Die Falle

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Attila Jo Ebersbach

Die Falle

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Eine Zwei mit sechs Nullen

Die Falle

Nachtfahrt im ICE

Der Ring

Toms Poker

Gezeiten

Die Tiroler sind lustig

Wie du mir ...

Gerechtigkeit

Feuer auf St. Pauli

Impressum neobooks

Eine Zwei mit sechs Nullen

Heinrich August Siebert war ein rechtschaffener Mann. Vertrauenswürdig, sittlich gefestigt und unbescholten. Kundenberater bei einer großen Sparkasse in der Darmstädter Innenstadt. Ein Mann, korrekt vom Scheitel bis zur Sohle, wie man so sagt. Dazu grundehrlich und loyal.

Zumindest bis vor Kurzem.

Er war Anfang fünfzig, hager, mittelgroß und trug das schüttere, zu einem undefinierbaren Grau verblasste Haar sorgsam von einer Schläfe zur anderen gekämmt, um damit die voranschreitende Glatze zu verbergen. Sein Mund war schmal, die Nase ein klein wenig zu spitz, und seine Haut sah immer aus, als habe er die vorherige Nacht freiwillig im Leichenschauhaus verbracht.

Seine stets etwas zu weiten mausgrauen Anzüge kaufte er, des Portos wegen immer drei Stück auf einmal, im Versandhandel. Ebenso seine weißen Nylonhemden und die dezent gestreiften Krawatten.

Ein liebend Weib war ihm bislang versagt geblieben. Obgleich sonst mit sich und der Welt zufrieden, war dies eines der wenigen Dinge in seinem Leben, mit denen er sich noch nicht ganz abgefunden hatte. Immer wieder versuchte er mit Kolleginnen anzubandeln, doch ein ums andere Mal scheiterte er. Er war nun mal für die Damenwelt nicht attraktiv genug.

So lebte er ein wohlgeordnetes, fehlerloses, aber langweiliges Leben ohne Höhen und Tiefen vor sich hin und ließ die Uhr seinen Tagesrhythmus bestimmen: Jeden Morgen stand er zur gleichen Zeit auf, benötigte genau dreiundzwanzigeinhalb Minuten für Morgentoilette und Frühstück, fuhr mit der Straßenbahn zur Arbeit, aß mittags um die gleiche Zeit am gleichen Stehimbiss eine Wurst – an „geraden“ Tagen eine Bratwurst, an „ungeraden“ eine Currywurst – kam jeden Tag um die gleiche Zeit nach Hause in sein Reihenhäuschen am Rande der Stadt, bereitete sein Abendbrot zu und ging pünktlich nach der Tagesschau zu Bett. Und er war stolz darauf, dass es in seinen fast 35 Berufsjahren nicht die geringste Unregelmäßigkeit an seinem Arbeitsplatz gegeben hatte.

Bis er plötzlich eines Tages die Tristesse und Freudlosigkeit seines bisherigen Lebens vor Augen geführt bekam. Ein Kunde, den er wegen dessen zwielichtigen Geschäften zutiefst verachtete, amüsierte sich – selbst braun gebrannt – über sein blasses Aussehen und fragte ihn süffisant, warum er denn nicht mal Urlaub bei kaffeebraunen Señoritas mache und sich von ihnen verwöhnen lasse. Ob er ihm vielleicht ein paar Prospekte besorgen solle. Und er erzählte ihm lachend von seiner letzten heißen Eroberung an der Copa Cabana.

Von der überheblichen, herablassenden Art dieses Kunden zwar angewidert, kam Siebert dennoch ins Grübeln und besorgte sich noch am gleichen Tag in einem Reisebüro um die Ecke Prospekte von Urlaubszielen jenseits des Meeres.

Die studierte er am Abend ausgiebig und war sichtlich von den verlockenden, ein sorgloses Leben unter Palmen und in Gesellschaft heißblütiger Señoritas vorgaukelnden Bildern beeindruckt. Ein paar Abende lang kämpfte er mit seinen Grundsätzen. Je öfter er sich jedoch in die Prospekte vertiefte, desto mehr stieg der Drang nach Veränderung in ihm auf. Bis er nach einer schlaflosen Nacht zu einer Entscheidung kam und beschloss, nun auch bald weit weg ein neues Leben zu beginnen.

Hans, der Portier, war der Erste, der Sieberts Verwandlung bemerkte, als dieser sich anschickte, das Bankgebäude zu verlassen. Irritiert verkniff er sich daher sein übliches „Auf die Minute, Herr Siebert! Schönen Feierabend!“ und ließ Siebert schweigend passieren. Angespannt stierte der vor sich hin und hielt seine dünne, abgewetzte Aktentasche vor die Brust gepresst. In der Drehtür schaute er sich ängstlich um; dann eilte er aus dem Gebäude.

Willy Nickmann, der Straßenbahnfahrer, war der Zweite, der sich wunderte. Sonst hatte Siebert stets ein paar freundliche Worte mit ihm gewechselt, sich auf seinen Stammplatz schräg hinter ihm gesetzt und Zeitung gelesen. Aber heute war er wortlos an ihm vorbeigestürmt und hatte sich auf der hintersten Bank in die äußerste Ecke verkrochen. Was war los mit seinem Fahrgast? Mittlerweile kannten sie sich doch auch schon ein paar Jahre. Achselzuckend brachte Willy seine Straßenbahn in Fahrt.

Derweil rutschte Siebert unruhig auf der Bank hin und her und blickte sich ständig ängstlich nach allen Seiten um. Verkroch sich tief ins Polster, als ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht und Sirene die Bahn überholte, und stieß hörbar erleichtert die Luft aus, als dieses nach links in eine andere Straße abbog.

An seiner Haltestelle angekommen stürzte Siebert grußlos aus der Bahn, überquerte rasch die Fahrbahn und eilte zu seinem Reihenhaus. Er hastete die Stufen hoch, immer zwei auf einmal nehmend. Zog im Schlafzimmer einen bereits gepackten Koffer aus dem Schrank, öffnete ihn und stopfte den Inhalt seiner Aktentasche zwischen Socken und Wäsche. Fünftausend US-Dollar in Fünfzigern. Ein Bündel Zehner und Einer steckte er in die Brieftasche. Dieses Geld musste fürs Erste reichen, bis er an das andere, das große Geld kam. Jene zwei Millionen Dollar, die er heute noch kurz vor Dienstschluss auf eine Bank auf den Bahamas transferiert hatte.

Er musste, ganz gegen seine Gewohnheit, grinsen, als er an den gelungenen Coup dachte, der ihn nun bald zu einem freien Mann machen würde. Zu einem reichen freien Mann. Und ihm fiel auf, dass es wie Fesseln von ihm abfiel und sich eine seltsame, noch nie gefühlte Leichtigkeit seiner bemächtigte. War er bereits ein anderer Mensch geworden? Hatte die Aussicht auf das viele Geld ihn schon verändert?

Fast schien es so.

In größter Eile duschte er, zog frische Wäsche und Kleidung an und rief ein Taxi. Aus alter Gewohnheit vergewisserte er sich, dass alle Fenster geschlossen und Herd und Geschirrspüler abgeschaltet waren. Sorgsam verschloss er die Haustür und stieg in das Taxi. In knapp einer halben Stunde bin ich in Frankfurt, drei Stunden später in London, dachte er während der Fahrt zum Darmstädter Hauptbahnhof. Und von dort würde es nur noch etwa zehn Stunden dauern, bis er in Nassau auf den Bahamas endlich sein neues Leben beginnen konnte.

Zufrieden lehnte er sich im Sitz zurück, als der Airbus in Frankfurt abhob. Zwar war es der erste Flug in seinem Leben und er hatte befürchtet, vor Angst Schweißausbrüche zu bekommen, doch inzwischen strömte so viel Adrenalin durch seine Adern, dass ihm mittlerweile alles egal war.

Den Zeitpunkt seines Coups hatte er mit äußerster Sorgfalt gewählt. Morgen, Freitag, war der „Tag der Deutschen Einheit“, ein arbeitsfreier Feiertag. Aber eben nur in Deutschland, sinnierte er grinsend. So kann ich den ganzen Tag für meine Aktivitäten nutzen. Doch auf der Bank wird vor Montag niemand die Unterschlagung bemerken. Dann jedoch bin ich längst über alle Berge.

Wohlgelaunt wie noch nie in seinem Leben rief er die Stewardess und ließ sich einen Piccolo bringen. Deine Cleverness muss gefeiert werden, Heinrich August, dachte er und prostete sich selber zu.

Auf dem International Airport Heathrow bekam er an diesem Abend jedoch keinen Anschlussflug mehr auf die Bahamas. Erst morgen um zehn nach neun, wurde ihm beschieden. Verflixt und zugenäht! Nun musste er sich nicht nur eine ganze Nacht um die Ohren schlagen, sondern verlor auch noch wertvolle Zeit. Die Zeitverschiebung „schenkte“ ihm zwar fünf Stunden, und so würde er schon gegen elf Uhr Ortszeit in Nassau landen. Als Pedant jedoch ließ ihn jede Abweichung von seinem Plan nervös werden.

Vor sich hindösend verbrachte er die Nacht in einem Wartesaal, immer in Angst, einzuschlafen und den Flieger zu verpassen. Aber er blieb wach und startete pünktlich mit einer Boeing 727 in sein neues Leben.

Während er das Frühstück an Bord genoss, ließ er noch einmal seinen Meisterstreich Revue passieren. Im Grunde war es ganz einfach gewesen und er fragte sich, warum er nicht viel früher auf die Idee gekommen war. Aber er war halt schon immer ein Spätzünder gewesen, das hatte ihm bereits seine Mutter vorgehalten.

Im Laufe der vergangenen Monate hatte er zugunsten eines bestimmten Kunden in regelmäßigen Abständen größere Summen nicht ganz astreinen Geldes auf die Bahamas transferiert. Dort unterhielt seine Bank bei der „First National Bank of America“ ein eigenes Konto, über das sämtliche Transaktionen auf dem amerikanischen Kontinent abgewickelt wurden. Für dieses Konto hatte er, Siebert, bis zur Summe von zwei Millionen Dollar Vollmacht, was bedeutete, dass er rein theoretisch von diesem auch ohne Probleme auf ein eigenes Konto überweisen konnte.

 

Und genau das hatte er getan. Die letzten Zahlungen zugunsten des besagten Kunden – insgesamt zwei Millionen Dollar – hatte er zwar auf das Konto bei der First National Bank überwiesen, sie jedoch nicht, wie bisher üblich, nach Grand Cayman auf ein Konto des Kunden weitergeleitet, sondern sie in Nassau liegen lassen und gestern Abend kurz vor Dienstende auf ein vor wenigen Tagen auf seinen Namen eingerichtetes Konto transferiert.

Sollen sie doch ruhig meine Spur bis dorthin verfolgen, dachte er und rief die Stewardess, um einen weiteren Piccolo zu bestellen. Ich werde das Geld bar abheben und noch am gleichen Tag in ein mittelamerikanisches Land fliegen. Nicaragua vielleicht oder Honduras. Egal, Hauptsache, ich komme so schnell wie möglich weg aus Nassau.

Dann werde ich „Inselhopper“ anheuern. So nannte man jene meist einmotorigen alten Klapperkisten mit noch älteren, verwegenen Piloten, die einen auch in die Hölle brächten, wenn man sie nur gut genug dafür bezahlte. Die fragten keinen nach seinem Woher und Warum. Mit drei, vier solcher Flüge quer durch Mittelamerika und etwas Schmiergeld für die jeweiligen Piloten würde sich seine Spur endgültig verwischen lassen, da war er sich sicher. Wir, das Geld und ich, dachte er, werden bald auf Nimmerwiedersehen verschollen sein.

Niemand wird meine Spur finden.

Und dann, wenn Gras über die Sache gewachsen ist, gehe ich nach Mexico, sponn er den Faden weiter. Das war schon immer mein heimlicher Traum. Mexico ... Allein der Klang des Namens ließ verheißungsvolle Bilder vor seinem inneren Auge entstehen! Auf die Karibikinsel Cozumel. Oder die Isla de las Mujeres. Ja, das klingt gut, fand er: Insel der Frauen. Man sagt doch: nomen est omen, oder? Zufrieden öffnete er die Augen, denn jetzt begann der Film, den der Bordservice für seine Passagiere bereithielt.

Nach dem Film schloss er erneut die Augen. Er hatte ein fast erotisches Verhältnis zu Geld. Früher, als es noch keine anonymen Geldautomaten gab, er noch Kassierer war und das Geld per Hand gezählt hatte, war ihm nach dem Zählen von größeren Summen bisweilen ganz anders geworden. Später waren es die Millionensummen gewesen, die er per Computer von einem Konto auf ein anderes transferierte, die ihm Ähnliches beschert hatten. Nun aber, da es sich um sein eigenes Geld handelte, musste er an sich halten, um nicht vor Lust laut loszubrüllen.

Im Geiste sah er sie wieder vor sich, die Summe, die er gestern in das Computerformular eingetippt hatte: eine Zwei mit sechs Nullen! Fast ehrfürchtig hatte er sie eine ganze Minute lang angestarrt. Zwei Millionen. Seine zwei Millionen! Ihm war für einen Moment fast schwindelig geworden. Zwar hatte er schon größere Summen geschrieben, kein Zweifel, aber das da war seine eigene gewesen. Eine Zwei mit sechs Nullen! Er konnte es kaum fassen.

Bei einem Zinssatz von, vorsichtig geschätzten, drei Prozent wird das immerhin fünftausend Dollar pro Monat einbringen, ohne das Kapital anzugreifen, dachte er weiter. Eine ewige, nie versiegende Geldquelle. Damit lässt sich in Mexico wie ein Fürst leben. Und als solchen werden mich wohl auch die mexikanischen Señoritas ansehen und mich mehr als reichlich für mein bisheriges, unbeweibtes Leben entschädigen.

Den Rest des Fluges verschlief Siebert und träumte von einer Schar heißblütiger Schönheiten, die ihn rundum verwöhnten. Er wachte erst wieder auf, als die Maschine reichlich unsanft auf dem „Nassau International Airport“ aufsetzte und ihn der Umkehrschub durchschüttelte. Mit seinem Touristenvisum durchlief er problemlos die US Immigration, rief ein Taxi herbei und ließ sich sofort zur First National Bank of America bringen.

In der Schalterhalle brauchte er nicht lange, um sich zu orientieren, denn im Prinzip sehen Banken auf der ganzen Welt gleich aus. Er fand auch schnell ein freies Pult mit Formularen und begann, einen Auszahlungsschein auszufüllen. Fast liebevoll schrieb er die Zahl: Zwo. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Punkt. Strich. Er unterschrieb und ging zur Kasse. Schob dem Kassierer den Schein und seinen Reisepass zu und tat gelangweilt.

Doch in seinem Inneren war er zum Zerreißen gespannt.

Der Kassierer stutzte, notierte etwas auf dem Schein – Siebert konnte, obwohl er einen langen Hals machte, nicht sehen, was es war – tippte auf einer Tastatur herum, blickte wartend auf den Bildschirm, nickte, nahm ein Bündel Scheine aus einem Fach und blätterte sie auf den Tresen. Dann sagte er: „Have a nice day, Sir!“, lächelte und wandte sich anderer Arbeit zu.

Siebert zählte das Geld nach. Doch nun war es an ihm, zu stutzen. „E-h-h-h“, räusperte er sich und trommelte mit den Fingern auf den Tresen.

„Sir?“ Der Kassierer drehte sich um und sah ihn fragend an.

„Zwanzigtausend. Sie haben mir nur zwanzigtausend ausgezahlt, Mister. Hier muss ein Irrtum vorliegen. Ich hatte zwei Millionen auf den Schein geschrieben. Two million dollars, you understand?“

„Two million? No, Sir! Sehen Sie hier“, und er nahm den Auszahlungsschein noch einmal zur Hand, „hier stehen zwanzigtausend, you see?“

„Aber auf meinem Konto sind doch zwei Millionen, oder?“ Siebert wurden die Knie weich.

Der Kassierer tippte erneut auf der Tastatur herum, schaute auf den Bildschirm und schüttelte den Kopf. „No, Sir, auf Ihrem Konto waren genau diese zwanzigtausend. Kein Cent mehr.“

Siebert griff nach dem Schein: „Hier, sehen Sie doch, eine Zwei mit sechs Nullen. Sechs!“, rief er verzweifelt, „das sind zwei Millionen und nicht zwanzigtausend!“ Seine Hand zitterte, als er dem Kassierer den Zettel hinhielt.

Der schüttelte den Kopf. „Sir, in den United States ist es so,“ erklärte er, „wenn Sie zwei Millionen schreiben wollen, dann ist das eine Zwei mit sechs Nullen ...“

„Sag ich doch!“, unterbrach ihn Siebert aufgebracht.

Aber der Kassierer ließ sich nicht so leicht unterbrechen. „... mit sechs Nullen, einem Komma, und dann noch einmal zwei Nullen. Ein Punkt mit Strich gibt es in den United States nicht. Das ist Nonsens.“

Siebert stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Er riss den Schein an sich und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sah, was der Kassierer vorhin markiert hatte: Er hatte Punkt und Strich durchgestrichen und dafür vor die letzten beiden Nullen ein Komma gesetzt.

„Mein Gott!“, stöhnte Siebert und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, „ich hätte es doch verdammt noch mal wissen müssen!“ Zigmal schon hatte er Formulare für diese Bank ausgefüllt, und immer auf die hier gebräuchliche Art.

Gestern aber, in seiner Aufregung, und auch heute war er auf die gute alte deutsche Schreibweise mit Punkt und Strich verfallen.

Am Montagmorgen saß Siebert wieder an seinem gewohnten Arbeitsplatz in der Bank. Als Erstes machte er eine Überweisung von zwanzigtausend Dollar rückgängig. Einer Zwei mit sechs Nullen.

Und einem Komma.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?