Wie bringe ich die Kuh tanzend vom Eis?

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Mögliche Symptome einer unverarbeiteten traumatischen Erfahrung

Im Folgenden möchte ich Symptome auflisten, die auf ein Trauma hinweisen können und sich zum Teil erst mit der Zeit entwickeln. Dabei besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit, die Liste ließe sich beliebig erweitern. Es handelt sich nicht um Diagnosekriterien, sondern lediglich um eine erste Orientierung,11 einzelne Symptome können natürlich auch aus völlig anderen Gründen auftreten.

permanente Anspannung körperlicher und seelischer Art, Überaktivität, erhöhte Wachsamkeit

die Bewältigung von belastenden Ereignissen unter Zeitdruck ist schwierig und gelingt nur mäßig

Schreckhaftigkeit und extreme Geräusch- und Lichtempfindlichkeit

extreme emotionale Reaktionen, plötzliche Stimmungswechsel wie Wutanfälle oder häufiges Ärgern bzw. Weinen

häufiges Erleben von Scham und Schuldgefühlen

Schlafstörungen, Albträume und Ängste in der Nacht

Suchtverhalten beispielsweise in Bezug auf Alkohol, Zigaretten, Essen

selbstverletzendes Verhalten, wie zum Beispiel, sich selbst zu schneiden

verringerte oder sehr ausgeprägte Libido

Vermeidungsverhalten in Bezug auf Menschen, Orte, Erinnerungen, bestimmte Unternehmungen oder auch körperliche Bewegung

Ängste, Phobien und Panikattacken

niedrige Hemmschwelle, sich gefährlichen Situationen auszusetzen

das Gefühl, jung zu sterben und ein bestimmtes Alter nicht mehr erreichen zu können

Verlust von Spiritualität und Bindungen zu anderen Menschen

Dissoziation als Rettungsanker im Trauma

In diesem Zusammenhang möchte ich den Begriff der Dissoziation12 etwas erklären. Bei der Dissoziation werden Menschen zu ihrem Schutz von ihrem Körper sowie ihren Gefühlen dissoziiert, also getrennt. Sie erleben ihre Wahrnehmung als begrenzt und fühlen sich dann weder präsent noch geerdet.

Im Grunde ist Dissoziation ein normaler Prozess, der im Alltag auftritt. Tagträumen, automatisiertes Handeln oder auch das völlige Ausblenden der eigentlichen Realität beim Anschauen eines spannenden Films oder beim Lesen eines fesselnden Buches sind Facetten von dissoziativen Phänomenen.

Auch bei der Dissoziation, die zum Beispiel aufgrund eines traumatisch verarbeiteten Erlebnisses auftritt, handelt es sich um eine normale Reaktion, die augenscheinlich zum menschlichen Repertoire dazugehört. Es ist die Reaktion auf ein Erleben, das jenseits unserer normalen Realität liegt. Dabei können schwere Symptome auftreten, die zu massivem Leiden und Beeinträchtigungen im Alltag führen können – wie beispielsweise eine dissoziative Amnesie. Hier zeigt sich die Dissoziation durch das Vergessen der Details eines sehr bedrohlichen Ereignisses oder gar durch das Vergessen des gesamten Ereignisses bzw. ganzer Abschnitte des Lebens.

So war zum Beispiel ein Klient bei mir zur Psychotherapie, der von sich sagte, dass er sich zwar an rein gar nichts aus seiner Kindheit erinnern könne, dass er aber wisse, dass er eine gute Kindheit gehabt habe. Die jetzigen Symptome könne er sich gar nicht erklären, mit seiner Kindheit hätten sie aber ganz sicher nichts zu tun. Im Laufe der Therapie stellte sich dann heraus, dass der Klient als kleiner Junge im Alter zwischen vier und acht Jahren kontinuierlich von seinem Onkel sexuell missbraucht worden war. Er hatte keine Vertrauensperson, an die er sich hätte wenden können, und die Drohungen des Onkels und der ständige sexuelle Missbrauch hatten ihn so belastet, dass seine Psyche sich mit der vollständigen Abspaltung – also Dissoziation und Vergessen – der gesamten Lebensphase geschützt hat, um das furchtbare Geschehen irgendwie zu überleben.

Auch Gefühle von massiver Isolation oder das Empfinden, wie gelähmt zu sein, oder das Auftreten von Taubheit bestimmter Körperregionen können Aspekte der Dissoziation darstellen.

In meiner Praxis war beispielsweise eine Klientin, die schweren sexuellen Missbrauch erlebt hatte und die im Rahmen von Dissoziationen, die durch plötzliche Flashbacks und Traumaerinnerungen ausgelöst wurden, bestimmte Körperteile nicht mehr bewegen konnte. Arme oder Beine waren dann plötzlich teils für einen längeren Zeitraum wie gelähmt.

Sie schreibt:

»Es kann auch den gesamten Körper betreffen, sogar eine völlige Bewegungslosigkeit für Zeiträume zwischen Minuten und Stunden kann eintreten, und manchmal kippt es sogar in eine Art ›Schlaf‹. Ich weiß ja auch nicht, was das dann ist. Das kürzeste Wegkippen dauerte bei mir ca. 30 Minuten, das längste ca. 2 Stunden.«

Nachdem die schrecklichen Erlebnisse nach und nach in der Therapie verarbeitet wurden, haben diese Phänomene bei ihr glücklicherweise nachgelassen.

Bei der Dissoziation kann es sich wie oben beschrieben um einen Zustand der Erstarrung oder der Erschlaffung oder beispielsweise auch um ein Gefühl des Benebeltseins, um eine sogenannte Derealisation oder eine Depersonalisation handeln. Derealisation bedeutet in diesem Fall eine verfremdete Wahrnehmung der Umwelt, das heißt von anderen Personen, Gegenständen oder auch der Umgebung: Sie erscheinen plötzlich unvertraut und fremd. Wenn wir sehr erschöpft, müde oder emotional hoch belastet sind, kann auch bei uns ein leichtes Erleben von Derealisation auftreten, obwohl wir nicht traumatisiert sind. Die Depersonalisation bedeutet dahingegen, dass man sich selbst als fremd erlebt.

Oft erkennen Menschen die Dissoziation als solche nicht, weil es für sie inzwischen normal ist, sich innerhalb bestimmter Kontexte in dieser Art und Weise belastet zu fühlen oder sich nicht erinnern zu können.

Meine traumatisierten Klienten berichten im Verlauf der Traumatherapie häufig, dass sie erst jetzt bemerken, in wie vielen Situationen in ihrem Alltag sie Flashbacks hatten oder dissoziiert waren. Diese Zustände waren vorher so normal in ihr Leben eingeflochten, dass Sie sie nicht weiter registriert hatten.

Den Begriff Flashback benutzt man, wenn jemand eine Reaktion auf eine Situation zeigt, die viel zu stark und unangemessen ist. Flashback bedeutet dabei (blitzartiges) Wiedererleben: Die betroffene Person erlebt beispielsweise unbewusst eine hochbelastende frühere Situation auf der körperlichen und emotionalen Ebene intensiv wieder. Gleichzeitig kann sie den Zusammenhang zu der früheren Situation nicht erkennen, was in der Regel extrem belastend ist. Reagiert also jemand unerklärlich und extrem auf bestimmte Situationen in seinem Leben, so kann es sich um einen Flashback eines womöglich traumatisch verarbeiteten Erlebnisses handeln.

Trauma, Dissoziation, Flashbacks und Trigger

Bei einem traumatisierten Menschen kann Dissoziation zusätzlich in allen Kontexten auftreten, wenn das Unbewusste sich in einer Situation an das Trauma erinnert fühlt und dadurch ein Flashback ausgelöst wird, in dem diese Person sich körperlich und emotional innerhalb ihres Traumaerlebens wiederfindet. Das kann passieren, obwohl sie den Grund für diesen Zustand nicht bewusst kennt. Sie erlebt wie oben beschrieben beispielsweise die unterschiedlichen Zustände von Dissoziation, massivem Stress, Angst oder Panikattacken, unkontrolliertem Zittern oder Gedankenrasen, extremer Wut oder auch Gewalttätigkeit, auf die sie aus ihrer Sicht keinen Zugriff hat und aus der es kaum ein Entkommen gibt.

Viele unbewusste Schlüsselreize, sogenannte Trigger, sind in unserem Unbewussten gespeichert und bewirken, wenn sie ausgelöst werden, sehr viel Stress. Zuständig dafür ist die sogenannte Amygdala, die einen kleinen Teil des limbischen Systems darstellt, das unter anderem für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist.

Stellen Sie sich vor, Sie sind in der Bank und erleben einen Überfall mit. Sie haben Todesangst, und Ihre Amygdala speichert die blonden Korkenzieherlocken des Bankräubers als zu diesem höchst stressvollen Ereignis gehörend ab und somit als bedrohlich – wie alles, was mit dieser Situation zusammenhängt. Einige Zeit später stehen Sie in einem Aufzug, und jemand mit exakt solchen blonden Korkenzieherlocken tritt ein. Nun reagiert die Amygdala panisch mit einer massiven Sympathikus-Reaktion auf eben diese blonden Locken und löst einen Traumazustand aus, weil sie sich genauso bedroht fühlt wie in der Situation des Bankraubs. Dummerweise besteht das Risiko, dass nun der Aufzug als genauso bedrohlich abgespeichert wird wie die Locken und der dahinterstehende Banküberfall. So entsteht neben dem Trigger »blonde Korkenzieherlocken« der Trigger »Aufzug«. Wenn nun bei Ihrer nächsten Aufzugfahrt jemand mit einer blauen Jacke mit an Bord ist, kann es sein, dass die Amygdala diese blaue Farbe ebenso in das Trigger-Netzwerk integriert. Wie das weitergeht, kann man sich leicht vorstellen. Das Bewusstsein registriert häufig nicht, dass es sich schlichtweg um Trigger handelt, sondern versteht die eigenen Reaktionen nicht und reagiert mit Unverständnis.

 

Einen Ausstieg aus diesem Automatismus gibt es über die Selbstregulation von Körper und Psyche, über die Integration von Ressourcen und spezielle Traumatherapie-Methoden. Ein Großteil der hier vorgestellten Methoden kann dafür genutzt werden.

Die Traumatherapie

Der Einsatz von speziellen Selbstregulationstechniken und die Integration von Ressourcen sowie Trauma bearbeitende Methoden sind elementar in der Traumatherapie. Sollten Sie eine Traumatherapie beginnen wollen, ist es wichtig, darauf zu achten, dass diese Therapeutin speziell für die Heilung von Traumata ausgebildet ist.

Ich selbst setze als Trauma bearbeitende Methoden spezielle Augenbewegungstechniken wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) oder EMI (Eye Movement Integration Therapy) ein. Es hat sich herausgestellt, dass sich emotional belastende Ereignisse mithilfe von angeleiteten Augenbewegungen sehr gut verarbeiten lassen. Zudem nutze ich unter anderem Bildschirmtechniken sowie Visualisierungsmethoden aus der Hypnosetherapie, die Ego-State-Therapie und weitere unterstützende Methoden wie Elemente aus der Systemischen oder der Energetischen Therapie. Mit den genannten Methoden kann man sowohl das Ursprungsthema heilen lassen als auch die danach entstandenen sogenannten Triggernetzwerke bearbeiten, die zum Beispiel durch Flashbacks entstehen können und im Alltag sehr belastend sind.

Weiterhin sind Selbstregulationstechniken und die Integration von Ressourcen elementar, damit die betroffene Person sich selbstwirksam im Gleichgewicht und damit innerhalb ihres Stress-Toleranz-Fensters aufhalten kann. Dabei können all die im Praxisteil vorgestellten Techniken unterstützend wirken.

SELBSTREGULATION ALS CHANCE ZUR AKTIVEN SELBSTBESTIMMUNG

Auch wenn wir uns innerhalb des neu aktivierten Traumaerlebens nur wenig oder gar nicht regulieren können, ist doch die gute Nachricht, dass wir eingreifen können, solange wir uns innerhalb unseres Stress-Toleranz-Fensters befinden.

Je einfacher die Methoden sind, desto eher können sie bei steigendem Stresspegel noch genutzt werden. Hinweise auf passende Techniken finden Sie in den Kapiteln »Basisübungen für körperliche und seelische Harmonie« (S. 189), »Übungen zur Reorientierung und Stabilisierung« (S. 189) sowie »Übungen zur Stabilisierung, Entspannung und Beruhigung« (S. 189).

Wir können immer wieder achtsam wahrnehmen, was in unserer Umgebung passiert und was es in uns auslöst. Die achtsame Wahrnehmung der eigenen Anspannung und der eigenen Befindlichkeit ist die Voraussetzung, um uns ggf. bei kleinsten Veränderungen ins Gleichgewicht zurückzuholen. Hierbei ist es sehr hilfreich, die momentane Situation und die eigene Befindlichkeit wertschätzend anzunehmen. Denn wie wir wissen, verknüpfen sich die Netzwerke, die zusammen feuern. In diesem Fall würde sich die als stressvoll erlebte Situation mit Netzwerken von Selbstwahrnehmung, Wertschätzung und Selbstakzeptanz verknüpfen. Wie oben schon beschrieben, findet also allein dadurch eine Neuverknüpfung mit Ressourcennetzwerken statt. Das unterstützt die Selbstregulation, weil diese Netzwerke bei häufiger Nutzung in der Zukunft miteinander feuern und Gefühle von Wertschätzung, Selbstakzeptanz und innerem Abstand des Erlebten durch das Beobachten selbstständig auftreten können.

Die richtige Spannung für den eigenen Organismus finden – Hyper-Arousal und Hypo-Arousal

Häufig entwickeln Menschen mit Trauma-Hintergrund eine niedrigere Stresstoleranz und reagieren dann entweder mit einer massiven Erhöhung oder starken Absenkung des inneren Erregungsniveaus auf eigentlich harmlose und bewältigbare Situationen (s. auch Abb. 8). Regulation der inneren Erregung kann entweder bedeuten, dass ich mehr Entspannung benötige oder auch eine größere Spannung aufbauen sollte. Das ist abhängig davon, ob mein inneres System zu einer Überanspannung und damit zu einem Freeze-Zustand tendiert oder ob eher das parasympathische Erschlaffungsprogramm und damit eine Unteranspannung eintritt.

Wichtig ist es dann jeweils, in die Gegenrichtung zu gehen, sich also bei einer zu hohen Anspannung zu entspannen und bei einer viel zu niedrigen Anspannung in die Bewegung zu gehen, aber ebenfalls für Entspannung zu sorgen.

Viele Menschen mit Trauma-Kontext schwanken zudem von einer viel zu hohen Anspannung, Hyper-Arousal genannt, zu einer viel zu niedrigen Anspannung, auch als Hypo-Arousal bezeichnet. Beide Mechanismen werden in unterschiedlichem Ausmaß für den Betroffenen beispielsweise durch Außenreize unkontrollierbar an- und ausgeschaltet.

Das Hyper-Arousal – Auswirkungen einer zu hohen Anspannung im Alltag

Beim Hyper-Arousal ist die Reaktion auf überraschende Situationen oder stressvolle Ereignisse mit einer zu hohen Erregung verknüpft. Auswirkungen sind, neben den schon oben genannten, Hyperaktivität, eine gesteigerte Wachsamkeit, Wut und Aggression, Angst und Panik oder auch Euphorie bzw. Manie.

Das Hypo-Arousal – Auswirkungen einer zu niedrigen Anspannung im Alltag

Beim Hypo-Arousal oder der Untererregung zeigt sich als Reaktion auf diese Wahrnehmung von Stress ein Abschalten mit Rückzugs- und Vermeidungstendenz. Das kann sich in Erschöpfung und Depression, Gleichgültigkeit und Kraftlosigkeit oder auch in chronischer Hilflosigkeit ausdrücken.

Die Regulation des Spannungsniveaus

Zur Regulation des Spannungsniveaus ist es grundsätzlich wichtig, ausreichend Entspannung, Pausen und Möglichkeiten zur Regeneration in das Leben zu integrieren, damit der Parasympathikus immer wieder eine entspannende Wirkung entfaltet und sich Körper und Psyche von stressvollen Erlebnissen regenerieren können, anstatt sich regelrecht immer mehr hoch- oder runterzuschaukeln und dann zu entgleisen. Also sollte der Blick auf einer optimalen Anspannung liegen.

Abb. 9: Der Effekt der Selbstregulation innerhalb des kognitiven Lernfensters. Bei steigender bzw. fallender Anspannung funktioniert die Gegenregulation (rote Pfeile), sodass Ausschläge in Bereiche mit zu hoher oder zu niedriger Anspannung vermieden werden.

Durch die Selbstregulation hat man die Möglichkeit, zu seinem eigenen Kotherapeuten zu werden und ein erhöhtes Maß an Selbstwirksamkeit und Stabilität in Situationen zu erzeugen, in denen sonst nur Hilflosigkeit und Destabilisierung vorherrschten. Nähere Informationen zu den Grundlagen dazu finden Sie u. a. auch im Kapitel 2 (S. 52). Die vorgestellten Methoden in diesem Buch können Sie dabei unterstützen, diese Art der Selbstregulation zu erlernen und immer mehr zu nutzen.

Die Abbildung 9 illustriert diese Effekte. Geht die Anspannung innerhalb des Stress-Toleranz-Fensters zu weit nach oben, kann man regulierend eingreifen, indem man sie mit den entsprechenden Methoden senkt. Und geht sie zu weit nach unten, kann man ebenso regulierend eingreifen, indem man sie sanft erhöht, sodass man weder in einer Über- noch in einer Unteranspannung zurückbleibt.

Das eingeschränkte Lernfenster bei schweren Traumafolgestörungen

Der Vollständigkeit halber möchte ich noch hinzufügen, dass sich das Lernfenster bei Menschen, die unter massiven Traumafolgestörungen leiden, sehr stark einengen kann. Die Konsequenz ist, dass kleinste Reize und Irritationen im Alltag ausreichen, um die von Traumata betroffenen Personen massiv zu destabilisieren. Sie schwanken dann auch viel schneller und extremer von einem Freeze-Zustand zu einem Erschlaffungszustand. Dies macht deutlich, wie wichtig insbesondere bei schweren Traumatisierungen die Selbstregulation und Selbstberuhigung ist. Die Abbildung 10 zeigt die entsprechende Graphik zum eingeschränkten Lernfenster. Nun kann man nachvollziehen, warum es diesen Menschen so schwerfällt, zu lernen und sich zu konzentrieren.

Es wird deutlich, wie viel mehr an Leistung Menschen mit einem solch reduzierten Lernfenster vollbringen müssen.

Eine Klientin von mir, die erfolgreich ihr Tiermedizinstudium allen Symptomen und Einschränkungen zum Trotz absolviert hat, äußerte beispielsweise Folgendes:

»Ich denke, das Wichtigste ist es, ein Ziel vor Augen zu haben und sich dieses in all seinen Farben und Facetten auszumalen. Sich auszumalen, wie man sein Leben möchte, wie es sich anfühlt, dieses Leben zu führen, und dann alles dafür zu tun, was notwendig ist, um dort hinzukommen. Ich habe gelernt, dass es in meinem Fall einfach nicht ausreicht, in der Psychotherapie ›nur‹ zu reden.

Davon mal abgesehen, wollte ich auch nicht reden und möchte es auch jetzt noch nicht. Das ist weiter nicht schlimm, wenn man weiß, dass es Techniken gibt, die es einem ermöglichen, seinen auf gut Deutsch ›Scheißdreck der Vergangenheit‹ aufzuarbeiten und Stabilität im Alltag zu erreichen – Anfangs vielleicht auch mit medikamentöser Unterstützung. Aufgeben ist keine Option. Du magst vielleicht kleine Kämpfe verlieren, aber die Schlacht gehört dir«.

Abb. 10: Das eingeschränkte Lernfenster bei schweren Traumafolgestörungen

DIE POLYVAGAL-THEORIE ODER DAS SOZIALE NERVENSYSTEM

Die Theorie von Porges ergänzt die bisherigen Ausführungen zu den Aktivierungsmustern von Sympathikus und Parasympathikus und den Beschreibungen des zuvor dargestellten Stress-Toleranz-Fensters. Bei den Theorien handelt es sich lediglich um Erklärungsmodelle, die nie perfekt sind. Die Wahrheit lässt sich selten mit einem Modell abbilden. Ich möchte die Polyvagal-Theorie der Vollständigkeit halber kurz beschreiben. Wenn Sie dieser Prozess, der in Ihrem Nervensystem abläuft, näher interessiert, finden Sie hier das gesuchte Wissen. Falls Ihnen das bisher Gelesene völlig ausreicht, überspringen Sie einfach folgenden Text und lesen im Kapitel 2 (ab S. 52) weiter.

Seit geraumer Zeit wird in der Traumatherapie die sogenannte Polyvagal-Theorie, die der Neurowissenschaftler Stephen W. Porges (1995) entwickelt hat, diskutiert.13 Vielleicht haben Sie schon davon gehört. Ganz kurz zusammengefasst geht es um verschiedene neuronale Schaltkreise des Gehirns, die die menschlichen Reaktionen beeinflussen. Es handelt sich dabei um das Ihnen schon bekannte sympathische und das parasympathische Nervensystem. Das letztgenannte teilt sich in den dorsal-vagalen Ast und den ventral-vagalen Ast. Diese beiden Äste reagieren auf die Wahrnehmung von friedvollen, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situationen mit unterschiedlichen Aktivierungen und sichern so das Überleben.

Ich möchte die Polyvagal-Theorie hier etwas detaillierter, aber dennoch verkürzt und vereinfacht darstellen. Grundsätzlich geht es um die Wechselwirkung zwischen dem Sozialverhalten eines Menschen und den Prozessen in seinem Nervensystem. Porges spricht von einem sozialen Nervensystem, weil sich aus seiner Sicht die Wahrnehmung, das Fühlen, Denken und Verhalten eines Menschen auf sein Nervensystem und damit auf seinen physiologischen Zustand auswirken. Die Suche nach Sicherheit wird hierbei als zentral beschrieben. Ein Mensch, der Sicherheit im Kontakt mit anderen Menschen empfindet, fühlt sich wohl und entspannt. Sein Organismus aktiviert Selbstberuhigungssignale, die an die Organe weitergeleitet werden. Porges bezeichnet diese unbewusste Wahrnehmung von Gefahr und Sicherheit als Neurozeption.

 

Das Bindungshormon Oxytocin spielt hierbei eine wichtige Rolle. Sind wir nah bei Menschen, bei denen wir uns sicher fühlen, wird Oxytocin ausgeschüttet, was den Stress vermindert sowie Fürsorge und Mitgefühl für andere verstärkt, sodass wir uns umso wohler fühlen.

Diese Funktionen werden dem Wechselspiel von Sympathikus und Parasympathikus zugeschrieben. Aus der Sicht von Porges ist der Sympathikus zuständig für das oben schon beschriebene Kampf- und Fluchtprogramm. Der Parasympathikus, der sich in zwei Stränge aufteilt, hat eine scheinbar paradoxe Funktion: Ein Strang des Vagus ist für Entspannung und Ruhe zuständig, der andere ist sowohl für den Freeze-Zustand, der sich als muskuläre Erstarrung zeigt, als auch für den sogenannten Erschlaffungsreflex verantwortlich, der in seiner Beschreibung die komplette Immobilisierung des Körpers bedeutet.

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