestischer Informationgestische und mimische Informationen visuell verarbeiten, die uns wertvolle Hinweise geben können, wie wir eine sprachliche Äußerung letztlich zu interpretieren haben. Und selbst bei einem Telefongespräch haben wir immerhin noch Zugang zur Betonung. Bei schriftlicher Kommunikation sind diese Informationen aber nicht verfügbar. Dass dies problematisch ist, zeigt sich vor allem dann, wenn wir Emotionales oder allgemeiner ExpressivesBedeutungexpressive kommunizieren möchten. Natürlich kann man schreiben ich freu mich oder ich [18]lach mich schief, aber diese Beschreibung von Emotionen hat eben nicht dieselbe Unmittelbarkeit wie ein strahlendes Gesicht oder ein sich vor Lachen krümmendes Gegenüber. In eher formellen Kontexten ist dies selten ein Problem, da wir hier aufgrund der Kommunikationssituation weniger das Bedürfnis haben, Emotionen zu kommunizieren. In eher informellen Kontexten, in der Familie und unter Freunden, besteht dieses Bedürfnis aber und hat zunächst (und tatsächlich schon viel früher als mancher vermuten würde) die Entwicklung von EmoticonsEmoticon (Folgen von ASCII-Zeichen, die einen emotionalen Zustand kommunizieren:-) und InflektivenInflektiv (*grins*, *kotz*) motiviert. Mit der Einführung von Unicode und den technischen Möglichkeiten von Smartphones wurden Emoticons und Inflektive dann weitgehend von EmojisEmoji (standardisierten Piktogrammen) abgelöst. Mit diesen Mitteln wird die Kommunikation von Emotionen nun offenbar sehr unmittelbar möglich, wie das Beispiel einer innerfamiliären Kommunikation in Abbildung 2.3 illustrieren soll.


Abb. 2.3: (konstruiertes) Beispiel für einen SMS-Dialog – Emojis: OpenMoji / CC BY-SA 4.0

Auch die Frage, ob wir uns in einem eher Formelle und informelle Kommunikationinformellen oder einem eher formellen gesellschaftlichen Rahmen bewegen, hat einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise der Versprachlichung. (In-)Formalität ist genau genommen zunächst einmal ein soziologischer Begriff: In unserem täglichen Miteinander kommen wir mit Personen in Kontakt, die uns vertrauter oder weniger vertraut sind, und dies in Situationen, die mehr oder weniger öffentlich sind. Relativ zu diesen unterschiedlichen Graden an Vertrautheit und Öffentlichkeit verhalten wir uns auch anders. In einem vornehmen Restaurant werden wir unsere Pizza [19]eher mit Messer und Gabel essen, zu Hause essen wir die Pizza aber wohl eher aus der Hand. Dieses unterschiedliche Verhalten in mehr oder weniger formellen Situationen betrifft nun insbesondere auch unser sprachliches Verhalten, und zwar sowohl auf der Ausdrucksebene (also in der Wortwahl) wie auch in der Art und Komplexität unserer sprachlichen Äußerungen: Studentinnen und Studenten untereinander werden sicher immer wieder über ihren ›Prof‹ lästern, aber sie werden ihn wohl eher selten mit »Hey, Prof!« begrüßen. Innerhalb der Familie oder unter Freunden werden viele eine eher dialektale Ausdrucksweise benutzen. Aber in einem Brief an das Finanzamt oder an einen Rechtsanwalt wird man sich eher an einer (gehobenen) Standardsprache und normativen Vorgaben (wie einer korrekten Rechtschreibung) orientieren. Mit anderen Worten: Unser Sprachstil hängt wesentlich von der jeweiligen Kommunikationssituation ab. In der Linguistik sagt man dazu auch, dass wir unser Register an die jeweilige Kommunikationssituation anpassen.

Ausgehend von typischen Charakteristika mündlicher und schriftlicher Kommunikation haben Koch & Oesterreicher (1985) in einer einflussreichen Arbeit darüber hinaus Konzeptionelle Mündlichkeit und konzeptionelle Schriftlichkeitzwischen konzeptioneller MündlichkeitMündlichkeitkonzeptionelleMündlichkeitmediale (einer Sprache der Nähe) und konzeptioneller SchriftlichkeitSchriftlichkeitkonzeptionelleSchriftlichkeitmediale (einer Sprache der Distanz) unterschieden. Die zentrale Idee hier ist, dass sprachliche Äußerungen zwar schriftlich erfolgen, aber dennoch typische Charakteristika mündlicher Kommunikation (z. B. spontan, expressiv, nicht öffentlich, dialogisch, face-to-face, vertraut, mit geringer Komplexität und Elaboriertheit) aufweisen können und in diesem Sinne konzeptionell mündlich sind. Umgekehrt kann eine sprachliche Äußerung mündlich erfolgen, aber dennoch typische Charakteristika schriftlicher Kommunikation (z. B. reflektiert, objektiv, öffentlich, monologisch, raumzeitlich getrennt, nicht vertraut, mit hoher Komplexität und Elaboriertheit) aufweisen und in diesem Sinne konzeptionell schriftlich sein. Konzeptionelle Mündlichkeit und konzeptionelle Schriftlichkeit werden dabei als ein graduelles und mehrdimensionales Phänomen aufgefasst, dessen Endpunkte typische Verwendungen darstellen.

Die Unterscheidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit ist einerseits sehr intuitiv, andererseits ist sie aber nicht einfach operationalisierbar (d. h., es ist im Einzelfall nicht immer klar zu entscheiden, welche Form vorliegt). SMS-Kommunikation beispielsweise wird häufig als eher konzeptionell mündlich betrachtet. Das mag unter anderem in Bezug auf (geringeres) normatives Verhalten oder (geringere) Komplexität im Ausdruck (unter einem sehr spezifischen Verständnis von Komplexität) der Fall sein. Andererseits finden sich in Kurznachrichten vor dem finiten Verb (in Hauptsätzen) in einer Häufigkeit Auslassungen der ersten Person Singular (ich), die man in Korpora gesprochener Sprache zumindest in dieser Häufigkeit nicht findet. Darüber hinaus ist für Kurznachrichten die Verwendung von Emoticons, Emojis und spezifischen Kürzeln (Netzjargon) wie LOL oder ROFL sehr charakteristisch, diese finden sich aber naturgemäß gar nicht (Emoticons, Emojis) oder nur sehr selten (z. B. ASAP, LOL) in der gesprochenen Sprache. Da nicht unmittelbar klar ist, welche Phänomene letztlich relevant sind und wie diese relativ zueinander gewichtet werden, ist es nicht einfach (wenn auch nicht unmöglich), ein geeignetes Maß für den Grad einer konzeptionellen Mündlichkeit oder einer konzeptionellen Schriftlichkeit anzugeben.

[20]2.3 Von der Äußerung zum Text

Nach allem, was wir in Abschnitt 2.1 gesagt haben, können wir jede sprachliche Äußerung, mit der ein kommunikatives Ziel verbunden ist, als eine Einheit sprachlicher Kommunikation auffassen. Als kleinste Einheit sprachlicher Kleinste Einheiten sprachlicher KommunikationKommunikation werden wir also diejenigen sprachlichen Äußerungen betrachten, mit denen wir eine sprachliche Handlung vollziehen, mit denen wir eine Frage stellen, jemandem etwas anbieten, jemanden warnen, etwas versprechen oder einfach etwas behaupten. Im Kapitel zur Pragmatik werden wir solche Sprachhandlungen auch SprechakteSprechakt nennen.

Dass die kleinsten Einheiten sprachlicher Kommunikation nicht notwendigerweise Sätze sein müssen, wurde bereits mit unserem Eingangsbeispiel deutlich. Weitere gute Beispiele wären etwa Begrüßungen (Hallo!) oder Flüche (Verdammt!). Umgekehrt muss natürlich auch nicht jeder Satz notwendigerweise mit einer kommunikativen Intention bzw. einer sprachlichen Handlung verbunden sein (z. B. Nebensätze). Es scheint also zumindest deskriptiv nicht sinnvoll zu sein, kommunikative Einheiten über rein formale Eigenschaften zu definieren. Ob Äußerungen wie Eine Tasse Kaffee? am Ende möglicherweise doch auf Sätze zurückzuführen sind, ist eine empirische Frage und kann hier nicht diskutiert und schon gar nicht entschieden werden.

Komplexe Einheiten sprachlicher KommunikationKommunikation erschöpft sich natürlich nicht in einzelnen Äußerungen, sondern beinhaltet in der Regel eine Folge mehrerer Äußerungen. So könnte man sich vorstellen, dass Erna auf Lisbeths Frage in (2.1) mit den Äußerungen in (2.2) und (2.3) antwortet.


[21]Die Folge der Äußerungen in (2.1) bis (2.3) weist nun zwei zentrale strukturelle Eigenschaften auf: Zum einen beziehen sich die Äußerungen offenbar inhaltlich aufeinander und sind in diesem Sinne miteinander verbunden. Man sagt, dass sie eine kohärenteKohärenz Folge von Äußerungen darstellen. Zum anderen bilden sie als Ganzes in dem Sinne eine thematische Einheit, als sich alle Äußerungen letztlich um die (hier explizit aufgeworfene) Frage drehen, ob Erna eine Tasse Kaffee möchte. Wir werden später von einer QuaestioQuestioDiskurstopik (lateinisch für Frage), einem DiskurstopikDiskurstopik oder einer Question under Discussion (QUD)Question under DiscussionDiskurstopik sprechen. Kohärente und thematisch (im Wesentlichen) einheitliche Abfolgen von Äußerungen werden in der einschlägigen Literatur als Text oder Diskurs bezeichnet. (Wir werden im Folgenden zunächst die Rolle des Kohärenzbegriffs in den Vordergrund stellen und erst danach auf Quaestiones/Diskurstopiks eingehen.)

 

Wir bezeichnen eine Abfolge von Äußerungen als einen TextText oder DiskursDiskursText, wenn sie (in einem noch zu präzisierenden Sinne) kohärent und thematisch einheitlich ist.

Ob eine gegebene Sequenz von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen als ein Text oder Diskurs bezeichnet werden kann, hängt natürlich zunächst von der Was alles ist ein Text?Definition ab. In der Textlinguistik ist die Definition des Textbegriffs eine vieldiskutierte Frage und entsprechend gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Ansätze (man vergleiche z. B. Adamzik 2016 für eine ausführliche Darstellung). So kann man z. B. die Frage stellen, ob die Kurznachrichten in Abbildung 2.3 und damit insbesondere die benutzten Emojis und Emoticons als Text bzw. als Teile eines Texts aufzufassen sind. Beantwortet man diese Frage positiv (und es spricht wohl einiges dafür), dann wird man in der Textdefinition neben rein sprachlichen Äußerungen generell auch symbolische Äußerungen (mit einem kommunikativen Ziel) zulassen müssen. (Wir haben das in der obigen Definition bewusst offengelassen.) Auf der anderen Seite wird man dann auch in Extremfällen (wie z. B. bei einem Stoppschild) von einem Text sprechen müssen (was vielleicht nicht mehr ganz so intuitiv ist). Und was ist mit der Zutatenliste in einem Rezept? Oder mit der bildlichen Illustration, die uns einen Eindruck vermitteln soll, wie das Resultat unserer kulinarischen Bemühungen am Ende aussehen sollte? Hier wird letztlich entscheidend sein, ob man überzeugend argumentieren kann, dass mit diesen Elementen ein kommunikatives Ziel (im Sinne eines Sprechakts) verbunden ist.

Eine ebenfalls häufig gestellte Frage ist, ob es überhaupt Sequenzen von (natürlichen) Äußerungen gibt, die nichtGibt es inkohärente Texte? kohärent und damit auch kein Text sind. Was ist beispielsweise mit einem Dada-Gedicht? Oder wenn Erna auf Lisbeths Frage mit Die Quadratwurzel von 49 ist 7 ›antwortet‹? Es ist sicherlich möglich, dass ein Sprecher Folgen von Äußerungen produziert, die als nicht kohärent intendiert sind. Tatsache ist aber auch, dass ein Rezipient immer nach einem inhaltlichen Zusammenhang suchen wird, auch wenn die fraglichen Äußerungen völlig zusammenhangslos erscheinen. So wird am Ende ein Dada-Gedicht dennoch zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtung und Lisbeth wird Ernas Äußerung wahrscheinlich in der Art von Natürlich will ich einen Kaffee! Wie kannst du da nur fragen?! interpretieren.

Die Frage, was alles ein Text ist und ob man zwischen Texten und Nicht-Texten unterscheiden kann bzw. muss, wird häufig mit Bezug auf einen sehr einflussreichen Vorschlag von de Beaugrande & Dressler (1981) diskutiert (vgl. hierzu z. B. die Diskussion in Gansel & Jürgens 2009 oder Averintseva-Klisch 2013), die insgesamt 7 Text(ualitäts)kriterienTextualitätskriterien Textualitätskriterienannehmen, die alle für sich genommen notwendigen und gemeinsam hinreichenden Charakter haben (sollen): Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität. Wir werden uns im Folgenden auf Fragen der Kohärenz und Kohäsion beschränken, da sich die meisten der verbleibenden Kriterien bereits aus der Definition von Kommunikation (Intentionalität), Eigenschaften der Kommunikationssituation (Situationalität), und unabhängigen pragmatischen Prinzipien (Informativität) erklären lassen. Ergänzt wird die Diskussion dagegen um den Aspekt der Topikalität.

2.4 Zur Mikrostruktur von Texten: Kohärenz und Kohäsion

Kohärenz ist also ein konstitutives Merkmal von Texten und Diskursen. Kohärenzrelation und rhetorische SubordinationFormal ist KohärenzKohärenz eine inhaltliche Beziehung (eine Relation) zwischen zwei Diskursabschnitten, häufig (wenn auch nicht notwendigerweise) zwischen zwei unmittelbar aufeinander folgenden (kommunikativen) Äußerungen (vgl. z. B. Hobbs 1979). So sind (2.1) und (2.2) über die Antwortrelation und (2.2) und (2.3) über eine Begründungsrelation verknüpft. Die beiden genannten KohärenzrelationenKohärenzrelation haben dabei genuin asymmetrischen Charakter: Eine Antwort setzt eben eine Frage voraus, und eine Erklärung setzt etwas voraus, das erklärt werden soll. In diesem Sinne ist z. B. die Äußerung (2.3) hier der Äußerung (2.2) untergeordnet. Man spricht auch von rhetorischer [23]SubordinationSubordinationrhetorische. Subordinierende Relationen lassen sich graphisch wie in Abbildung 2.4 skizziert darstellen.


Abb. 2.4: Graphische Darstellung einer subordinierenden Relation

Angenommen, Erna würde (2.4) statt (2.3) äußern:


Dann hätte ihre Antwort eine etwas andere Struktur: Sowohl die Äußerung in (2.2) als auch die Äußerung in (2.4) würden sich dann gleichermaßen auf die übergeordnete Frage beziehen, was Erna trinken möchte. In diesem Sinne hat die kontrastierende Beziehung zwischen den Äußerungen in (2.2) und (2.4) einen symmetrischen bzw. nebenordnenden Charakter. Man spricht dann auch Kohärenzrelation und rhetorische Koordinationvon rhetorischer KoordinationKoordinationrhetorische. Koordinierende Relationen können graphisch wie in Abbildung 2.5 angedeutet dargestellt werden.


Abb. 2.5: Graphische Darstellung einer koordinierenden Relation

Mit dem Begriff der KohärenzrelationKohärenzrelation bezeichnet man eine inhaltliche Beziehung zwischen zwei (oder mehr) Äußerungen. Dabei wird auf diskursstruktureller Ebene zwischen koordinierenden und subordinierenden Relationen unterschieden.

Markiert man nun außerdem enger zusammengehörende Diskurseinheiten mit umschließenden Boxen, dann kann die inhaltliche Struktur des Dialogs [24]bestehend aus (2.1), (2.2), (2.3) und (2.4) in der Art von Abbildung 2.6 Graphische Repräsentation von Diskursenrepräsentiert werden.


Abb. 2.6: Graphische Repräsentation der Mikrostruktur des Diskurses (2.1) – (2.4)

Mit der Struktur in Abbildung 2.6 sollte deutlich geworden sein, dass Texte und Diskurse eine komplexe inhaltliche Struktur aufweisen können. Gleichzeitig sollte aber auch deutlich geworden sein, dass diese in systematischer Weise erfasst und dargestellt werden kann. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass jede neue (kommunikative) Äußerung über eine Kohärenzrelation an einen früheren Diskursabschnitt angebunden werden Kohärenzaxiommuss (KohärenzaxiomKohärenzaxiom). Wie diese Anbindung im Einzelnen erfolgt, ist eine nicht triviale Frage. Klar ist, dass Anbindungen nicht beliebig erfolgen.

Obige Darstellung orientiert sich stark an der Segmented Discourse Representation Theory (SDRT) wie sie in Asher & Lascarides (2003) entwickelt wird. Vergleichbare Strukturen und Annahmen finden sich aber auch in anderen Ansätzen wie der in Mann & Thompson (1988) entwickelten Rhetorical Structure Theory (RST). Welche Kohärenzrelationen im Einzelnen angenommen werden, variiert stark von Theorie zu Theorie. In den meisten Modellen finden sich aber zumindest Kohärenzrelationen, die entweder Antwortbeziehungen (answer), Erklärungen (explanation), Erläuterungen (elaboration), Folgerungen (consequence), Unerwartetes (violated expectations), Kontrastbeziehungen (contrast), parallele Strukturen (parallel) oder die Darstellung einer Abfolge von Ereignissen (narration) zum Gegenstand haben. Manche dieser Kohärenzrelationen werden klar über Konjunktionen oder Konjunktionaladverbien kommuniziert. Die subordinierende Konjunktion weil etabliert z. B. notwendig eine (wie auch immer geartete) Form der Begründung. Die Konjunktion und dagegen ist ziemlich flexibel, sie kann als und weil (explanation) oder auch als und dann (narration) interpretiert werden, kann aber auch parallele Fortführungen wie in Lisbeth mag Muffins und Erna Donuts einleiten. Die Konjunktion aber ist nicht ganz so flexibel wie und, aber sicher flexibler als weil: Sie kann kontrastive Beziehungen etablieren (wie in Lisbeth mag Muffins, aber keine Donuts), sie kann aber auch das Nichteintreffen von Erwartetem ausdrücken (Greuther Fürth spielt immer oben mit, steigt aber nie auf). Man sieht an diesen Beispielen, dass es zum einen keinen Konsens gibt, was Art und Anzahl von Kohärenzrelationen betrifft, und dass zum anderen die Beziehung zwischen Kohärenzrelation und kohäsiven Mitteln ziemlich komplex ist. Ein guter erster Überblick findet sich in Kehler (2002).

Betrachtet man nochmals den gerade besprochenen Text, dann sieht man schnell, dass Kohärenzrelationen nicht notwendigerweise sprachlich kodiert werden, sondern unter Umständen kontextuell inferiert werden müssen. So wird z. B. an keiner Stelle explizit gesagt, dass (2.3) als eine Erklärung für (2.2) verstanden werden soll. Aber wir wissen, dass man nach drei Tassen Kaffee bereits eine Menge Koffein zu sich genommen hat und zu viel Koffein nicht gut für uns ist. Daher ist es einfach plausibel, dass dieser Sachverhalt als Grund für die negative Antwort aufzufassen ist. Etwas anders liegt dagegen der Fall bei der Äußerung in (2.4). Die Äußerung in (2.4) wird durch die (syntaktisch) koordinierende Konjunktion aber eingeleitet, mit der inhaltlich explizit ein Kontrast zu einer vorhergehenden Aussage ausgedrückt wird. An dieser Stelle sind wir also nicht auf Mutmaßungen angewiesen. Konjunktionen wie und, aber, weil oder wenn und Konjunktionaladverbien wie trotzdem, deswegen oder dennoch haben (unter anderem) offenbar die Funktion, die Verschränkung zweier Diskurseinheiten sprachlich zu vermitteln. Man spricht hier auch Kohäsion und kohäsive Mittelvon KohäsionKohäsion und bezeichnet die sprachlichen Ausdrücke als kohäsive Mittelkohäsive Mittel (vgl. z. B. Halliday & Hasan 1976).

Neben diesen expliziten Verknüpfungen zweier Diskurseinheiten gibt es weitere sprachliche Phänomene, die Bezüge zwischen (Teilen) zwei(er) Diskurseinheiten herstellen. Eines dieser Phänomene ist die Anaphorische Ausdrückeanaphorische Verwendung von Pronomina, wie man sie in dem folgenden kleinen Textbeispiel beobachten kann:


[26]Pronomina wie das Personalpronomen sie in (2.6) zeichnen sich dadurch aus, dass ihr referenzieller Bezug (auf welche Person sich der Sprecher mit dem Pronomen beziehen möchte) entweder situativ (wir sprechen dann von einer deiktischen Verwendungdeiktischer Gebrauch) oder sprachlich über einen Vorgängerausdruck (ein AntezedensAntezedens) vermittelt werden muss (wir sprechen dann von einer anaphorischen Verwendunganaphorischer Gebrauch). In unserem Beispiel ist dieser Vorgängerausdruck der (unterstrichene) Eigenname Erna in (2.5): Wenn wir (2.6) im Kontext von (2.5) hören oder lesen, dann gehen wir sehr schnell davon aus, dass sich das Pronomen sie auf Erna beziehen soll. Würden wir den Satz in (2.6) isoliert lesen, dann könnten wir gar nicht sagen, was genau mit ihm kommuniziert werden soll. Die anaphorische Verwendung von pronominalen Ausdrücken erzeugt auf diese Weise weitere inhaltliche und strukturelle Verschränkungen im Diskurs und trägt so zum Eindruck eines kohärenten Textes wesentlich bei (vgl. z. B. Hobbs 1979).

 

Das zweite in diesem Kontext häufig genannte EllipsenPhänomen ist die EllipseEllipse. Mit dem Begriff ›Ellipse‹ bezeichnet man verschiedene Formen der Auslassung von sprachlichen Ausdrücken (vgl. z. B. Klein 1993, Reich 2018). Ähnlich wie bei anaphorisch verwendeten Pronomina kann die Auslassung sprachlicher Ausdrücke ebenfalls situativ oder sprachlich motiviert sein. Ist sie sprachlich motiviert, dann gibt es wie bei den anaphorischen Verwendungen von Pronomina einen sprachlichen Vorgängerausdruck (ein Antezedens), über das die Auslassung rekonstruiert werden kann. Ein Beispiel findet sich bereits in unserem obigen Mini-Diskurs (2.1) bis (2.3): In der Äußerung (2.1) von Lisbeth wird eine Tasse Kaffee thematisiert, in der Äußerung (2.3) von Erna wird jedoch nur noch von drei Tassen gesprochen und nicht (was präziser wäre) von drei Tassen Kaffee. Im Kontext von (2.1) kann Erna in ihrer Äußerung offenbar auf die explizite Erwähnung von Kaffee verzichten, da über den Kontext klar ist, dass es um Kaffee geht. Hätte Lisbeth dagegen Eine Tasse Tee? geäußert, dann würden wir Ernas Äußerung so interpretieren, dass sie bereits drei Tassen Tee getrunken hat. Ellipsen führen also zu vergleichbaren inhaltlichen und strukturellen Verschränkungen im Diskurs, wie wir das bereits bei den anaphorischen Verwendungen von Pronomina gesehen haben. Entsprechend tragen auch Ellipsen wesentlich zum Eindruck von Textkohärenz bei.