Ilias

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Auguste Lechner

ILIAS

Der Untergang Trojas

Neu überarbeitet

und mit einem Glossar versehen von

Friedrich Stephan


Von Auguste Lechner sind ebenfalls als E-Books erhältlich:

Die Abenteuer des Odysseus

Herkules

Die Nibelungen

Parzival

König Artus

Auguste Lechner (1905–2000) erschließt mit ihren Werken die antike und die mittelalterliche Sagenwelt der Jugend. Insgesamt erschienen von ihr 24 Bücher mit einer Gesamtauflage von weit über einer Million Exemplare. Sie wurde mit dem österreichischen Staatspreis für Literatur sowie dem Europäischen Jugendbuchpreis ausgezeichnet.

E-Book-Ausgabe 2020

© 1973 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck

Satz: Arena-Verlag, Würzburg

ISBN 978-3-7022-3904-6 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Dieses Buch ist gedruckt als Arena-Taschenbuch erhältlich

(Band 50025).

Was in diesem Buch erzählt wird, hat sich der Sage nach zugetragen in einer Zeit vor drei oder vier Jahrtausenden, als in den Ländern rings um das Mittelmeer und auf den Inseln, in Kleinasien, Griechenland und Italien, auf Sizilien und Kreta uralte Völkerschaften wohnten, die eine hohe Kultur und unvorstellbaren Reichtum besaßen.

Von ihrer Kultur zehren wir heute noch und von ihrem Reichtum geben die Funde Zeugnis, die unsere Archäologen aus tiefen Erdschichten, aus den Ruinen zerstörter Tempel und aus den verschütteten Räumen zertrümmerter Paläste ans Licht gebracht haben.

Wie immer seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte wurden auch in jener grauen Vorzeit Kriege um Macht und Reichtum geführt.

Eine der reichsten und mächtigsten Städte war damals Troja, das in Kleinasien nahe der Küste auf einem Hügel lag, der Hissarlik heißt. Es wurde im Lauf seiner Geschichte neunmal zerstört und wieder aufgebaut.

Was geschah, ehe die berühmte Stadt unterging, erzählt der griechische Dichter Homer (etwa um 800 v. Chr.) in der großen Dichtung, die wir »Ilias« nennen.

Sie ist eines der drei gewaltigen Heldenlieder der Antike: »Ilias«, »Odyssee« und »Aeneis«, deren gemeinsamer Ursprung der »Trojanische Krieg« ist.

Die drei Dichtungen enthalten nicht nur eine ungeheure Fülle von Abenteuern und Heldentaten, sondern sie geben, einander ergänzend, ein großartiges Kulturbild jener Zeit und der Völker im Mittelmeerraum.

In gewisser Weise sind sie fast untrennbar miteinander verbunden. Die »Ilias« schildert die stürmischen und sich überstürzenden Ereignisse vor dem Untergang der stolzen Stadt, die »Odyssee« und die »Aeneis« schließen unmittelbar an.

In der »Odyssee« werden die ungeheuerlichen Erlebnisse des Königs Odysseus von Ithaka und seiner Gefährten erzählt, die nach der Eroberung und Zerstörung von Troja über das Meer heimfahren wollen.

Die »Aeneis« berichtet, wie durch List die besten Helden der Achaier im Bauch des berühmten »Trojanischen Pferdes« in die Stadt gelangen und ihren Untergang herbeiführen und wie dann Aeneas die überlebenden Troer fortführt, um eine neue Heimat zu suchen. Nach unendlichen Gefahren und Abenteuern gründen sie Rom.

Dieselben Helden kämpfen und handeln in »Ilias« und »Odyssee« und zum Teil selbst in der »Aeneis«, obgleich ihr Verfasser nicht Homer ist, sondern der römische Dichter Vergil.

Priamos, Hektor, Paris, Aeneas sind die berühmten troischen Namen. Agamemnon, Menelaos, dem Paris seine Gemahlin geraubt hat, Achilleus, Nestor, Odysseus, Patroklos, Diomedes, die beiden Ajax und viele andere begegnen uns im Heer der Achaier.

Auch die Welt der Götter ist in den drei Werken dieselbe. Sie wohnen auf dem Berge Olympos. Zwar sind sie unsterblich, aber im Übrigen haben sie manche recht menschliche Eigenschaften und greifen aktiv in die kriegerischen Auseinandersetzungen ein.

Sie besitzen viel Macht über die Sterblichen und nützen sie mit großer Willkür. Jedoch sind auch sie dem Schicksal unterworfen und können trotz ihrer Parteinahme für die eine oder andere Seite letztlich den Ausgang des Krieges nicht entscheidend beeinflussen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Wort- und Sacherklärungen

1 Es war ein Tag im zehnten Jahr der Belagerung von Troja. Es hatte keinen Kampf gegeben an diesem Tag. Im Lager der Achaier herrschte das gewohnte Treiben, draußen vor der Küste schaukelten die Schiffe kaum merklich, denn auch das Meer war ruhig.

Die Stadt droben schien in tiefem Frieden zu liegen. Aber ringsum auf Mauern und Türmen standen die Wächter und ließen die Feinde nicht aus den Augen.

Dem Lager gerade gegenüber befand sich das gewaltige skäische Tor, das bis zu diesem Tag allen Angriffen widerstanden hatte.

Auf dem Turm, der es überragte, erschien zuweilen einer der troischen Heerführer. Man konnte sie vom Lager aus deutlich erkennen. Da war Hektor, der älteste Sohn des Königs Priamos, der berühmteste Held der Troer; Aeneas, den man »Sohn der Göttin« nannte, denn seine Mutter war Aphrodite. Umgeben von seinen Räten, kam der König selbst, dessen Haar und Bart schneeweiß waren und dessen Würde auch die Achaier bewunderten.

Manchmal stand Paris da droben; Paris, der schön war wie ein Gott und der die Schuld an diesem Krieg trug: Denn er hatte Helena geraubt, die Gemahlin des Königs Menelaos von Lakedaimon.

Darauf waren Menelaos und sein Bruder Agamemnon, die Atreussöhne, mit vielen anderen achaischen Fürsten über das Meer gefahren, um Rache zu nehmen und Helena zurückzuholen.

Freilich war da noch eine andere Verlockung: Trojas ungeheurer Reichtum.

Aber was half es, dass man sich Wunderdinge von den Schätzen in Tempeln und Palästen erzählte, wenn man nach zehn Jahren immer noch draußen vor den Mauern lag?

Die Heerführer wussten wohl, dass die Krieger murrten und dass viele von ihnen längst gerne heimgekehrt wären. Allein, wie konnte man nach so langer Zeit und so vielen Kämpfen sieglos heimkehren?

Wie ein böses Gespenst schlich die Unzufriedenheit durch das Lager und die Besorgnis der Führer wuchs.

Darum hatte Agamemnon für diesen Abend die Fürsten zur Versammlung berufen. Man musste beraten, was zu tun war.

Als die Sonne westwärts im Meere versank, waren sie alle da: denn sie wussten, dass es ernst geworden war. Auf dem flachen Hügel am Rande des Lagers saßen sie im Kreise, jeder auf dem Sitz, der ihm seinem Stand nach zukam. In der Mitte Agamemnon, der König und Oberbefehlshaber des ganzen Heeres.

Zu seiner Linken hatte sein Bruder Menelaos Platz genommen, zur Rechten Nestor, der König von Pylos, alt, weise und gütig; neben ihm saß Achilleus, der Myrmidonenfürst, der beste Kämpfer der Achaier, der Abgott des Heeres; an seiner Seite wie stets sein Freund Patroklos; man sagte von ihnen, jeder ließe sich für den anderen ohne Zaudern in Stücke hauen. Diomedes war da, ebenso klug wie tapfer, der Schrecken aller Feinde; Ajax, der Große, und Ajax, der Lokrer, beide gleich berühmt, Meister im Speerwurf und gefürchtet im Zweikampf. Odysseus, der König von Ithaka, unübertrefflich an List und klugem Rat; Idomeneus, der König von Kreta, und viele andere. Auch Priester, Seher und Traumdeuter waren geladen, sollte man etwa ihrer Dienste bedürfen.

Agamemnon erhob sich. Er blickte sich um und sah, dass kein Platz leer geblieben war.

»Edle Fürsten, ihr wisst, warum ich euch zum Rate geladen habe«, begann er.

Aber er konnte nicht weitersprechen und zu dieser Ratsversammlung sollte es niemals kommen.

Denn von einem der Schiffe, die draußen vor der Hafeneinfahrt lagen, scholl in diesem Augenblick der laute lang gezogene Ruf eines Wächters.

Verwundert wandten die Fürsten sich dem Meere zu. Ein kleines Schiff mit einem dunklen Segel fuhr langsam, ganz nahe an der Küste entlang, auf die Schiffe der Achaier zu, die, eines neben dem anderen, wie riesige schwarze Ungeheuer mit dem Rumpf hoch aus dem seichten Wasser ragten.

Das kleine Schiff konnte nicht weit über das Meer gekommen sein.

 

Auch war auf dem Deck niemand zu sehen außer ein paar Ruderknechten und einem einzelnen Mann, der vorne an der Brüstung stand und zum Ufer herüberblickte.

»Es wird ein Bote sein«, sagte Ajax, der Lokrer. »Aber woher mag er kommen, mit diesem gebrechlichen Kahn?«

Nestor schüttelte den Kopf. Seine alten Augen konnten sehr weit sehen. »Es ist ein Priester!«, sagte er. »Ich erkenne die Binde um seine Stirn und den goldenen Stab.«

Agamemnon runzelte die Brauen. »Was kann ein fremder Priester bei uns wollen?«

Jetzt stand Achilleus langsam auf und trat neben den König. Sein Gesicht hatte einen sonderbaren Ausdruck.

»Ich will es dir sagen, Atride«, sprach er. »Der Mann dort ist jener Priester Apollons, dessen Tochter dir als Beute zugesprochen wurde! Entsinnst du dich? Als wir die kleine Stadt Chrysa, die nordwärts von hier an der Küste liegt, fast ohne Schwertstreich erobert hatten, da ließest du dir die schönsten Mädchen vorführen und die Allerschönste wähltest du für dich aus. Das war dein gutes Recht: Denn du bist der König. Aber zum Unglück war dieses Mägdlein die einzige Tochter des Priesters. Ich wette, nun ist er gekommen, sie zurückzuholen!«

Agamemnon hatte ihm mit einem zornigen Blick den Kopf zugewandt. Sein dunkles Gesicht war hart und voll Hochmut. »So ist er vergebens gekommen!«, sagte er nur.

Einen Augenblick standen die beiden Männer einander schweigend gegenüber. Sie waren wie Tag und Nacht: der strahlende helläugige Achilleus, dem das blonde Haar lang über den Nacken fiel, und der dunkelhäutige Atreussohn mit den wilden schwarzen Locken.

Es hatte niemals Freundschaft zwischen ihnen gegeben und manchmal schien es, als hassten sie einander.

Die Männer auf dem Hügel beobachteten unterdessen neugierig, wie das kleine Schiff auf die Küste zusteuerte, wie das Segel eingezogen wurde und der Kiel sich knirschend in den Ufersand bohrte.

Die Ruderknechte legten eine schmale Brücke aus und der Fremde stieg ein wenig mühsam an Land. Er schlug sogleich den Pfad ein, der auf den Hügel führte.

Droben waren die Fürsten jetzt ganz still geworden. Es war ein beklommenes Schweigen, als käme mit dem fremden alten Mann Unheil auf sie zu.

Agamemnon zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. »Denke daran, dass das Mägdlein sein einziges Kind ist«, sagte Nestors freundliche Stimme leise neben ihm.

Agamemnon antwortete nicht: denn der Fremde war schon ganz nahe herangekommen.

Jetzt blieb er stehen; sein Atem keuchte ein wenig, gewiss war er bei seinem Alter und in seiner Besorgnis zu schnell den Hang heraufgestiegen.

»Ich grüße dich, König Agamemnon, und euch, ihr Fürsten«, sagte er hastig, als schwanke er zwischen Furcht und Hoffnung. »Mögen die Götter euch den Sieg verleihen und euch eine glückliche Heimkehr schenken! Dich aber, edler Atride, bitte ich: Gib mir meine Tochter zurück! Du sollst Lösegeld erhalten, soviel du verlangst, denn sie ist die einzige Stütze und Freude meines Alters! Phöbos Apollon wird dir lohnen, was du an seinem Priester tust!«

Einen Augenblick schwieg Agamemnon. Sein Gesicht war unbewegt.

Er hörte die Fürsten ringsum reden: Ja, es wäre eine gute Tat, den Worten des Priesters zu entsprechen und so den mächtigen Gott zu ehren. Er sah in das kummervolle alte Gesicht, aber es rührte ihn nicht.

Er warf den Kopf in den Nacken mit der hochmütigen Gebärde, die alle an ihm kannten.

»Scher dich fort, Alter, und lass dich nie wieder bei unseren Schiffen blicken, wenn du heil davonkommen willst! Deine Tochter bekommst du nicht! Sie ist schön und versteht sich aufs Weben und andere kunstreiche Arbeit! Sie wird eine Zierde meines Palastes in Argos sein, wenn ich heimkehre!«

Das Gesicht des Priesters war weiß geworden wie die Binde um seine Stirn. Er wusste, es gab keine Hoffnung mehr für ihn. Verzweiflung ergriff ihn und ein furchtbarer Zorn. Er hatte sich schon umgewandt, um zu gehen. Aber er blickte noch einmal zurück in das erbarmungslose Gesicht. »Ja – wenn du jemals heimkehren solltest!«, stieß er hervor und begann, müden Schrittes den Pfad hinabzusteigen. In seinem Elend rief er Phöbos Apollon an: »Höre mich, Gott mit dem silbernen Bogen! Habe ich dir mein Leben geweiht, dir viele Opfer von Lämmern und jungen Ziegen gebracht, dir sogar einen Tempel gebaut – so räche mich jetzt an den Achaiern!«

Apollon sah seinen Schmerz und hörte seine Bitten. Auch zürnte er Agamemnon, weil er seinen Priester so missachtete: Wohlan, er würde es büßen und die Achaier mit ihm. Und während das kleine Schiff durch die sinkende Dämmerung zurückfuhr nach Chrysa, begab sich der zürnende Gott vom hohen Olympos hinab zum Lager der Achaier. Nächtliches Grauen umgab ihn, über der Schulter trug er den silbernen Bogen und den verschlossenen Köcher mit den nie fehlenden Pfeilen.

Ein wenig entfernt von den Schiffen auf einem Hügel ließ er sich nieder. Er öffnete den Köcher, legte den ersten Pfeil auf die Sehne und schnellte ihn ab. Ein schrecklicher Klang scholl von dem silbernen Bogen, und wer ihn vernahm, dem wollte vor Entsetzen das Herz stillstehen.

Zuerst trafen die Pfeile Maultiere und Hunde: Sie stürzten nieder und verendeten.

Dann richtete der zornige Gott seine Geschosse gegen die Menschen.

Eine furchtbare Seuche brach über die Achaier herein. Tag und Nacht brannten die Totenfeuer rings um das Lager.

Neun Tage durchflogen Apollons tödliche Pfeile das Heer.

Von ihrem Palast auf dem hohen Olympos blickte Hera, Zeus Kronions Gemahlin, hinab auf die Erde und sah das Elend, das Apollon über die Achaier gebracht hatte, denen sie selber zugetan war. Und sie beschloss, ihnen zu helfen.

Achilleus ist der Liebling der Krieger: So will ich mich seiner bedienen!, dachte sie und lenkte sein Herz und seine Gedanken nach ihrem Wunsch.

So kam es, dass am zehnten Tage Achilleus eine Volksversammlung berief und zu den Fürsten und den Kriegern sprach: »Mir scheint, die Götter wollen uns verderben, denn Krieg und Seuche bezwingen selbst das stärkste Heer! So rate ich: Lasst uns heimkehren, sofern wir dem Tode entrinnen! Wir wollen aber zuvor noch den Seher befragen! Vielleicht, dass er uns sagen kann, welcher Gott uns so schrecklich zürnt und wie wir ihn etwa versöhnen können!«

Er winkte Kalchas, dem berühmten Vogelschauer, dem Apollon die Gabe verliehen hatte, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges aus dem Flug der Vögel und anderen Zeichen der Götter zu deuten.

Aber Kalchas schien nicht froh über den Auftrag. Er sah sehr besorgt aus, als er zu reden begann. »Edler Pelide, ehe ich euch die Wahrheit verkünde, sollst du mir etwas versprechen. Ich fürchte, mein Spruch wird einem Mächtigen unter euch nicht gefallen. Darum schwöre mir, dass du mich beschützen wirst: denn der schwächere Mann ist verloren, wenn ihm ein Stärkerer zürnt.«

»Du sollst keine Sorge haben!«, antwortete Achilleus. »Solange ich lebe, wird dir niemand ein Haar krümmen – und wäre es selbst König Agamemnon, dem dein Spruch missfällt!«, fügte er hinzu, wobei leichter Spott in seinen hellen Augen aufblitzte.

Kalchas amtete auf. »So hört mich an! Phöbos Apollon zürnt den Achaiern, weil Agamemnon seinem Priester die Tochter verweigert und ihn mit harten Worten fortgewiesen hat. Nicht eher wird das Verderben von uns genommen, ehe das Mägdlein ohne Entgelt dem Vater zurückgegeben ist und dem zürnenden Gott eine Sühnehekatombe dargebracht wird.«

Die Männer blickten einander betroffen an, als der Seher schwieg. Da und dort erhob sich Gemurmel.

Dann sprang Agamemnon auf. Seine dunklen Augen loderten vor Zorn. »Ei freilich, du Unglücksseher!«, schrie er. »Wie könnte es anders sein, als dass du mir die Schuld aufbürdest! Hast du mir etwa je Gutes geweissagt? Aber – mag es sein! Ich will nicht, dass die Achaier mich vorwurfsvoll ansehen! Darum gebe ich das Mägdlein zurück – jedoch stelle ich eine Bedingung. Es wäre ungerecht, stünde ich dann allein ohne Siegespreis da, während die übrigen Fürsten ihre schöne Beute behalten dürfen. So will ich mir eines der anderen Mägdlein auswählen, die euch als Ehrengabe zugesprochen sind!« Er schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich langsam Achilleus zu und sah ihm gerade in die Augen. »Vielleicht werde ich sogar das deinige für mich nehmen, edler Pelide«, fuhr er fort, als sei ihm dieser Gedanke eben erst gekommen. »Ich habe gehört, Brisëis sei ebenso schön wie das Töchterlein des Priesters. Ja, wahrhaftig, ich glaube, ich werde meine Herolde senden und sie aus deinem Zelt holen lassen!«

Achilleus war kaum merklich aufgefahren; nur sein sonnengebräuntes Gesicht hatte ein wenig Farbe verloren. Als er sprach, klang seine Stimme ganz ruhig, aber es lag ein warnender Ton darin. »Du weißt, dass es nicht Sitte und eine Beleidigung ist, einem Krieger sein Ehrengeschenk fortzunehmen, König Agamemnon! Es würde dir und mir zur Schande gereichen, darum kann ich nicht glauben, dass du es tun wirst. Oder ist deine Habgier wirklich so groß? So will ich dir etwas sagen, Atride! Warte, bis wir Troja eingenommen haben, dann sollst du von den Schätzen des Priamos dreimal so viel erhalten wie wir alle. Genügt dir das nicht?«

Agamemnon warf ihm einen hinterhältigen Blick zu. »Darüber wollen wir später reden! Jetzt aber macht ein Schiff bereit und lasst die Tiere für das Sühneopfer bringen. Ich selbst hole das Mägdlein und einer von euch mag es nach Chrysa zum Vater geleiten. Vielleicht willst du es tun, Achilleus, damit du sicher sein kannst, dass ich mein Wort halte? Und gewiss gedenkst du, dich bei Phöbos Apollon in Gunst zu setzen, indem du ihm mit eigenen Händen das Opfer bringst!«, fügte er mit offenem Hohn hinzu.

»Hüte deine Zunge, König!«, rief Achilleus zornig. »Es steht dir nicht an zu spotten, denn nur deinetwegen und um deines Bruders willen bin ich hergekommen, weil Menelaos es nicht verstand, seine Gattin zu hüten, und dann nach Rache schrie. Die Troer haben mir nichts getan! Weder haben sie mir Rosse geraubt noch meine Städte zerstört oder meine Äcker verwüstet. Zwischen ihrem Land und dem meinigen liegen ja Meere und Gebirge. Jetzt aber höre mir gut zu, Atride! Ich habe es satt, für dich Städte zu erobern und dir die Beute zu Füßen zu legen, um mich dann von dir verhöhnen zu lassen! Ich werde nicht um Brisëis kämpfen, weder mit dir noch mit irgendjemandem sonst. Nein, ich werde heimkehren in das Land der Myrmidonen. Dann magst du nach mir rufen, wenn deine Krieger vom Kampfe ermattet sind, damit ich ihnen Mut einflöße. Aber ich werde nicht mehr da sein!«

Agamemnon erschrak. Er wusste, was diese Drohung bedeutete, obgleich er es sich selbst kaum einzugestehen mochte. Aber er hatte es hundertmal zähneknirschend mit ansehen müssen: Wenn die Achaier mutlos und der endlosen Kämpfe müde waren und kaum noch Widerstand zu leisten wussten – da brauchte Achilleus nur zu erscheinen, auf seinem Kampfwagen mit den zwei weißen Hengsten, in der silbernen Rüstung und dem funkelnden Helm und mit diesem hellen Haar, das im Winde flog – da war es, als erwachten die müden Krieger. – Und, bei den Göttern, ich glaube, sie würden mit Achilleus selbst in die Finsternis des Hades hinabsteigen, dachte Agamemnon erbittert. Laut aber sagte er: »Deine Überheblichkeit kennt wahrhaftig keine Grenzen! Überschätze dich nur nicht zu sehr! Ich werde dich gewiss nicht bitten zu bleiben, wenn du gehen willst! Damit du jedoch endlich lernst, dich einem zu beugen, der höher steht als du, gebe ich jetzt sogleich Befehl, Brisëis aus deinem Zelte zu holen und in das meinige zu bringen!«

Da packte Achilleus ein entsetzlicher Zorn.

Seine Hand zuckte nach dem Schwert. Aber – er vermochte es nicht herauszuziehen! Denn in diesem Augenblick fühlte er, dass jemand hinter ihn getreten war und mit hartem Griff in sein Haar fasste. Langsam, als sei sein Nacken steif, wandte er den Kopf.

Es war eine seltsam undeutliche, fast schattenhafte Gestalt – aber als er in ihre schrecklich leuchtenden Augen blickte, wusste er sogleich, dass Pallas Athene vor ihm stand. Er wusste auch, dass niemand sie sehen konnte außer ihm: Denn dies war den Unsterblichen eigen. Seine Mutter, die Meernymphe Thetis, hatte es ihm erzählt.

»Wozu bist du gekommen, Göttin?«, murmelte er. »Willst du sehen, wie ich den Atriden erschlage?«

»Ich bin gekommen, deinen Zorn zu besänftigen«, antwortete sie.

»Du wirst ihn nicht töten: denn dies ist nicht sein Schicksal. Gehorche den Göttern, Achilleus!«

Dann war sie fort.

Achilleus atmete tief auf und stieß das Schwert in die Scheide zurück. Er ergriff das goldene Zepter, das neben ihm auf dem Sitz lag, und trat auf Agamemnon zu. »Ich will dir einen Eid schwören, Atride«, sagte er kalt. »So wenig wie dieses Zepter jemals Blätter und Zweige treiben wird, so wenig werde ich jemals wieder für dich kämpfen – selbst wenn die Achaier scharenweise von dem schrecklichen Hektor und den anderen troischen Helden erschlagen werden. Dann wird der Gram dir die Seele zerfressen – mich aber wird es nicht kümmern.«

 

Achilleus irrte sich: Eines Tages würde der gleiche Gram auch seine Seele zerfressen. Aber das wusste er zu dieser Stunde noch nicht, in der nur der Zorn Macht über ihn hatte.

Er warf Agamemnon das Zepter vor die Füße und wandte sich zum Gehen.

Aber da trat ihm Nestor in den Weg. Er hatte zwei Generationen überlebt und das Alter hatte ihn Weisheit gelehrt. Wie kein anderer besaß er die Gabe der Beredsamkeit.

»Wehe, was tut ihr?«, sagte er sehr ernst. »Wie werden die Troer frohlocken, wenn sie erfahren, dass die achaischen Fürsten Streit miteinander haben! Ich bin so alt, dass ihr mir wohl erlauben mögt, euch einen Rat zu geben. Du, Atride, sollst Achilleus das Mägdlein nicht fortnehmen, denn du weißt selbst, wie viele Siege die Achaier ihm zu verdanken haben. Du aber, Achilleus, denke daran, dass Agamemnon der König des größten achaischen Reiches ist und dass ihr ihn darum zum Oberbefehlshaber des Heeres gewählt habt. Wir alle schulden ihm Achtung!«

»Du hast wahr gesprochen, edler Nestor«, stimmte Agamemnon eifrig zu. »Wenn die Götter dem Peliden auch einen starken Arm verliehen haben, so gibt ihm das kein Recht, mich zu schmähen und sich so hochmütig zu gebärden, als wären die Achaier ohne ihn verloren!«

Achilleus zuckte die Achseln. »Du hast meinen Schwur gehört. Nun tu, was du nicht lassen kannst.« Er wandte sich ab und ging fort, dorthin, wo die Zelte der Myrmidonen standen und ihre Schiffe am Ufer lagen.

Patroklos und die Myrmidonenkrieger folgten ihm sogleich.

Sorgenvoll blickte ihm Nestor nach. Es geschah selten, dass es ihm nicht gelang, zwei Gegner zu versöhnen. Aber diesmal – er sah Agamemnon an. »Lass dich warnen, Atride«, sagte er noch einmal. Aber der König schien ihn nicht zu hören. Auch er blickte Achilleus nach. Sein dunkles Gesicht war voll Hass.

Gleich darauf begann er, allerlei Befehle zu geben. Ein schnelles Schiff wurde ins Wasser gezogen, die Ruderer nahmen ihre Plätze ein, man brachte die Opfertiere auf das Deck. Odysseus erbot sich, das Schiff nach Chrysa zu führen.

Dann geleitete der König selbst das Mägdlein an Bord, genau wie er es versprochen hatte. Niemand sollte sagen, er habe sein Wort nicht gehalten!

Als der Kiel ins tiefe Wasser glitt und sich nordwärts drehte, wandte sich Agamemnon um. Einige der Fürsten waren ihm an den Strand gefolgt und auch eine große Menge Kriegsvolk.

»Ihr seht, Freunde, ich habe alles getan, um Phöbos Apollon zu versöhnen!«, sagte er so laut, dass es in weitem Umkreis zu hören war. »Und nun« – er winkte die beiden Herolde herbei, die auf seine Befehle warteten – »nun begebt ihr euch sogleich zum Zelte des Peliden und bringt mir Brisëis her.«

Die Herolde starrten ihn an. Sie konnten nicht glauben, dass er wirklich wahr machen wollte, was er Achilleus angedroht hatte.

»Habt ihr mich nicht verstanden?«, schrie der König, als er sah, wie sie zögerten. Da gingen sie.

Agamemnon hatte wohl gemerkt, dass die Fürsten einander unmutig anblickten und die Köpfe schüttelten. Auch die Gesichter der Krieger gefielen ihm nicht, diese einfältigen, verblüfften oder zornigen Gesichter! Freilich, sie wollten einfach nicht glauben, dass jemand ihrem Abgott Achilleus dies antun konnte!

Jedermann im Lager der Achaier kannte Brisëis. Sie hatten laut gejubelt, als das schöne Mädchen ihrem geliebten Helden zugesprochen wurde. Ja, Brisëis war schön, und wenn sie durch die Lagergassen ging, mussten die Krieger ihr nachsehen – ob sie wollten oder nicht. Aber keiner hätte sich unterstanden, ihr ein Scherzwort zuzurufen oder gar eine Hand nach ihr auszustrecken. Sie gehörte Achilleus und Achilleus liebte sie. Auch das wusste jedermann im Lager. Und nun wagte es der König …

Sie vermochten es nicht zu begreifen. –

Die Schritte der beiden Herolde wurden immer langsamer, je näher sie den Zelten der Myrmidonen kamen.

Und als sie Achilleus neben Patroklos vor dem Eingang sitzen sahen, blieben sie stehen.

»Beim Hades, ich würde lieber dem Höllenhund die Zunge aus dem Rachen reißen, als Achilleus diese Botschaft zu bringen!«, sagte der eine zornig.

Der andere nickte bekümmert. »Ja, ich wage ihm gar nicht ins Gesicht zu sehen und gewiss werde ich kein Wort hervorbringen! Warte noch ein wenig, ich …«

Aber Achilleus hatte sie schon bemerkt. »Kommt näher, Freunde!«, sagte er. Seine Stimme klang fremd vor Traurigkeit. »Habt keine Furcht«, fügte er hinzu, »ich weiß, es ist nicht eure Schuld, sondern Agamemnons Befehl!«

Er wandte sich zu Patroklos. »Ich bitte dich, führe du Brisëis heraus, denn ich … ich kann es nicht … du begreifst es gewiss …«

Patroklos legte ihm einen Augenblick den Arm um die Schultern, dann trat er ins Zelt.

Gleich darauf stand Brisëis vor dem Eingang. Als er sie ansah, überkam es Achilleus abermals, wie schön sie war. Aber es war nicht Schönheit allein; vielleicht war es die Anmut ihrer Bewegungen oder ihr schimmerndes Haar oder die Lieblichkeit ihres Lächelns … er wusste es nicht.

Freilich, jetzt waren ihre Augen ganz dunkel vor Trauer. Sie wusste, was geschehen sollte, und sie hatte schon von Achilleus Abschied genommen. Tränen und viele Worte geziemten sich jetzt nicht mehr für sie.

»Mögen die Götter dich beschützen!«, sagte sie nur leise. Dann ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen, und die Herolde folgten ihr schweigend.

Als sie zwischen den Zelten verschwunden war, ging auch Achilleus fort.

Patroklos, der ihn so gut kannte wie niemand sonst, wusste, dass er allein bleiben wollte. –

Achilleus schritt hinab zum Meer und setzte sich auf einen Felsen am Ufer. Schmerz und Zorn überkamen ihn mit schrecklicher Gewalt und wollten ihm fast die Besinnung rauben.

»Mutter«, sagte er verzweifelt, »warum hast du mich geboren? Ein kurzes, aber ruhmvolles Leben haben die Götter mir verheißen: aber nun hat Agamemnon Kummer und Schande über mich gebracht.«

Drunten in der Tiefe hörte die Meernymphe Thetis die Klage ihres Sohnes. Sie stieg sogleich herauf, setzte sich neben ihn und ihre Hand strich sanft über seine Wange.

»Was quält dich, mein Kind?«, fragte sie mitleidig. »Sage es mir, vielleicht kann ich dir helfen!«

»Du weißt es doch, Mutter!«, antwortete Achilleus. »Den Unsterblichen bleibt ja nichts verborgen. Als wir Theben erobert hatten, führte das Heer mit der reichen Beute auch die schönsten Frauen mit sich fort. Unter ihnen befand sich Brisëis, die dem Thebanerfürsten Mynes zur Gattin bestimmt war. Aber ich erschlug ihn im Kampfe und die Achaier sprachen mir das Mägdlein als Ehrengabe zu. Nun hat Agamemnon sie mir genommen.« Er stockte, weil wieder der schreckliche Zorn in ihm aufstieg, der ihm die Kehle zuschnürte. »Ich hätte Agamemnon erschlagen, Mutter!«, stieß er hervor. »Doch Pallas Athene verbot es mir. So kann ich selber die Schmach nicht tilgen. Aber Zeus Kronion vermag es, wenn es sein Wille ist. Verstehe mich recht, Mutter! Ich fordere nicht als Rache den Untergang der Achaier: Ich will nur, dass Agamemnon mir meine Ehre und Brisëis zurückgibt. Und das wird er nur dann tun, wenn er sieht, dass ohne meine Hilfe die Achaier verloren sind. Ich habe geschworen, nicht mehr zu kämpfen. Wenn aber Zeus den Troern so lange Sieg verleiht, bis für unser Heer das Ende nahe bevorsteht, dann wird der Atride mich bitten müssen, ihm beizustehen, und dann wird meine Ehre wiederhergestellt sein. Ich weiß, du hast einmal Zeus Kronion vor großer Schmach bewahrt: Wenn du ihn anflehst, wird er sich nicht weigern, mir Genugtuung zu verschaffen!«

Ein leises Lächeln huschte über das Gesicht der Nymphe. »Es ist wahr«, sagte sie, »damals, als die anderen Götter sich gegen Zeus empörten und Hera sich heimlich mit Pallas Athene und Poseidon verschwor, ihn zu fesseln und ihn so ohnmächtig dem Gespött der Unsterblichen preiszugeben, da war ich die Einzige, die auf seiner Seite stand. Ich rief Briareus, den hundertarmigen Riesen, aus der Unterwelt heraus und er setzte sich neben Zeus Kronion. Da erschraken selbst die Götter und verzogen sich eilig aus seiner Nähe. Aber du hast recht, vielleicht kann uns das nützen. Ich will es gern versuchen, nur müssen wir ein wenig Geduld haben, denn Zeus ist mit allen anderen Göttern zu den Aithiopen gereist, die den Unsterblichen ein großes Gastmahl bereitet haben. Es soll zwölf Tage dauern. Danach wird der Vater der Götter und Menschen wohlgelaunt zurückkehren: denn reiche Opfer pflegen ihn stets zu erfreuen. Dann ist die Zeit für uns günstig. Indessen halte du dich vom Kampfe fern und nimm auch nicht teil am Rate der Männer. Das wird Agamemnon in Sorge versetzen und er wird nachzudenken beginnen, ob er recht getan hat. Lebe wohl, mein Sohn, in zwölf Tagen sehen wir uns wieder.« Sie glitt ins Wasser und tauchte hinab in die grüne Dämmerung, wo in der Tiefe der Palast ihres Vaters, des greisen Meergotts Nereus, stand. –