Wie bringe ich die Kuh tanzend vom Eis?

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Es kann nur gut gehen!

Egal, wie Sie sich entscheiden, Sie machen es genau richtig. Das ist im Übrigen die Grundhaltung dieses Buches. Denn auch, wenn Sie die beschriebenen Techniken nicht genau nach Anleitung durchführen, werden die Übungen höchstwahrscheinlich einen positiven Effekt auf Ihre Stimmung haben, und mit der Zeit werden Sie sie genauso anwenden, wie es für Sie und Ihren Organismus optimal ist.

Keine Zeit!?

Oft haben wir den Eindruck, dass unser Alltag uns nicht den Raum und die Zeit lässt, uns adäquat um unser körperliches und psychisches Wohlbefinden zu kümmern. Doch wir wissen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach auch unsere Psyche unseren Körper maßgeblich in Richtung Gesundheit oder Krankheit beeinflusst, was die Fürsorge für die Psyche und damit für den Körper fast schon als eine Bürgerpflicht erscheinen lassen könnte. Mit Fug und Recht können wir auf jeden Fall behaupten, dass wir wahrlich und ganz sicher nur diesen einen Körper haben!

Die vielfältigen Methoden, die ich Ihnen in diesem Buch vorstelle, könnte man auch als ein »ABC der Psychohygiene« bezeichnen. Womöglich schaffen Sie es, immer mal wieder oder auch regelmäßig einen Buchstaben des ABCs in Ihren Alltag zu integrieren – so, wie auch die körperliche Hygiene wie das Duschen höchstwahrscheinlich einen Platz in Ihrem Leben gefunden hat.

Und zu der natürlich entstehenden Frage »Aber wann soll ich das denn noch machen?« möchte ich um Erlaubnis bitten, Ihnen eine kleine Gegenfrage stellen zu dürfen: »Was passiert, wenn Sie es nicht schaffen sollten, Ihr Auto bei Bedarf zu betanken oder die Inspektion und den Ölwechsel regelmäßig durchzuführen?«

Genau genommen geht es in diesem Buch wohl auch darum, mit einer Landkarte der Lösungswelten in der Hand nach vorne in Richtung Zukunft zu schauen und im Hier und Jetzt rechtzeitig in diese zu investieren, um immer glücklicher zu werden und uns wachsend rundherum wohlzufühlen.

Theoretische Grundlagen

Folgend möchte ich Ihnen einige leicht verständliche Informationen zum Schneesturm und zum Einsatz Ihrer Wetterfee geben. Wichtig zum Verständnis sind aus meiner Sicht Informationen zu den neurophysiologischen Grundlagen – wie den negativen Verzerrungen des Gehirns, der Verschaltung und Gestaltung von neuronalen Netzwerken, dem vegetativen Nervensystem und dem Stress-Toleranz-Fenster, die ich Ihnen einfach und nachvollziehbar näherbringen möchte. Das hört sich auf den ersten Blick komplizierter an, als es ist! Trauen Sie sich! Es wird Ihnen einige Aha-Effekte und viel Verständnis für sich selbst und andere bringen. Und wie gesagt: Sie können auch sämtliche Theorie überspringen und sofort mit der praktischen Umsetzung beginnen!

DIE KLEBRIGE FLIEGENFALLE ODER DIE NEGATIVE VERZERRUNG UNSERES GEHIRNS

Kennen Sie das? Etwas ist schiefgegangen, und Sie hängen fest in Grübeleien, Ängsten oder depressiven Gedanken …

Der Einstieg in negative Gefühlszustände läuft automatisch und unbemerkt.5 Der Umstieg in eine positive Sichtweise scheint nicht mehr ganz so leicht zu sein. Wir sind wie gefangen in unserem persönlichen Schneesturm bzw. in unserer Problemtrance und verstärken diese meist unbewusst und ungewollt weiter. Der Grund hierfür ist unter anderem in der negativen Verzerrung unseres Gehirns zu finden.

Aufgrund unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung ist unsere Aufmerksamkeit zur Sicherung des Überlebens auf bedrohliche und negative Situationen fokussiert. Wenn Sie sich eine Gruppe von Steinzeitmenschen vorstellen, die in der Wildnis lebte und vielfachen Bedrohungen – wie zum Beispiel Raubtieren oder den Angriffen feindlicher Stämme – ausgesetzt war, wird schnell deutlich, dass es für das Überleben sehr sinnvoll war, Bedrohungen in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen. Die Menschen, die eher auf die Schönheit der Natur geachtet haben als auf den im Gebüsch lauernden Tiger, überlebten leider nicht und konnten sich in der Folge auch nicht fortpflanzen. Kurz gesagt: Von ihnen stammen wir nicht ab!

Unsere Vorfahren waren ergo diejenigen, die extrem auf das Negative in ihrer Umgebung fokussiert waren und ständig nach Bedrohungen Ausschau hielten, um so ihr Überleben zu sichern. Die Struktur unseres heutigen Gehirns wurde hierdurch maßgeblich beeinflusst: In die Wahrnehmung unserer Umwelt wurde sicherheitshalber eine negative Verzerrung eingebaut.

Durch dieses stammesgeschichtliche Erbe ist auch unser heutiges Gehirn in Situationen, in denen wir uns eigentlich glücklich und sicher fühlen, auf eine Weise immer auf der Hut und sucht nach Gefahren, Problemen und Enttäuschungen jeglicher Art, um vermeintlich unser Überleben zu sichern. Das Gehirn des heutigen Menschen, das sich auf die beschriebene Weise über Millionen von Jahren entwickelt hat, interpretiert somit auch im Grunde harmlose Situationen schnell als lebensbedrohlich und aktiviert dadurch entsprechende Notfallprogramme in unserem Körper, die zum Erleben von Stress, körperlichen Reaktionen und belastenden Gefühlszuständen führen.

Deshalb geben wir eher negativen Nachrichten oder Wahrnehmungen Aufmerksamkeit, wir reagieren nachhaltig auf diese und verankern sie dann schnellstmöglich in den neuronalen Netzwerken unseres Gehirns. Das Negative bleibt hängen wie die Fliegen an einer klebrigen Fliegenfalle. Das Positive hingegen perlt ab wie Regen an einer Fensterscheibe. In unserem Alltag führt diese Veranlagung zu einer Anfälligkeit für Ängste, Stress und Enttäuschungen, Burn-outs und Depressionen.

Wenn Sie von Ihren Kollegen bei einem neuen Projekt insgesamt zehn wertschätzende Äußerungen hören und nur einmal kritisiert werden: Über was denken Sie nach? Was bleibt hängen? Wenn Sie normal gestrickt sind, sind die Wertschätzungen schnell vergessen, und die nicht so angenehme Äußerung geistert in Ihrem Kopf herum – und das womöglich für längere Zeit.

Die Kraft des Negativen zeigt sich übrigens auch in der Kommunikation in Paarbeziehungen. Wenn Sie Ihre Partnerin oder Ihren Partner nur einmal kritisieren, benötigt es insgesamt fünf wertschätzende Handlungen oder Äußerungen, um das Gesagte auf dem Beziehungskonto wieder auszugleichen und die Harmonie in Ihrer Beziehung zu erhalten.

Eine wichtige Botschaft lautet allerdings, dass diese Reaktionen normal und sogar brillant sind, denn sie haben unser Überleben gesichert. Andernfalls wären Sie und ich jetzt gar nicht hier!

Eine weitere gute Nachricht lautet: Mit etwas Einsatz können wir diese Steinzeitprogrammierung unseres Gehirns zum Positiven hin umfunktionieren, da wir diesem automatischen Prozess durch die bewusste und regelmäßige Aktivierung und der daraus folgenden Verankerung von Ressourcen entgegenwirken können.

DIE ERFAHRUNGSABHÄNGIGE NEUROPLASTIZITÄT ODER DIE GESTALTUNG VON NEURONALEN NETZWERKEN

Die beschriebene Flexibilität und die Möglichkeit der Veränderung haben wir der sogenannten erfahrungsabhängigen Neuroplastizität unseres Gehirns zu verdanken. Das bedeutet ganz einfach, dass es sich bei unserem Gehirn um ein lernendes Organ handelt, das – vergleichbar mit einem Muskel – die Bereiche ausbaut, die häufig benutzt und trainiert werden. Die nicht oder kaum aktiven Verbindungen lässt es verkümmern, was als neuronaler Darwinismus bezeichnet wird: Die Eifrigsten überleben. Alles, was wir wiederholt erleben, was wir wollen, denken, spüren oder fühlen, verändert die neuronalen Strukturen unseres Gehirns. Es ist dafür ausgebildet, durch Erfahrungen zu lernen.

Die Neurone als Bausteine unserer neuronalen Netzwerke

Die Neurone sind die Nervenzellen des Gehirns und stellen die kleinste Einheit unseres Gehirns dar. Sie bestehen aus dem Zellkörper, einem Axon und vielen Dendriten. Sowohl die Dendriten als auch die Axone dienen der Nachrichtenübermittlung und damit der Kommunikation innerhalb unseres Gehirns. Neurone, also die Nervenzellen des Gehirns, sind miteinander vernetzt. Kommen nun Informationen an, nehmen die miteinander vernetzten Neurone diese auf. Die Dendriten übernehmen dabei die Aufgabe der Informationsaufnahme und leiten diese wiederum über das Axon weiter. Die Weiterleitung passiert in Form eines elektrischen Impulses, der die Information über das Axon an die nächsten Nervenzellen weiterreicht. Das kann man sich wie bei einem Kreistanz vorstellen. Mit der einen Hand bekommt die Tänzerin einen Händedruck von der neben ihr stehenden Person und gibt ihn mit der anderen Hand an die nächste Tänzerin weiter.

Dabei kann ein Axon sogar die Länge von einem Meter erreichen. Es funktioniert im Grunde wie ein Stromkabel. Die Enden der Axone stehen über sogenannte Synapsen in Kontakt mit anderen Nervenzellen, Drüsen- oder Muskelzellen.

Der elektrische Impuls des Axons löst die Ausschüttung von Botenstoffen, den sogenannten Neurotransmittern, aus. Dadurch werden die zu transportierenden Informationen meist mittels dieser Neurotransmitter (beispielsweise Serotonin, Dopamin oder Acetylcholin) chemisch an die Empfängerzelle übertragen. Eher selten wird die Erregung unmittelbar elektrisch weitergegeben. Diese Information kann dann von der Empfängerzelle auf die beschriebene Weise wieder an andere Zellen weiter übertragen werden.

Die neuronalen Netzwerke

Die Neurone wiederum organisieren sich in sogenannten neuronalen Netzwerken. In diesen Netzwerken werden unter anderem Ihre Erfahrungen abgespeichert. Circa 90 Milliarden Neurone bilden die Grundlage unseres Gehirns und sind durch unendlich viele Synapsen miteinander verbunden; derzeit belaufen sich die Schätzungen auf Werte zwischen 100 Billionen bis zu einer Trillion Synapsen. Dieses unvorstellbar komplexe und schnelle System gestaltet durch seine dynamische neuronale Aktivität unser Gehirn ständig um.

 

Synapsen, die genutzt werden und damit aktiv sind, werden dadurch sensibler. Innerhalb von Minuten bilden sich ständig neue Synapsen. Sind wir also niedergeschlagen und haben häufig schlechte Laune, dann lernt unser Gehirn, dass dieses Erleben wichtig ist, baut die entsprechenden Netzwerke aus und verstärkt sie. Es geht davon aus, dass diese Emotionen und Sichtweisen auf die Welt für die Gestaltung der Lebensumwelt entscheidend für unser Überleben sind, was zur Folge hat, dass es immer schwieriger wird, aus diesem Tief wieder herauszukommen. Glücklicherweise handelt es sich nicht um einen unabänderlichen, sondern um einen reversiblen Zustand unserer Netzwerke.

Sie können die Fähigkeit nutzen, mit etwas Einsatz Ihrem Gehirn mitzuteilen, dass es hilfreicher ist, glücklich zu sein und einen positiven Blick auf die Dinge zu haben. Das können Sie beispielsweise durch den regelmäßigen Einsatz von Ressourcen, die ich im Praxisteil dieses Buches vorstellen möchte, erreichen. Fokussieren Sie auf die positiven Dinge in Ihrem Leben, dann geht Ihr Gehirn davon aus, dass diese Strukturen diejenigen sind, die verstärkt werden müssen, und setzt dies so schnell wie möglich um. Aufgrund seiner fantastischen Neuroplastizität strukturiert es sich selbst um und ermöglicht eine Veränderung hin zum positiven Erleben. Positive Erfahrungen werden dann insgesamt stärker erlebt und automatisch als neue neuronale Strukturen im Gehirn installiert. Das Ergebnis ist, dass positive Erlebnisse und Empfindungen im Gehirn »kleben bleiben« wie zwei Klettverschlüsse aneinander und dass das Negative nun einfach abperlt!

Das Hebbsche Gesetz oder die feuernden Neurone

Spannend ist hierbei das sogenannte Hebbsche Gesetz, welches schon 1949 von dem Psychologen Donald Olding Hebb erkannt wurde: »What fires together, wires together.«

Das bedeutet, dass Neurone, die im Gehirn innerhalb ihrer verschiedenen neuronalen Netzwerke miteinander feuern, sich dabei verbinden. Mit der Konsequenz, dass die Neurone, die sich bereits verbunden haben, noch mehr zusammen feuern!

Dadurch, dass sich gemeinsam feuernde Neurone verbinden, werden momentane Stimmungen und Befindlichkeiten zu bestimmenden und dauerhaften neuronalen Eigenschaften. Somit beeinflusst unsere Psyche Tag für Tag die neuronale Struktur unseres Gehirns.

Ein Beispiel kann diesen Prozess, der automatisch und permanent abläuft, illustrieren:

Ein Junge, nennen wir ihn Anton, hat in der Grundschule eine Lehrerin, die ihn offensichtlich nicht mag und ungerecht behandelt. Sie stellt ihn häufig vor der Klasse bloß und macht sich über ihn lustig, wann immer sich ihr eine Gelegenheit dazu bietet. Das hat zur Folge, dass Anton immer unsicherer wird und sein Wissen kaum noch abrufen kann und demzufolge schlechte Noten schreibt. Er ist nicht mehr motiviert und geht verständlicherweise höchst ungern zur Schule.

Wenn Sie diese Entwicklung mit den Augen des Hebbschen Gesetzes betrachten, ergibt sich folgendes Bild:

Die Neurone, die im Zusammenhang mit dem Thema Schule, Lernen und Prüfungen aktiviert werden, sowie die Neurone, die mit dem Thema Abwertung, Bloßstellung und Lächerlich-gemacht-Werden, Scham und anderen höchst unangenehmen Gefühlen feuern nun in dieser Situation gleichzeitig – schlichtweg, weil sie zur selben Zeit stattfinden. Antons Gehirn schlussfolgert nun, dass diese beiden Situationen unabänderlich zusammengehören. Es verbindet diese beiden neuronalen Netzwerke miteinander und lässt sie in der Zukunft in der Regel gemeinsam feuern. Die Konsequenz ist höchstwahrscheinlich, dass von diesem Zeitpunkt ausgehend die meisten Prüfungen und das Lernen im Allgemeinen mit sehr unangenehmen Gefühlen verknüpft sein werden und dass Anton in seiner Zukunft in vielen Situationen, die der Schulsituation auch nur im Allerentferntesten ähneln, Gefühle wie Scham, Abwertung, geringeren Selbstwert und Versagen empfinden wird.

Die Abbildung 1 verdeutlicht die stattgefundene Verknüpfung dieser neuronalen Netzwerke.

Abb. 1: Neue neuronale Netzwerke sind entstanden: Verknüpfung von Gefühlen der Hilflosigkeit aus vergangenen Situationen mit einer aktuellen Prüfungssituation, in der Anton sich befindet6

Ist Anton nun ein erwachsener Mann geworden, wundert er sich vielleicht, warum er in bestimmten Kontexten seiner beruflichen Laufbahn die oben beschriebenen Gefühle und Stresssymptome empfindet. Seine Erfahrungen aus der Grundschule hat er womöglich vergessen oder auch zur Seite gedrängt und stellt mit einer hohen Wahrscheinlichkeit bewusst keinen Zusammenhang her zwischen seinem derzeitigen Zustand und seinem früheren Erleben in der Schulzeit. Die neuronalen Netzwerke seines Gehirns jedoch haben diese Emotionen und Empfindungen mit jedweder Lern- und Prüfungssituation verknüpft und werden sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Zeit seines Lebens in äquivalent erscheinenden Situationen entsprechend abrufen. Somit ist Anton nachhaltig von seiner vergangenen Erfahrung beeinflusst und in Leistungssituationen weniger entspannt, souverän und leistungsfähig, als er es sein könnte. Stattdessen werden sich die Emotionen, Empfindungen und der körperliche Stress mit jeder negativen Erfahrung verstärken, weil sich die neuronalen Netzwerke mit dem gemeinsamen Feuern vergrößern und mit immer mehr Situationen in verschiedenen Lebensbereichen verknüpfen.

Diese Verknüpfungsstrategie gilt im Übrigen nicht nur für Ängste, sondern auch für Depressionen und beispielsweise mit schmerzhaften Emotionen und Stress behaftete Situationen oder auch traumatisch verarbeitete Lebensereignisse. Aufgrund der oben beschriebenen negativen Verzerrung unseres Gehirns werden leider die negativen Emotionen bevorzugt verknüpft. Auch Schmerzempfinden oder Allergien können auf diese Art verstärkt werden.

Die Prozesse laufen sehr schnell und autonom ab und gelangen häufig nicht in unser Bewusstsein. Wir wundern uns dann höchstens über den plötzlichen Stimmungsumschwung, der entsteht, wenn belastende Netzwerke völlig unbewusst zu feuern beginnen.

Eine Voraussetzung, diese Automatismen zu verändern, ist unter anderem Achtsamkeit: einfach nur wahrnehmen, was passiert und was es in uns auslöst; die momentane Situation und Befindlichkeit wertschätzend annehmen, um dann zielgerichtet das Bewusstsein in eine positive Richtung zu lenken, damit die entsprechenden neuronalen Strukturen ausgebildet werden können. In diesem Buch finden Sie vielfältige Strategien, wie Sie das umsetzen können.

Häufig benutzte Netzwerkbahnen in unserem Gehirn sind vergleichbar mit einer Fahrt auf der Autobahn. Wir rasen auf dieser Autobahn dahin und wissen nicht um die Abfahrten, die existieren und die wir nehmen könnten. Wir fahren so schnell, dass wir sie gar nicht wahrnehmen.

Wenn ich nun die Autobahn verlassen möchte, muss ich eine Abfahrt benutzen. Dafür ist es wichtig, mich auf der rechten Spur einzuordnen, ein wenig vom Gas zu gehen, rechtzeitig den Blinker zu setzen, um dann mit noch geringerem Tempo über die Abfahrt die Autobahn zu verlassen und andere Wege einzuschlagen. Für die meisten Fahranfänger in der Fahrschule gehört dieses Unterfangen nicht zu den leichtesten Übungen. Aber nach ein bisschen Training denken die meisten von uns nicht mehr darüber nach, es wird zur Selbstverständlichkeit.

So, wie wir unsere Geschwindigkeit ebenso wie die entsprechende Abfahrt wählen können, halten wir auch den Schlüssel zum Glück und die Fähigkeit, Krisen erfolgreich zu meistern, in unseren eigenen Händen. Entscheidend ist zum einen, ob ich erkenne, dass mein unangenehmer Zustand mit Verknüpfungen bestimmter Netzwerke in meinem Gehirn zusammenhängt, und zum anderen, ob ich bereit bin, mich liebevoll mit Mitgefühl und Achtsamkeit diesem inneren Leid zuzuwenden und etwas Einsatz zu zeigen, um es in Richtung Wohlbefinden und Glück zu verändern.

Unsere Erfahrungen lassen sehr schnell neue Synapsen entstehen und verändern sogar zusätzlich die Wirkungsweise unserer Gene. Gene können in den Neuronen ein- und ausgeschaltet werden. Zum Beispiel verbessern regelmäßige Entspannungsübungen, Yoga und Selbsthypnose unsere Stresstoleranz, indem Gene aktiviert werden, die die Stressreaktionen vermindern.

Somit wird deutlich, dass der bedeutendste Faktor für die permanente Neugestaltung unseres Gehirns die Frage ist, womit wir uns beschäftigen und worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.

Ein Beispiel für die erfahrungsabhängige Neuroplastizität ist auch das Gehirn der Taxifahrer, die sich einen gesamten Stadtplan merken müssen: In einer Studie wurde festgestellt, dass die Taxifahrer in ihrem Hippocampus, der u. a. für das räumliche Gedächtnis zuständig ist, verdickte neuronale Strukturen besitzen. Das bedeutet, dass das Gehirn hier aufgrund der intensiven Nutzung einfach »angebaut« hat, um die geforderte Leistung schnell und präzise zu erbringen.

Somit ist es elementar, in Krisensituationen Ressourcennetzwerke – egal, welcher Art – zu aktivieren, damit sich hilfreiche neuronale Strukturen verfestigen. Mit ein bisschen Zeit und etwas Übung fällt das erfahrungsgemäß von Tag zu Tag leichter! Dann wird aus den zuvor neu angelegten Trampelpfaden des Gehirns ein richtiger Weg und irgendwann bei vielfacher Nutzung eine regelrechte Ressourcen-Autobahn, bei der wir uns gar keine Ausfahrt mehr wünschen.

Hilfreich ist es, die Erfahrungen, die unser Gehirn negativ beeinflussen, bewusst zu verkürzen und die Erfahrungen, die unser Gehirn positiv beeinflussen, bewusst auszudehnen oder auch kreativ zu gestalten.

DIE ÜBERWINDBARE MAUER ZWISCHEN PROBLEM- UND LÖSUNGSNETZWERKEN

Sicherlich hat auch Anton aus unserem Fallbeispiel in anderen Bereichen seines Lebens Ressourcen und Fähigkeiten. Zum Beispiel spielt er Volleyball und steht bei Volleyball-Turnieren vor Publikum auch im Mittelpunkt. In seiner Firma ist er im Betriebsrat und setzt sich mit Engagement für seine Kolleginnen und Kollegen ein. Allerdings kann er diese Kompetenzen in der Regel in Leistungssituationen aufgrund der schon stattgefundenen und dominanten Verknüpfung der Netzwerke teils nicht abrufen. Eine Prüfungs- oder auch Leistungssituation erlebt er als Krise, die Problemnetzwerke sind hochaktiv und deren Neurone feuern. Das Erleben von Hilflosigkeit verstärkt die sogenannte Problemtrance.

Die meisten von uns kennen dieses beschriebene Verhalten von sich oder von anderen und haben sich womöglich schon gewundert, dass in bestimmten Situationen vorhandene Kompetenzen nicht abgerufen werden können (s. Abb. 2) oder dass man noch nicht einmal auf die Idee kommt, diese Fähigkeiten abzurufen. Im Leben der meisten Menschen tauchen immer wieder Situationen auf, in denen Problemnetzwerke ihres Gehirns keinerlei Verbindung zu Lösungsnetzwerken haben.

Abb. 2: Inmitten der Ressourcen-Wolke: Antons Zustand während Situationen, die an eine Prüfung erinnern (das Problemnetzwerk), und seine Ressourcen (die Lösungsnetzwerke), hier als bunte Smileys dargestellt, haben keinerlei Verbindung zueinander.

Das ist normal und nicht weiter beunruhigend, weil wir die Möglichkeit haben, mit sehr einfachen Methoden diese hilfreiche Verbindung herzustellen und dauerhaft zu erhalten. Wir nutzen ganz einfach und stringent den Effekt des weiter oben dargestellten Hebbschen Gesetzes. »Neurone, die miteinander feuern, verbinden sich und feuern noch mehr zusammen.«

Wenn man nun in einer herausfordernden Situation Ressourcen aktiviert, statt sich seinem Schicksal hinzugeben, werden die entsprechenden Netzwerke im Gehirn aktiviert, und sie beginnen, sich aufgrund der Aktivität, die zur gleichen Zeit stattfindet, mit der Problemsituation zu verbinden und verbessern somit die emotionale Befindlichkeit (s. Abb. 3).

 

Durch die daraus folgende Stabilisierung erleben wir uns selbst als wirksam, was den positiven Effekt wiederum verstärkt. Je häufiger man sich erlaubt, Ressourcen zu aktivieren, statt in der ureigenen Problemtrance gefangen zu bleiben, desto mehr wird der »neu angelegte Ressourcen-Trampelpfad« im Gehirn zur »Ressourcen-Autobahn« und reagiert in Krisensituationen entsprechend schnell – eben bestenfalls mit der sofortigen Aktivierung von Ressourcen.

Hier möchte ich mich auf die Methoden beziehen, die in diesem Buch vorgestellt werden. Alle Techniken aus der Einleitung, der Selbsthypnose, der Energetischen Therapie sowie dem Yoga sind als ressourcenvolle Methoden geeignet, den Weg aus der Problemtrance selbstbestimmt zu finden. Somit kann man eine Gestaltungsmöglichkeit entwickeln, den Teufelskreis zu verlassen und vielleicht einen Ressourcenkreislauf ins Leben zu rufen und ihn zu erhalten. Vielleicht entwickelt der sich gar als Gegenbild eines Teufelskreises zu einem »Engelskreislauf« (s. Abb. 3).

Abb. 3: Das Problemnetzwerk (der Zustand von Anton in der Prüfung) wird mittels der unterstützenden Methoden mit einigen eigenen ressourcenvollen Netzwerken und der daraus entstehenden Selbstwirksamkeit verknüpft.

Wenn nun Anton aus dem Fallbeispiel sein Verhalten und seine Reaktionen achtsam beobachtet, stärkt das seine sogenannte innere Beobachterposition, die ihm hilft, Abstand und Überblick zum Geschehen zu bekommen. Er beobachtet sich selbst und gewinnt dadurch eine neutralere Haltung. Er ist nicht mehr so stark in seine Empfindungen involviert, kann die Situation distanzierter wahrnehmen und wird dadurch in der Regel handlungsfähiger.

Setzt er nun beispielsweise Methoden aus den in diesem Buch vorgestellten Bereichen ein, so können sich die positiven neuronalen Netzwerke seiner Kompetenzen mit der herausfordernden Leistungssituation verknüpfen. Gleichzeitig ist er inzwischen erwachsen und verfügt als Erwachsener wie schon beschrieben über viele Kompetenzen, welches man als Erwachsenen-Ich7 bezeichnen kann, welches auch in anderen Situationen seines Lebens hilfreich ist. Die zuvor beschriebene innere Beobachterposition stärkt die Aktivierung dieses Erwachsenen-Ichs, weil Anton dann weniger in verzweifelte kindliche Gefühle verstrickt ist und mehr im Hier und Jetzt des erwachsenen Erlebens bleiben kann. Wie wir bereits wissen, verknüpfen sich die Netzwerke, die miteinander feuern. Somit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass Anton in der nächsten Situation, die einer Prüfung ähnelt, seine Fähigkeiten aus anderen Lebenskontexten wird nutzen können (s. Abb. 4).

Abb. 4: Durch die Mobilisierung der Ressourcen werden das sogenannte »jetzige Erwachsenen-Ich« und der »innere Beobachter« aktiviert. Sie verknüpfen sich mit der herausfordernden Prüfungssituation und helfen Anton, im Hier und Jetzt zu bleiben sowie die Situation gut zu bewältigen.

Trainiert Anton nun konsequent die Verbindung von Ressourcennetzwerken und der Prüfungssituation, wird sich automatisch das positive Erleben von Leistungskontexten erheblich verbessern, und die Hilflosigkeit wird sich entsprechend dem Motto des Gehirns »Use it or loose it« verabschieden. Leistungssituationen werden von Anton dann in einer hilfreichen und unterstützenden Verfassung oder sogar im Flow erlebt, sodass er mit einer hohen Wahrscheinlichkeit all sein Wissen und seine Kompetenzen wird abrufen können (Abb. 5).

Abb. 5: Abkopplung der Hilflosigkeit: Antons ehemalige Hilflosigkeit der Prüfungssituation hat sich abgekoppelt. Die Prüfung wird als rundherum positive, mit Kompetenzen verknüpfte Herausforderung erlebt.