Der Detektiv

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Der Detektiv
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Attila Sausic

DER

DETEKTIV

Aufstieg und Niedergang

– ein literarischer Streifzug –

Das Original erschien in Fortsetzungen in der ungarischen Zeitschrift Holmi, Jg. 19/6, 20/4, 20/9, 21/4. Für die vorliegende Veröffentlichung wurde der Text vom Autor überarbeitet und ins Deutsche übersetzt.

Lektorat: Éva Zádor

Umschlag: Zsolt Nyíri (Bild),

Gábor Szilágyi (Typografie)

Der Detektiv

Attila Sausic

Copyright: © 2013 Attila Sausic

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-4609-4

Vorwort

Dieses Buch empfehle ich besonders denen, die sich für eine Skizze über die Entstehung der literarischen Detektive im 19. und ihren Sonderweg im 20. Jahrhundert interessieren sowie eine gewisse Sympathie für Jules Maigret und Philip Marlowe hegen.

Neben dem Inhaltlichen beschäftigte mich auch die Frage, in welcher Form ich über Detektivromane schreiben könnte, ohne dass die Leser, die genauso wenig Literaturwissenschaftler sind wie ich, auf der Stelle eine unwiderstehliche Müdigkeit ergreift.

Daher versuchte ich, Schriftsteller und Detektive auf eine literarische Bühne zu stellen und zum Reden zu bringen. Durch erfundene Monologe und – kursiv markierte – wirkliche Zitate berühmter Detektive und ihrer Chronisten wie Sherlock Holmes, Edgar Allan Poe und andere wird im ersten und vierten Kapitel die Geschichte des Detektivromans dargestellt. Im zweiten und dritten Kapitel gehe ich mit der detaillierten Rekonstruktion der Charaktere von Maigret und Marlowe der Frage nach, ob diese fahrenden Ritter der Großstadt (Chesterton) uns auch heute noch etwas zu sagen haben. Ich denke schon.

Lebte Maigret wirklich? Gibt es den chinesischen Detektivroman? Warum war Marlowe Frauen gegenüber so enthaltsam? War etwa Gott der erste Detektiv? Wieso suchte Wallas den besten Radiergummi und nicht den Mörder? Weshalb war in der ersten richtigen Detektivgeschichte ein Affe der Mörder? – nebenbei werden auch solche Fragen gestellt, doch nicht immer beantwortet.

Es könnte leicht der Eindruck entstehen, als ob in diesem Buch die Goldene Zeit, die klassische Form dieser Gattung, die von Autoren wie Agatha Christie geprägt wurde, vernachlässigt würde. Das ist tatsächlich der Fall. Nach der berühmten Definition Raymond Chandlers ist ein Kriminalroman dann wirklich gut, wenn man ihn auch dann zu Ende läse, wenn man wüsste, dass jemand das letzte Kapitel herausgerissen hat. (KUNST DES MORDES 159) Und die Detektivgeschichte wurde erst da mehr als nur ein Rätselraten und erreichte einen literarischen Wert, als sie sich von ihrer eigentlich vollkommenen Form entfernte.

Der Weg, den ich hier aufzeigen möchte, ist der, den die Abweichler gingen – es ist nicht die breite und beleuchtete Hauptstraße, sondern der Umweg durch dunkle und verwinkelte Gassen, der sich schließlich als Labyrinth enthüllt.

1. DAS ERWACHEN

Am frühen Morgen der Detektivliteratur rennt ein Affe durch eine ausgestorbene Pariser Straße. Am Maul trocknet Seifenschaum, in der Pfote hält er eine dünne, scharfe Klinge. Wollte er sich gerade rasieren, als er plötzlich gestört wurde?

*

In einem Haus, das in einem abgeschiedenen und öden Teil des Faubourg St-Germain seinem Verfall entgegenschwankte, gibt sich ein verarmter junger Mann, Sprössling einer berühmten Familie, seiner Leidenschaft hin – dem Zauber der Nacht. Mit seinem Freund, dem Mieter dieser altmodischen Villa, ziehen sie nach dem ersten Anzeichen des Tageslichtes die Fensterläden zu. Sie tauchen ein in den schweren Duft der Wachskerzen und warten, lesend, schreibend, sich unterhaltend, auf das Eintreffen der Dunkelheit. Und dann, wie man aus der Beschreibung des Freundes erfährt, begaben wir uns auf die Straßen, Arm in Arm, fuhren fort, die Gegenstände des Tags zu besprechen, oder streiften weit und breit bis zu später Stunde umher und suchten, inmitten der wilden Lichter und Schatten der bevölkerten Stadt, jene Unendlichkeit geistiger Erregung, die von gelassener Beobachtung gewährt werden kann. (MORGUE 83, 84)

*

Der Orang-Utan aus Borneo, vier oder fünf Jahre alt, sieht durchs Fenster im vierten Stock eines Hauses ein Licht schimmern. Meint er die Wohnung wiederzuerkennen, aus der er soeben geflüchtet ist? Er klettert jedenfalls den Blitzableiter hoch, ergreift den Fensterladen und springt durch das offene Schiebefenster ins Zimmer.

*

Der junge Amerikaner, Mitte Zwanzig, der gerade eine Ausgabe der Shrewsbury Chronicle aus dem Jahre 1834 zu Hause in Baltimore studiert, ist mit dem soeben vorgestellten Franzosen etwa gleichaltrig, ja er ähnelt ihm sogar: hohe Stirn, große schwarze Augen, gewölbte Augenbrauen, sich kräuselnde Lippen, lange Nase, blasses Gesicht, alles in allem aristokratische Züge. Die abgetragene schwarze Kleidung der dünnen Gestalt lässt eine ehemals anspruchsvolle Eleganz vermuten, die ungewöhnlich gebundene Krawatte und ein offener Knopf in der Mitte der Weste betonen seinen Boheme-Charakter.

Der Artikel, dem er seine Aufmerksamkeit widmet, berichtet über einen Fall, der damals großes Aufsehen erregte. Gaukler hatten die Stadt Shrewsbury besucht und einen Orang-Utan mitgebracht, den sie, wie der Bericht behauptet, dazu abrichteten, nachts durch Fenster zu klettern, um Einbrüche zu verüben. Eine Einwohnerin der Stadt, eine vornehme Lady, erschreckte der Affe, der bei Nacht in ihr Schlafzimmer eingeschlichen war, fast zu Tode.

*

Einen Zeitungsartikel liest auch der junge Mann in Paris, C. Auguste Dupin, in der Abendausgabe der Gazette des Tribunaux: … die Bewohner des Quartier St-Roche wurden von einer Folge schrecklicher Schreie aus dem Schlaf gerissen … ein Barbiermesser, mit Blut beschmiert … dicke Büschel grauen Menschenhaars, insgleichen blutbenetzt … anscheinend mit den Wurzeln ausgerissen … auf der Kehle dunkle Quetschungen und tiefe Eindrücke von Fingernägeln … (MORGUE 90-93)

*

Der Orang-Utan ist völlig durcheinander. Seinen Zorn hat er ausgelassen, nun gerät er in Panik. In seinem Gehirn vermischen sich die ereignisreichen Bilder der vergangenen Minuten. Das entstellte Gesicht dieses älteren Weibchens, mit dem er zunächst nur spielen wollte, bis ihn das Gekreische und die heftige Gegenwehr wütend machten; das Haarbüschel, das samt Kopfhaut in seiner Hand geblieben war; das Blut, das in seine Augen spritzte, als er mit der Rasierklinge ihren Hals fast völlig durchschnitt; der Körper des erwürgten jüngeren Weibchens, den er in den Rauchfang stopfte, und der des älteren, den er aus dem Fenster warf und schließlich das entsetzte Gesicht seines Besitzers, das im Fensterrahmen auftauchte.

*

Wie kam der wirkliche Affe der Gaukler dazu, als literarischer Orang-Utan einen blutigen und grausamen zweifachen Mord zu begehen? Vom Artikel in der Shrewsbury Chronicle bis zur Publikation von DIE MORDE IN DER RUE MORGUE, 1841, vergehen ein paar Jahre. Die Methode Edgar Allan Poes ist jedoch die gleiche, die er damals bereits in seinen Erzählungen anwendet.

Ein schönes Beispiel dafür ist BERENICE, eine im März 1835 publizierte Erzählung, dem Anschein nach nur eine der damals überaus populären Schauergeschichten. Die Hauptfigur Egaeus hat die merkwürdige Eigenschaft, von ganz unerheblichen Details der Wirklichkeit wie einer nebensächlichen Bemerkung in irgendeinem Buch, einem an der Wand entlangwandernden Schatten an einem Sommertag, dem Lichtspiel des glühenden Feuers oder aber einem beliebigen Wort, das durch die ständige Wiederholung seinen Sinn verliert, in einen unendlichen Zustand der Überwältigung zu geraten. Die ursprünglich harmlose Leidenschaft wird jedoch zur Gefahr, als seine Gefühle, Gedanken und Phantasien durch die beim Lächeln hervorblinkenden weißen Zähnen seiner Nichte Berenice beherrscht werden. Plötzlich ergreift ihn das Gefühl, die Seelenruhe und den klaren Verstand nur durch den Besitz dieser Zähne zurückerlangen zu können.

Entsprechend der Regeln der Gattung leidet die angebetete Frau an einer geheimnisvollen und unheilbaren Krankheit. Egaeus dringt in Trance, dafür aber mit zahnärztlichen Werkzeugen vorsorglich ausgerüstet, in die Gruft ein, in der seine Geliebte aufgebahrt wurde. Er zieht Berenice, die dort als Scheintote verweilt, zu ihrem Unglück alle zweiunddreißig Zähne. Die kleinen, weißen, wie Elfenbein schimmernden Gegenstände (BERENICE 294) sieht er erst dann wieder, als er erneut zu sich kommt und die Zähne aus einer fallengelassenen Schachtel, in die er sie unbewusst versteckt hatte, auf dem Boden herausrollen.

Das Schicksal der Zähne von Berenice bot den Psychoanalytikern später, ausgehend vom zentralen Symbol der Kastrationsangst, den in der Vagina verborgenen Zähnen, vortreffliche und – angesichts der scheinbar jeglicher Erotik entbehrenden, doch ungewöhnlich heftigen Zuneigung von Egaeus seiner Nichte gegenüber – nicht ganz unbegründete Möglichkeiten zur Interpretation. Gleichzeitig wirkt die Geschichte derart morbid, dass sie nicht nur tiefenpsychologisch, sondern auch als Parodie zu lesen ist. Dem entspricht, wie Poe in einem Brief, einen Monat nach der Publikation der Erzählung, die angewendete Methode charakterisiert: Es ist das Spaßige, das zum Grotesken erhöht, das Furchterregende, das ins Grauenhafte gesteigert wird: das Witzige, übertrieben ins Burleske, und das Außergewöhnliche, kunstfertig ins Seltsame und Mystische transzendiert. (ZUMBACH 291)

 

*

»Erinnerst du dich noch an den seltsamen Fall in Shrewsbury?« wandte sich Poe an Maria, während sie Arm in Arm in dem kleinen Garten vor ihrem Haus gemütlich auf und ab spazierten. »Sogleich spürte ich darin die einzigartige Möglichkeit, manche Gedanken, die in mir bereits ausgereift waren, zum Ausdruck zu bringen. Indes, was meinst du, in welcher Weise würden andere Autoren, die sich über das Wesentliche in einem Kunstwerk keine Gedanken machen, vorgehen? Freilich so, dass sie die ursprüngliche Geschichte ausmalen und ausschmücken, mit Drehungen und Wendungen bereichern sowie in eine sprachlich erhabene Form kleiden. Dies an sich reicht allerdings offenbar nicht aus. Daraus kann etwas Interessantes, keinesfalls jedoch Wichtiges und Künstlerisches entstehen.

Ich bin der Meinung, Gewinnsucht oder Eifersucht als Mordmotiv sind zu trivial und uninteressant, und vor allem verdecken sie das Wesentliche der bösen Tat … nämlich, dass über die Motive hinaus, die festgestellt werden können, etwas Unerklärbares und gleichzeitig Selbstverständliches bleibt: Der Mensch sehnt sich auch grundlos danach zu morden, während wir nicht wissen, wann und wie manche jene Grenze, vor der die überwiegende Mehrheit zurückschreckt, ja, sie sogar nicht einmal erblickt, zu übertreten fähig sind. Diese unfassbare und eigentlich unbeschreibliche Sehnsucht versuchte ich, in DAS VERRÄTERISCHE HERZ zu veranschaulichen: ›Ich liebte den alten Mann. Er hatte mir nie etwas zuleide getan. Er hatte mich nie gekränkt. Sein Gold begehrte ich nicht. Ich vermute, dass es sein Auge war. Ja, gewiss war es das! Eins seiner Augen glich einem Geierauge. Es war blassblau mit einer krankhaften Trübung. Jedes Mal, wenn sein Blick auf mich fiel, gefror mir das Blut. Und so entschloss ich mich ganz, ganz allmählich, dem alten Mann das Leben zu nehmen und mich so für immer von diesem Auge zu befreien.‹ (281)

Der ideale Mörder ist letzten Endes der Amokläufer. Und wie lässt sich der unbändige Trieb des Menschen in einer reineren Form darstellen als durch ein Tier? Dieser Affe kommt also wie gerufen. Ich kann ihn vom Furchterregenden, dort, im Schlafzimmer in Shrewsbury, ins Grauenhafte steigern, wobei ich die ursprünglich auch spaßige Szene durch manche geschickte Kunstgriffe ins Burleske übertreibe.

Dementsprechend sollte ich die Opfer auswählen. Welchen Verlust würde ich als das Schmerzhafteste in meinem Leben empfinden? Selbstverständlich den Verlust derjenigen, die mir am nächsten stehen, ohne die mein Leben unvorstellbar wäre, und deshalb musst du mir verzeihen, wenn ich in gewissem Sinne euch, dich und deine Tochter, meine kleine, heißgeliebte Frau, die für mich wichtigsten Wesen, auf eine möglichst schreckliche Weise aufopfern werde. Es wird Leute geben, die dies nur als Selbstzweck und Effekthascherei abtun, obwohl …«

Poe sann nach, da er nicht ins Detail gehen wollte und es auch noch nicht konnte. Für ihn war klar, dass die unerträgliche Spannung, verursacht durch den Widerspruch zwischen unendlicher Freiheit und ewiger Gefangenschaft, die in einer grenzenlosen Liebe verborgen sind, nur durch den Kurzschluss eines Mordes abzuleiten ist. Vorerst dämmerte ihm dagegen nur als dunkles Gefühl, welches Ende die angeketteten Dämonen, die er während der Arbeit zu befreien pflegte, seiner im zarten Alter von dreizehn Jahren geheirateten, geliebten Nichte Virginia und der für ihn unentbehrlichen Schwiegermutter Maria vorsehen würden: Die eine würden sie wohl erwürgen und in irgendein dunkles, enges Loch hineinstopfen, der anderen aber den Kopf abreißen und ihren Körper wegschleudern.

Er sah Maria bedeutungsvoll an, wobei in seinem Blick bald ein neckisches Funkeln aufblitzte: »Keine Angst, meine Liebe, das Ganze ist nur ein Spiel, vielleicht ein wenig morbid, aber du weißt, der Wirkung zuliebe, wegen der Ausdruckskraft …« – der Schriftsteller schwieg eine Weile.

»Wenn jedoch der Mensch einerseits ein blutrünstiges wildes Tier ist, was andererseits wäre er sonst als ein in der Schöpfung verweilender einzigartiger Verstand! Demzufolge muss ich den entfesselten Instinkten den analytischen Geist entgegensetzen. Die hochrangige Fähigkeit der Analyse kann sich freilich in der Lösung einer Aufgabe, eines Rätsels am glänzendsten zeigen. Ein Rätsel soll also nicht nur die Person des Täters, sondern auch die Art des Mordes werden. Die Flucht des Bösewichts aus dem geschlossenen Raum sollte unmöglich erscheinen, so sehr, dass der alltägliche Verstand zur Erklärung nur das Wirken übernatürlicher Kräfte heranziehen könnte. Daher beinhaltet meine Erzählung zwei Geschichten: die eine ist die der Ermittlung, welche die andere Ereignisreihe, die zum Mord führte, aufklärt.

Du kennst mich, meine Liebe, die Schaffung einer solchen Konstruktion wird mir nicht schwerfallen, da ich mit unerbittlicher Logik bereits zahlreiche, von anderen aufgestellte Worträtsel und Geheimschriften lösen konnte, während es – abgesehen von einer Ausnahme, die für mich bis heute unverständlich und deshalb höchst verdächtig bleibt – keinem gelungen ist, meine Denkaufgaben zu erraten. Außerdem habe ich mit einwandfreier Beweisführung ein wirkliches Geheimnis enthüllt, den Schachautomaten des Baron von Kempelen, in welchem sich ohne Zweifel ein Mensch verbirgt.

Nunmehr werden nur Blinde, das heißt die überwiegende Mehrheit der Kritiker und Leser, nicht sehen, dass es um weit mehr geht als um einen grausamen Mord und dessen logisch gnadenlose Aufklärung. Du dagegen, die du jetzt in meinen Gedankengang eingeweiht bist, hast gewiss bemerkt, dass ich mein Inneres als Beispiel für die Außenwelt öffne: Das rationale Denken, das die dämonischen Kräfte, die mit ihm zusammen leben, zwar nicht zu zügeln vermag, nachträglich jedoch ihr mystisch erscheinendes Wesen enthüllen kann. Wie du siehst, im Kopf des Schriftstellers muss jeder Vorwurf, der seinen Namen verdient, bis zu seinem dénouement ausgearbeitet sein, ehe man an etwas mit der Feder herangeht. (POE, WERK 531)

Meine Erzählung wird gleichzeitig möglichst kurz sein, da auch für die Prosa gilt, was ich über die Lyrik denke, dass die Geschlossenheit der Wirkung nämlich nur so zur Geltung kommt, wenn das Werk sich in einem Zuge lesen lässt. Über welche Wirkung ich rede? Wie ich schon des Öfteren ausgeführt habe, das Schöne, die Erhebung der Seele sei das einzige legitime Gebiet des Gedichts. In der Prosa sind dagegen das Ziel ›Wahrheit‹, oder die Befriedigung des Intellekts, und das Ziel ›Leidenschaft‹, oder die Erregung des Herzens, weit eher zu verwirklichen. (POE, WERK 535, 536)

Der Mehrheit der Autoren gefällt es zwar besser, wenn die Welt glaubt, sie arbeiteten in einer Art holden Wahnsinns, einer ekstatischen Intuition. Ich erlaubte dir indessen einen Einblick in meine eigene Methode, die jedem zu empfehlen wäre. Bevor wir uns ein wenig ausruhen, lass uns diese zusammenfassen. Nachdem ich mich entschieden habe, welchen neuartigen und überzeugenden Effekt ich zu erreichen beabsichtige, und überlegt habe, welche eigentümliche Handlung und Tonart zur Erzeugung des Effekts am dienlichsten sind, nun, von da an lässt sich kein einziger Punkt in der Komposition auf Zufall oder Intuition zurückführen; das Werk geht Schritt um Schritt, wie die Ermittlung nach dem Orang-Utan in der von mir geplanten Geschichte, mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems seiner Vollendung entgegen.« (POE, WERK 532-534)

*

Der Schriftsteller und Maria entfernen sich in Richtung des Hauses. Poes Stimme dringt immer leiser zu uns durch. Sie verschwinden in der Tür und erscheinen im Rahmen des in der Dunkelheit leuchtenden Fensters. Mrs. Clemm bereitet einen Kaffee für ihren Schwiegersohn zu, lässt sich dann in ihrem gewohnten Sessel nieder und döst bald ein. Poe, über seinen Schreibtisch gebeugt, macht sich an seine Beschäftigung für heute Nacht, DIE MORDE IN DER RUE MORGUE zu schreiben – in den Hauptrollen C. Auguste Dupin und ein Affe.

*

Richter Di zupfte genervt an seinem schütteren Bart. Der mächtige Bezirksvorsteher der Tang-Dynastie war mit der Lage der Dinge in höchstem Maße unzufrieden. Er zog sich für die Nacht hierher, in eine Kirche, zurück, um höhere Mächte um Rat zu bitten. Was für eine schamlose Person! – geriet er wieder in Rage, als er an Frau Dschou dachte. Er hoffte, ein Traum würde ihn an diesem Ort aus der Sackgasse seiner Grübeleien herausführen. Zunächst ging er unruhig vor dem Altar auf und ab und rief sich die Geschehnisse der vergangenen Tage in Erinnerung.

Als ein Meister der Heilkunde verkleidet ermittelte er gerade in einem Doppelmord, als er beiläufig von einem verdächtigen Todesfall erfuhr. Um die Sache zu klären, kam er auf die Idee, das Grab des Verstorbenen, eines gewissen Bi Sün, aufzusuchen. Als er in der Begleitung seines treuen Dieners, Wachtmeister Hungs, auf dem Friedhof ankam, stieß er auf eine ernsthafte Schwierigkeit: Er fand nur ein dürres, mit Unkraut überwuchertes Stück Boden vor, auf dem sich namenlose, mit sonnengebleichten Knochen bedeckte Grabhügel erhoben. Der Richter neigte jedoch zu folgender Annahme: »Ist Bi Sün eines natürlichen Todes gestorben, so werden wir sein Grab wahrscheinlich nicht finden. Wurde er aber heimtückisch ermordet, so wird seine ruhelose Seele in der Nähe seiner sterblichen Reste umherirren und sich auf diese oder jene Weise bemerkbar machen.« (RICHTER DI 47)

Und wahrhaftig, während sie zwischen den Gräbern suchten, verdunkelte sich die Sonne, ein heftiger Windstoß fegte über den Friedhof und wirbelte Sand und Steine in die Höhe. Den dunklen Schatten einer undeutlichen Gestalt, die sich vor ihnen in der Luft entfaltete, forderte der Richter auf, ihm zu zeigen, aus welchem Grab er emporgeschwebt war. So geschieht es auch. Dann löst sich der Schatten plötzlich auf, der Wind legt sich, und alles war wieder so wie vorher. (RICHTER DI 48)

Die durch die zurückgekehrte Seele erhaltene Information wird bald darauf auch vom Totengräber bekräftigt, der mit einigen Mühen aufgetrieben werden kann. Wir dürfen es allerdings nicht einfach für eine Unaufmerksamkeit halten, dass der Richter zuerst nicht ihn, sondern den umherstreifenden Geist fragte. Da er sonst kaum aus seiner Annahme, die er jetzt bestätigt sieht, die Folgerung hätte ziehen können: »Es besteht kein Zweifel mehr, dass dieser Bi auf heimtückische Weise umgebracht wurde, was durch die Erscheinung seines Geistes, deren Zeugen wir eben waren, klar erwiesen ist.« (RICHTER DI 50)

Der Richter verdächtigt die stolze und scharfzüngige Witwe Dschou mit der Ermordung ihres Ehemannes. Sie leugnet die Tat, doch der Richter konfrontiert sie mit seinen gerade erlangten Erfahrungen: »Euer toter Gatte hat mir klar gesagt, dass ihr ihn ermordet habt.« (RICHTER DI 61) Es zeugt vom gesunden Menschenverstand der Frau, dass sie unter der Last dieses kaum widerlegbaren Beweises nicht zusammenbricht. Richter Di, den die Widerrede der Verdächtigen in Rage bringt, lässt vierzig Peitschenhiebe auf den nackten Rücken des unbändigen Geschöpfes vollstrecken. Da die Frau auch so nicht zur Vernunft zu bringen ist, überlässt er es den Daumenschrauben, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen – wiederum erfolglos.

Der Bezirksvorsteher, ein wenig verunsichert vom Misserfolg der gut bewährten Methoden, ordnet daraufhin die Ausgrabung des Leichnams an. Obwohl er diesmal die Hoffnung auf Sachbeweise hegt, versäumt er nicht, vorerst mit der exhumierten Leiche zu kommunizieren: »Solltet ihr eines gewaltsamen Todes gestorben sein und eure Seele noch auf Erden umherirren, fordere ich euch auf, eure Anwesenheit durch Schließen eurer Augen kundzutun.« (RICHTER DI 71) Die Lider der Leiche schließen sich tatsächlich; die Obduktion dagegen führt zu keinem Ergebnis.

*

Das Schießpulver könnte in China entdeckt worden sein, die Detektivgeschichte dagegen keinesfalls – so bemerkte einmal, wenn auch die Quelle etwas unsicher ist, Arthur Conan Doyle. An der Geschichte des unbekannten chinesischen Autors aus dem 18. Jahrhundert ist vor allem bemerkenswert, dass sich Richter Di auf zwei solche Mankos stützte, an die ein europäischer Detektiv im 19. Jahrhundert nicht einmal denken konnte: die Geister und die Folterinstrumente. In China dagegen hielt sich dieselbe, auf Bambusstöcken, Daumenschrauben und sonstigen wirkungsvollen Instrumenten aufbauende Rechtsprechung bis ins 20. Jahrhundert.

Der Roman MERKWÜRDIGE KRIMINALFÄLLE DES RICHTERS DI wurde vom niederländischen Orientalisten, Diplomaten und Schriftsteller Robert van Gulik im Jahr 1949 ins Englische übersetzt; dies war der erste chinesische Kriminalroman in einer europäischen Sprache. Van Gulik grub damit eine Geschichte aus, die in mancher Hinsicht den europäischen Detektivromanen verwandt war. Abgesehen davon, dass auch ein chinesischer Ermittler manche rationalen Erwägungen bei der Aufklärung einer Straftat in Betracht ziehen muss, erscheint der Mord hier bereits zu Beginn der Handlung als ein zu lösendes Rätsel.

 

Demgegenüber sind, wie van Gulik im Vorwort der Übersetzung betont, chinesische Kriminalromane gewöhnlich dadurch gekennzeichnet, dass der Täter gleich zu Beginn mit Namen, Vorleben und Tatmotiv vorgestellt wird. Die Wahl van Guliks verschont den europäischen Leser auch von der Schwierigkeit, dass sich in einer chinesischen Kriminalgeschichte durchschnittlich zweihundert Figuren tummeln. Zum Schluss wird dann die Art der Strafe, normalerweise eine Hinrichtung, minuziös dargestellt, und man würde dem Autor geradewegs übel nehmen, wenn er dem Leser die Schilderung der Qualen, die den Hingerichteten in der Hölle erwarten, vorenthalten würde.

*

Aus dem Nasenloch einer nackten, grünlichen Leiche kroch eine hellrote Natter. Schweißgebadet und mit ausgetrocknetem Mund erwachte der Richter auf dem Ruhelager des Tempels aus seinem Traum. Er hatte eine bewegende Nacht hinter sich. Nachdem er auf einer Bambustafel des dortigen Orakels ein vierzeiliges Gedicht entdeckt hatte, war er eingeschlummert. Im Traum erschienen ihm ein weiterer Vierzeiler sowie eine Bühnenszene. »Diese könnten sich wohl auf den Mord an Bi Sün beziehen«, grübelte er über die dunklen Andeutungen, »ohne aber zur Aufklärung des Sachverhaltes beizutragen.« (RICHTER DI 80)

Aus seiner Ratlosigkeit hilft ihm Wachtmeister Hung heraus. Sein Untergebener sieht durch die Verse nicht nur bekräftigt, dass beim Verbrechen auch eine dritte Person, nämlich der Geliebte von Frau Dschou, eine Rolle spielen könnte, sondern er hält es – aufgrund einer Anspielung in einer der Gedichtzeilen auf einen gewissen Sü, ansonsten ein weiser Mann aus vergangenen Zeiten – für gesichert, dass der angebliche Liebhaber so heißen muss. Der auch im praktischen Denken bewanderte Wachtmeister macht den immer noch unschlüssigen Richter schließlich auf die Maßnahmen aufmerksam, die von Anfang an sinnvoll schienen: Man sollte die hartnäckige Frau freilassen und ihr Haus unter Beobachtung stellen. Über diesen Plan war Richter Di sehr erfreut. Er beglückwünschte den Wachtmeister zu seinen klugen Folgerungen. (RICHTER DI 85)

Die ausgeschickten Späher nehmen in einer Nacht tatsächlich verdächtige Stimmen aus dem Haus wahr. Der Richter sieht die Zeit gekommen, das unmittelbar angrenzende Haus zu durchsuchen. Das Gebäude ist von Tang, einem Doktor der Literatur, und seinen Schülern, die er im Studium der Klassiker unterrichtet, bevölkert. Unter den Schülern entdecken sie auch einen Jüngling namens Sü, der gerade in dem Zimmer wohnt, das an das Haus der Witwe angrenzt. Bei der Durchsuchung des Zimmers machen sie einen unterirdischen Durchgang ausfindig.

Der betagte Doktor Tang versucht vergeblich seinen Lieblingsschüler, dessen Leben, genauso wie das der anderen, völlig nach den bewährten Grundsätzen geregelt ist, die für die Studenten der Klassiker gelten, in Schutz zu nehmen. Richter Di berührt es auch nicht, dass Sü Sprössling einer alten und vornehmen Familie ist. Zu allererst lässt er ihm fünfzig Schläge mit dem dünnen Rohr verabreichen. Dann verordnet er die große Folter. Die folgenreichsten Wirkungen des komplizierten Folterinstruments, das aufgrund der Beschreibung etwas schwierig zu rekonstruieren ist, sind, dass es die Gelenke beinahe ausrenkt, man konnte das Knirschen der Knochen hören, und das Opfer durch eine Schnur um den Hals nahezu erdrosselt wird. (RICHTER DI 182, 189, 190)

Sü bricht unter der Folter zusammen und berichtet über sein Verhältnis zu Dschou sowie über den Mord, den die Frau begangen hat. Er zitiert dabei treffend den uralten chinesischen Spruch: Hat man einmal einen Tiger bestiegen, so fällt es schwer, wieder abzusteigen. (RICHTER DI 192)

Da die ehebrecherische Witwe auch das Geständnis ihres Geliebten nicht erschüttert, kommt wieder sie an die Reihe. Die Arme und die Beine der Frau, die bis auf die Unterwäsche ausgezogen und ausgestreckt auf den Boden gelegt wird, werden in große Schraubklötze gepresst. Haut und Knochen wurden zerquetscht, das Blut tropfte auf den Boden. Das Opfer stieß schreckliche Schreie aus und verlor die Besinnung. (RICHTER DI 193) Dank ihrer Beständigkeit hält sie jedoch auch der wiederholten Folter stand.

*

Es ist höchste Zeit deutlich zu machen, dass Richter Di nicht von Sadismus und auch nicht einfach von der Wut angesichts der Leugnung der Verdächtigen geleitet ist. Das Problem des chinesischen Richters ist das gleiche, womit auch die Richter des europäischen Mittelalters zu tun hatten: Ohne Geständnis konnte ein Angeklagter nicht verurteilt werden.

Da die Gewalt nicht zum Ziel führt, wendet der Bezirksvorsteher eine List an. In der Nacht scheint in der Zelle der fürchterlich gefolterten Dschou ein bläuliches Licht auf. Vor den Augen der Frau entfalten sich die Umrisse eines mit rotem Tuch bedeckten Richtertisches und dahinter ein schwarzgekleideter Richter sowie Dämonen mit Ochsen- und Pferdeköpfen. »Ich bin gestorben«, schluchzte sie, »ich bin tot.« Und plötzlich überkam sie ein Gefühl der hoffnungslosesten Verlassenheit. (RICHTER DI 197)

Zu ihrem größten Entsetzen schwebt zudem eine grünliche, in ein schmutziges Tuch gehüllte Leiche vor den Richtertisch. Sie spürte keine Schmerzen mehr, nur eine schreckliche Müdigkeit und den einzigen Wunsch, sich alles von der Seele zu reden. Was war ihr ganzes Leben schließlich gewesen? (RICHTER DI 197-198)

Die Frau, die jegliche Folter überstanden hat, bricht angesichts der angeblichen Geister zusammen und befreit sich von ihrer schweren Last. »Ich nahm eine der langen, dünnen Nadeln, mit denen wir gewöhnlich Filzsohlen an unsere Schuhe nähen, und trieb sie ihm mit einem Holzschlegel in den Schädel ein, bis sie in ihrer ganzen Länge von drei Zoll völlig verschwunden war. Bi Sün schrie nur einmal auf; dann war er tot. Es floss kein Tropfen Blut, nur der Nadelkopf war wie ein winziger Punkt sichtbar; unmöglich, ihn in dem dichten Haar zu entdecken.« (RICHTER DI 198)

*

Die Schilderung der Hinrichtung erhält auch in der Geschichte von Richter Di einen gebührenden Platz. Nur der Vollständigkeit zuliebe soll sachlich und rücksichtsvoll zusammengefasst werden, was im Roman des unbekannten Autors mehrere Seiten beansprucht. Das durch den Richter vorgeschlagene Strafmaß für Sü wird von höchster Stelle, dank den außerordentlichen Verdiensten seines Vaters und seines Großvaters um das Wohl des Staates, (RICHTER DI 211) gemildert. Auf den Schüler der klassischen Literatur wartet die Erdrosselung, allerdings so, dass der Tod sofort eintritt. Das gewöhnliche Vorgehen weicht von diesem etwas ab, da es das dreimalige Anziehen der Schlinge vorschreibt, wobei der Tod erst nach dem dritten Zuziehen erfolgt. Dies betrachtete man als die günstigste Art der Hinrichtung, da der Körper nicht verstümmelt wurde; nach chinesischer Auffassung kann die Seele des Toten im Jenseits nur dann glücklich werden, wenn die Leiche dort in vollständigem Zustand angekommen ist.

Frau Dschou stand dagegen der langsame Tod, (RICHTER DI 211) die allmähliche, oft stundenlang andauernde Zerstückelung bevor. Die Milderung, aufgrund der schweren Folterungen, die bereits während dem Verhör stattgefunden hatten, bestand in ihrem Fall darin, dass der Henker die leichtblütige Witwe mit einem Stich ins Herz sofort tötete und nur dann begann, ihren Körper sachkundig zu zerlegen.

Nach all dem beunruhigt den Richter nur noch die Frage, dass er mit der Deutung der Bühnenszene, die in seinem Traum – für einen chinesischen Kriminalroman ebenfalls typisch – auftauchte, immer noch nicht richtig vorangekommen war. Von den zwei Ermittlungen, der Aufklärung des Mordes und der beruhigenden Auslegung des Traumes, wird somit nur die erste zufriedenstellend abgeschlossen.

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