Buch lesen: «Eine Studie in Scharlachrot»
Table of Contents
Teil I
1. Mr. Sherlock Holmes
2. Die Wissenschaft der Deduktion
3. Das Rätsel von Lauriston Gardens
4. Was John Rance mitzuteilen hatte
5. Unsere Annonce führt uns einen Besucher zu
6. Tobias Gregson zeigt, was er kann
7. Licht in der Dunkelheit
Teil II
8. Auf der großen Alkali-Ebene
9. Die Blume von Utah
10. John Ferrier spricht mit dem Propheten
11. Eine Flucht ums nackte Leben
12. Die Rächenden Engel
13. Fortgang der Erinnerungen von John Watson M.D.
14. Schluß
Anmerkungen
Arthur Conan Doyle
Eine Studie in Scharlachrot
Impressum
Covergestaltung: Steve Lippold
Digitalisierung: Gunter Pirntke
ISBN: 9783955012298
2014 andersseitig
andersseitig Verlag
Dresden
www.andersseitig.de
info@new-ebooks.de
(mehr unter Impressum-Kontakt)
Teil I
Aus den Erinnerungen von John H. Watson M.D., ehemals Mitglied des Medizinischen Dienstes der Armee
1. Mr. Sherlock Holmes
Im Jahre 1878 erwarb ich den Grad eines Doktors der Medizin an der Universität London und begab mich nach Netley, um an dem Lehrgang teilzunehmen, der für Ärzte der Armee vorgeschrieben ist. Nachdem ich dort meine Studien abgeschlossen hatte, wurde ich den Fünften Northumberland-Füsilieren als Assistenzarzt attachiert. Das Regiment war zu dieser Zeit in Indien stationiert, und bevor ich zu ihm stoßen konnte, brach der Zweite Afghanistan-Krieg1 aus. Bei der Landung in Bombay erfuhr ich, daß mein Korps durch die Pässe vorgerückt war und sich bereits tief in Feindesland befand. Trotz allem folgte ich, zusammen mit vielen anderen Offizieren, die sich in der gleichen Lage befanden wie ich, und es gelang mir, sicher nach Kandahar zu kommen, wo ich mein Regiment vorfand und sogleich meine neuen Pflichten übernahm.
Vielen brachte der Feldzug Auszeichnungen und Beförderung, für mich barg er jedoch nichts als Mißgeschick und Unheil. Ich wurde von meiner Brigade zu einer Berkshire-Einheit versetzt, mit der ich an der verhängnisvollen Schlacht von Maiwand2 teilnahm. Dort wurde meine Schulter von einer Jezail3-Kugel getroffen, die den Knochen zerschmetterte und die Schlüssselbein-Arterie Versehrte. Ohne die Treue und den Mut meines Burschen, Murray, wäre ich in die Hände der mörderischen Ghazis4 gefallen; er warf mich auf ein Packpferd und brachte mich heil zu den britischen Stellungen.
Erschöpft von Schmerzen und geschwächt durch die langwierige Mühsal, die hinter mir lag, wurde ich mit einem großen Zug verwundeter Leidensgenossen zum Basis-Hospital nach Peshawar gebracht. Dort genas ich, und mein Zustand hatte sich bereits so weit gebessert, daß ich durch die Fluchten des Spitals wandern und mich sogar ein wenig auf der Veranda wärmen konnte, als der Typhus, jener Fluch unserer indischen Besitzungen, mich niederstreckte. Lange Monate hing mein Leben an einem Fädchen, und als ich endlich zu mir kam und zu genesen begann, war ich so schwach und ausgezehrt, daß ein Ärzteausschuß befand, kein Tag sei zu verlieren, und ich solle nach England zurückgeschickt werden. Also wurde ich an Bord des Truppentransporters Orontes gebracht und landete einen Monat später in Portsmouth, mit unwiederbringlich ruinierter Gesundheit, aber auch mit der Erlaubnis einer fürsorglichen Regierung, die nächsten neun Monate mit der Pflege meines Befindens verbringen zu dürfen.
Ich hatte in England weder Freunde noch Verwandte und war daher frei wie der Wind – oder jedenfalls so frei, wie ein tägliches Einkommen von elfeinhalb Shilling5 es einem Mann zu sein gestattet. Unter diesen Umständen zog es mich natürlich nach London, der großen Senkgrube, wo alle Faulenzer und Müßiggänger des Empires unweigerlich abgelagert werden. Ich blieb dort einige Zeit in einer Pension in The Strand und führte ein trost- und sinnloses Leben, wobei ich das wenige Geld, über das ich verfügte, weitaus freizügiger denn angemessen ausgab. So besorgniserregend wurde schließlich der Zustand meiner Finanzen, daß mir bald klar wurde, daß ich entweder die Metropole verlassen und, gleichsam relegiert, irgendwo auf dem Lande vor mich hin verbauern oder aber meinen Lebensstil von Grund auf ändern mußte. Ich entschied mich für die letztere Möglichkeit; ich beschloß, zuallererst die Pension zu verlassen und Quartier in einem weniger großspurigen und weniger teuren Domizil zu suchen.
Am nämlichen Tag, da ich zu diesem Entschluß gediehen war, stand ich gerade an der Bar des Criterion, als mir jemand auf die Schulter klopfte, und als ich mich umwandte, erkannte ich den jungen Stamford, der im St. Bartholomew's Hospital unter mir als Assistenzarzt gearbeitet hatte. Der Anblick eines freundlichen Antlitzes in Londons großer Wüstenei ist für einen einsamen Mann wahrhaft angenehm. Vormals war Stamford nicht gerade mein Busenfreund gewesen, aber nun begrüßte ich ihn begeistert, und er seinerseits schien froh, mich zu sehen. In meiner überschäumenden Freude lud ich ihn ein, mit mir im Holborn zu essen, und wir brachen zusammen in einer Droschke auf.
»Was haben Sie denn nur angestellt, Watson?« fragte er, ohne sein Erstaunen zu verhehlen, während wir durch Londons von Menschen wimmelnde Straßen ratterten. »Sie sind so dünn wie ein Ladestock und braun wie eine Nuß.«
Ich gab ihm einen kurzen Überblick über meine Abenteuer und war damit kaum fertig, als wir unser Ziel erreichten.
»Armer Teufel!« sagte er mitleidig, nachdem er sich meine Mißgeschicke angehört hatte. »Was wollen Sie jetzt machen?«
»Eine Unterkunft suchen«, antwortete ich. »Ich versuche, die Frage zu klären, ob es möglich ist, gemütliche Räume zu einem vernünftigen Preis zu bekommen.«
»Das ist merkwürdig«, sagte mein Begleiter. »Sie sind heute schon der zweite, den ich das sagen höre.«
»Und wer war der erste?« fragte ich.
»Einer, der im chemischen Laboratorium im Hospital arbeitet. Er hat sich heute morgen beklagt, weil er keinen finden kann, der mit ihm ein paar hübsche Zimmer teilen will, die er aufgetan hat und die einfach zu viel für seinen Geldbeutel sind.«
»Lieber Himmel«, rief ich; »wenn er wirklich jemanden sucht, mit dem er die Zimmer und die Kosten teilen kann, dann bin ich genau der Richtige für ihn. Ich würde lieber mit jemandem teilen als allein sein.«
Der junge Stamford sah mich über sein Weinglas hinweg sehr seltsam an. »Sie kennen Sherlock Holmes noch nicht«, sagte er; »vielleicht würden Sie gar keinen Wert auf ihn als ständigen Gefährten legen.«
»Warum? Was spricht denn gegen ihn?«
»Oh, ich habe nicht gesagt, daß etwas gegen ihn spricht. Er hat ein bißchen komische Ideen – er ist ein Enthusiast, was einige Wissenschaftszweige angeht. Soweit ich weiß, ist er ansonsten ein ganz patenter Kerl.«
»Medizinstudent, nehme ich an?« sagte ich.
»Nein – ich habe keine Ahnung, worauf er sich verlegen will. Ich glaube, er ist ganz gut in Anatomie, und er ist ein erstklassiger Chemiker; aber soweit ich weiß, hat er nie systematisch Medizin studiert. Seine Studien sind sehr sprunghaft und exzentrisch, aber er hat eine ganze Menge abseitiger Kenntnisse angehäuft, über die seine Professoren staunen würden.«
»Haben Sie ihn nie gefragt, worauf er sich verlegen will?« fragte ich.
»Nein; er ist keiner, aus dem man leicht etwas herauslockt, obwohl er ganz mitteilsam sein kann, wenn er in der Laune dazu ist.«
»Ich möchte ihn gern kennenlernen«, sagte ich. »Wenn ich mit jemandem eine Wohnung teile, dann lieber mit einem fleißigen und ruhigen Mann. Ich bin noch nicht kräftig genug, um viel Lärm und Aufregung zu ertragen. Von beidem habe ich in Afghanistan bis an mein Lebensende genug gehabt. Wie kann ich diesen Freund von Ihnen treffen?«
»Er ist bestimmt im Laboratorium«, erwiderte mein Begleiter. »Er läßt sich da entweder wochenlang nicht blicken, oder er arbeitet da von morgens bis nachts. Wenn Sie wollen, können wir nach dem Essen dort vorbeifahren.«
»Gern«, sagte ich, und das Gespräch wandte sich anderen Gebieten zu.
Nachdem wir das Holborn verlassen hatten und uns dem Hospital näherten, erzählte Stamford mir einige weitere Einzelheiten über den Gentleman, mit dem ich eine Wohnung teilen wollte.
»Machen Sie bitte nicht mich dafür verantwortlich, wenn Sie nicht mit ihm auskommen«, sagte er; »ich weiß über ihn nicht mehr, als ich bei unseren gelegentlichen Begegnungen im Laboratorium erfahren habe. Der Vorschlag, diese Sache zu arrangieren, kommt von Ihnen, also hängen Sie es nicht mir an.«
»Wenn wir nicht miteinander auskommen, können wir uns ja leicht trennen«, antwortete ich. »Ich habe aber das Gefühl, Stamford«, setzte ich hinzu, wobei ich meinen Begleiter scharf anblickte, »daß Sie gute Gründe haben, um vorsorglich Ihre Hände in Unschuld zu waschen. Hat dieser Mann einen so fürchterlichen Charakter, oder was ist es sonst? Nun reden Sie schon.«
»Es ist nicht einfach, das Unaussprechliche auszusprechen«, antwortete er lachend. »Für meinen Geschmack ist Holmes ein bißchen zu wissenschaftlich – es kommt nahe an Gefühllosigkeit heran. Ich kann mir vorstellen, wie er einem Freund eine kleine Dosis des neuesten vegetabilen Alkaloids gibt; nicht böswillig, verstehen Sie, sondern einfach aus einem Forschungsdrang heraus, um sich eine genaue Vorstellung von der Wirkung machen zu können. Ich will nicht ungerecht sein; ich glaube, daß er es selbst mit der gleichen Bereitwilligkeit einnehmen würde. Er scheint eine Leidenschaft für präzises, exaktes Wissen zu haben.«
»Das ist doch eine gute Sache.«
»Ja, schon, aber man kann es übertreiben. Wenn es so weit geht, daß man die Leichen in den Sezierräumen mit einem Stock schlägt, dann nimmt es doch schon bizarre Ausmaße an.«
»Die Leichen schlagen!«
»Ja, und zwar, um festzustellen, ob und wie weit Wundmale noch nach dem Tod erzeugt werden können. Ich habe ihn selbst dabei beobachtet.«
»Aber trotzdem, sagen Sie, ist er kein Medizinstudent?«
»Nein, Der Himmel mag wissen, was seine Studienziele sind. Aber da sind wir, und jetzt müssen Sie sich selbst ein Bild von ihm machen.« Als er dies sagte, gingen wir eine schmale Gasse hinunter und traten durch eine kleine Seitentür, die in einen Flügel des großen Hospitals führte. Dort kannte ich mich aus, und ich bedurfte keiner Führung, als wir die triste Steintreppe emporstiegen und durch den langen Korridor gingen, mit seinem Panorama weißgetünchter Wände und düsterbrauner Türen. Am anderen Ende des Ganges zweigte ein niedriger, überwölbter Durchgang ab und führte zum chemischen Laboratorium.
Es war ein großer Raum, gesäumt und übersät von zahllosen Flaschen. Breite, niedrige Tische standen allenthalben herum, die von Retorten, Reagenzgläschen und kleinen Bunsenbrennern mit bläulich flackernden Flammen starrten. Im Raum war nur ein Student, der sich über einen Tisch am anderen Ende beugte und in seine Arbeit vertieft war. Beim Geräusch unserer Schritte sah er sich um und sprang mit einem Freudenschrei auf. »Ich hab's gefunden! Ich hab's gefunden!« rief er meinem Begleiter zu, wobei er uns mit einem Reagenzgläschen in der Hand entgegenlief. »Ich habe ein Reagens gefunden, das von Hämoglobin und von nichts anderem ausgefällt wird.« Der Fund einer Goldmine hätte aus seinen Zügen keine größere Wonne aufscheinen lassen können.
»Doktor Watson, Mister Sherlock Holmes«, stellte Stamford uns vor.
»Sehr erfreut«, sagte er herzlich und schüttelte meine Hand mit einer Kraft, die ich kaum in ihm vermutet hätte. »Sie sind in Afghanistan gewesen, wie ich sehe.«
»Woher um alles in der Welt wissen Sie das denn?« fragte ich verblüfft.
»Unwichtig«, sagte er, wobei er in sich hineinkicherte. »Was wichtig ist, ist jetzt Hämoglobin. Sie begreifen doch wohl, wie wichtig diese meine Entdeckung ist?«
»Chemisch ist das zweifellos interessant«, antwortete ich, »aber praktisch ...«
»Hören Sie, Mann, das ist die praktischste gerichtsmedizinische Entdeckung seit Jahren. Sehen Sie denn nicht, daß uns das eine unfehlbare Untersuchungsmethode für Blutflecken gibt? Kommen Sie hierher!« In seinem Eifer ergriff er den Ärmel meines Mantels und zerrte mich zu dem Tisch, an dem er gearbeitet hatte. »Wir brauchen frisches Blut«, sagte er; dabei bohrte er eine lange Nadel in seinen Finger und saugte den Blutstropfen mit einer Pipette auf. »Jetzt gebe ich diese winzige Blutmenge in einen Liter Wasser. Sie sehen, daß die Mischung reines Wasser zu sein scheint. Das Verhältnis von Blut zu Wasser kann nicht größer sein als eins zu einer Million. Trotzdem habe ich keinerlei Zweifel daran, daß wir die charakteristische Reaktion erreichen können.« Während er sprach, warf er einige weiße Kristalle in das Gefäß; danach gab er ein paar Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit hinein. Sofort nahm der Inhalt eine dumpfe Mahagonifärbung an, und ein bräunlicher Staub setzte sich auf dem Boden des Glaskruges ab.
»Ha! Ha!« rief er; er klatschte in die Hände und sah so hingerissen aus wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. »Was halten Sie davon?«
»Es scheint ein sehr empfindliches Probeverfahren zu sein«, bemerkte ich.
»Wundervoll! Wundervoll! Die alte Guajak-Probe7 war sehr umständlich und unzuverlässig. Das gilt auch für mikroskopische Untersuchung auf Blutkörperchen. Sie ist wertlos, wenn die Flecken einige Stunden alt sind. Das hier scheint dagegen sowohl bei altem als auch bei frischem Blut zu funktionieren. Wenn der Test schon früher erfunden worden wäre, dann hätten Hunderte von Leuten, die jetzt noch auf Erden wandeln, schon längst für ihre Verbrechen gebüßt.«
»Tatsächlich?« murmelte ich.
»Kriminalfälle drehen sich immer wieder um diesen einen Punkt. Ein Mann wird eines Verbrechens verdächtigt, vielleicht Monate, nachdem es begangen wurde. Seine Wäsche oder seine Kleider werden untersucht, und man findet bräunliche Flecken. Sind das Blutflecken oder Lehmflecken oder Rostflecken oder Obstflecken oder was? Das ist eine Frage, über die sich viele Experten den Kopf zerbrochen haben, und warum? Weil es keine zuverlässige Probe gab. Jetzt haben wir die Sherlock-Holmes-Probe, und in Zukunft wird es da keine Schwierigkeiten mehr geben.«
Seine Augen leuchteten hell, als er das sagte, und er legte die Hand aufsein Herz und verneigte sich, wie vor einer applaudierenden Menge, die seine Phantasie heraufbeschworen hatte.
»Man muß Ihnen gratulieren«, bemerkte ich, sehr überrascht über seine Begeisterung.
»Da war letztes Jahr der Fall Von Bischoff, in Frankfurt. Man hätte ihn sicherlich gehängt, wenn es diese Methode gegeben hätte. Dann gab es Mason aus Bradford, und den berüchtigten Muller, und Lefevre aus Montpellier, und Samson aus New Orleans. Ich könnte Ihnen Dutzende von Fällen aufzählen, bei denen diese Probe entscheidend gewesen wäre.«
»Sie scheinen ein wandelnder Kriminalkalender zu sein«, sagte Stamford lachend. »Sie sollten eine Zeitschrift zu diesem Thema herausgeben. Nennen Sie sie ›Neueste Polizeiberichte von gestern‹.«
»Und das könnte eine sehr interessante Lektüre werden«, bemerkte Sherlock Holmes. Er klebte ein winziges Pflaster über die Stichwunde in seinem Finger. »Ich muß vorsichtig sein«, ergänzte er, wobei er mir zulächelte, »weil ich nämlich häufig mit Giften hantiere.« Dabei streckte er seine Hand aus, und ich sah, daß sie überall von ähnlichen Pflästerchen gescheckt und durch starke Säuren verfärbt war.
»Wir sind mit einem Anliegen gekommen«, sagte Stamford. Er setzte sich auf einen hohen, dreibeinigen Schemel und schob mir einen weiteren mit dem Fuß zu. »Mein Freund hier sucht einen Unterschlupf, und weil Sie sich beklagt haben, daß keiner mit Ihnen eine Wohnung teilen will, habe ich mir gedacht, daß ich Sie beide am besten zusammenbringe.«
Sherlock Holmes schien erfreut über die Idee zu sein, seine Räume mit mir zu teilen. »Ich habe ein Auge auf ein Appartement in der Baker Street geworfen«, sagte er, »das genau das Richtige für uns wäre. Sie haben hoffentlich nichts gegen den Geruch von starkem Tabak?«
»Ich rauche selbst Navytabak«, antwortete ich.
»Sehr gut. Außerdem habe ich normalerweise Chemikalien bei mir und mache manchmal Experimente. Würde Sie das stören?«
»Absolut nicht.«
»Mal sehen – was habe ich noch an Unzulänglichkeiten? Manchmal, da blase ich Trübsal und mache tagelang den Mund nicht auf. Sie dürfen dann nicht meinen, ich wäre verärgert. Lassen Sie mich in Frieden, und ich bin bald wieder in Ordnung. Na, und was haben Sie zu beichten? Ich finde, zwei Leute sollten das Schlimmste voneinander wissen, bevor sie anfangen, zusammen zu leben.«
Ich lachte über dieses Kreuzverhör. »Ich habe eine junge Bulldogge«, sagte ich, »und ich habe etwas gegen Lärm, weil meine Nerven zerrüttet sind, und ich stehe zu allen möglichen gottlosen Zeiten auf, und ich bin äußerst träge. Wenn es mir gut geht, habe ich noch eine ganze Reihe von Lastern, aber das sind die wichtigsten, im Augenblick.«
»Fällt Geigespielen für Sie in die Kategorie Lärm?« erkundigt er sich besorgt.
»Das hängt vom Spieler ab«, antwortete ich. »Eine gut gespielte Geige ist ein Geschenk für die Götter – eine schlecht gespielte ...«
»Oh, dann ist es gut«, rief er mit einem fröhlichen Lachen. »Ich glaube, wir können die Sache als abgemacht betrachten – das heißt, wenn Ihnen die Zimmer gefallen.«
»Wann können wir sie ansehen?«
»Kommen Sie morgen gegen Mittag hierher zu mir, und dann gehen wir zusammen dorthin und regeln alles«, erwiderte er.
»In Ordnung – Punkt Mittag«, sagte ich. Ich schüttelte ihm die Hand.
Wir ließen ihn mit seinen Chemikalien zurück und gingen zusammen in Richtung meiner Pension.
»Sagen Sie mal«, fragte ich plötzlich, wobei ich stehenblieb und mich Stamford zuwandte, »woher zum Teufel wußte er, daß ich aus Afghanistan gekommen bin?«
Mein Begleiter lächelte rätselhaft. »Das ist eben seine kleine Besonderheit«, sagte er. »Viele Leute wollten schon wissen, wie er Dinge herausfindet.«
»Aha, das ist also ein Rätsel?« rief ich und rieb mir die Hände. »Das ist sehr aufregend. Ich bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie uns zusammengebracht haben. Sie wissen ja: ›Das wahre Forschungsgebiet8 des Menschen ist der Mensch‹.«
»Dann erforschen Sie ihn«, sagte Stamford, als er sich von mir verabschiedete. »Aber Sie werden feststellen, daß er ein verwickeltes Problem ist. Ich wette, er findet mehr über Sie heraus als Sie über ihn. Goodbye.«
»Goodbye«, gab ich zurück und schlenderte zu meiner Pension. Ich war von meinem neuen Bekannten ungemein gefesselt.
2. Die Wissenschaft der Deduktion
Wie von ihm festgesetzt, trafen wir uns am nächsten Tag und inspizierten die Räumlichkeiten von Nr. 221 B, Baker Street, über die wir bei unserer Begegnung gesprochen hatten. Sie bestanden aus zwei gemütlichen Schlafzimmern und einem gemeinsamen, großen, luftigen Wohnraum, der fröhlich möbliert war und von zwei breiten Fenstern erhellt wurde. Die Zimmer waren insgesamt so ersprießlich, und die Kosten, geteilt durch uns beide, erschienen uns so maßvoll, daß die Verhandlungen auf der Stelle zu einem Abschluß gebracht wurden und die Wohnung sogleich in unseren Gebrauch überging. Noch am gleichen Abend brachte ich meine Habseligkeiten aus dem Hotel herbei, und am nächsten Morgen folgte Sherlock Holmes mir mit mehreren Kisten und Schrankkoffern. Einen Tag oder zwei waren wir vollauf damit beschäftigt, unsere Besitztümer auszupacken und in möglichst vorteilhafter Weise unterzubringen. Nachdem dies geschehen war, begannen wir, ansässig zu werden und uns an die neue Umgebung zu gewöhnen.
Mit Holmes war keineswegs schwierig auszukommen. Er war von ruhiger Art und hatte geregelte Gewohnheiten. Selten war er nach zehn Uhr abends noch auf den Beinen, und immer hatte er bereits gefrühstückt und das Haus verlassen, bevor ich morgens aufstand. Bisweilen verbrachte er den Tag im Chemie-Laboratorium, manchmal in den Sezier-Räumen, und gelegentlich auf langen Spaziergängen, die ihn in die niedersten Teile der Stadt zu führen schienen. War er arbeitswütig, so vermochte nichts seine Energie zu übertreffen; hin und wieder setzte jedoch eine Reaktion ein, und dann pflegte er tagelang auf dem Sofa im Wohnraum zu liegen, wobei er vom Morgen bis zum Abend kaum ein Wort sagte oder einen Muskel bewegte. Bei derlei Gelegenheiten habe ich in seinen Augen einen solch verträumten, leeren Ausdruck bemerkt, daß ich ihn hätte verdächtigen mögen, irgendeinem Narkotikum zu frönen, hätte nicht die Mäßigung und Reinlichkeit seiner ganzen Lebensführung eine derartige Annahme verboten.
So verstrichen die Wochen, und mein Interesse an ihm wie auch meine Neugier bezüglich seiner Lebensziele vertieften und mehrten sich allmählich. Seine Gestalt und Erscheinung allein genügten, die Aufmerksamkeit des oberflächlichsten Beobachters zu erregen. Er war mehr als sechs Fuß groß und so ungeheuer hager, daß er noch weit größer wirkte. Seine Augen waren scharf und durchdringend, außer in jenen Zwischenzeiten der Lähmung, die ich erwähnt habe, und seine schmale, falkenhafte Nase verlieh ihm insgesamt den Ausdruck der Wachsamkeit und Entschlossenheit. Auch sein Kinn hatte jene Prominenz und Wucht, die den entscheidungsfreudigen Mann kennzeichnen. Unweigerlich waren seine Hände mit Tinte beschmiert und von Chemikalien befleckt, und doch besaß er ein außerordentliches Fingerspitzengefühl, wie zu beobachten ich oftmals die Gelegenheit hatte, wenn ich ihn die zerbrechlichen Instrumente seiner Welterforschung handhaben sah.
Der Leser mag mich als hoffnungslose Schnüffelnase abschreiben, wenn ich bekenne, wie sehr dieser Mann meine Neugier weckte und wie oft ich die Zurückhaltung zu durchdringen mich mühte, die er in allem an den Tag legte, was ihn betraf. Ehe man den Stab über mich bricht, bedenke man jedoch, wie ziellos mein Leben war und wie wenig es gab, das meine Aufmerksamkeit zu fesseln vermocht hätte. Meine Gesundheit erlaubte es mir nicht, das Haus zu verlassen, außer bei ungewöhnlich mildem Wetter, und ich hatte keine Freunde, die mir Besuche abstatten und die Eintönigkeit meines Alltags hätten unterbrechen können. Unter diesen Umständen begrüßte ich eifrig das kleine Mysterium, das meinen Gefährten umgab, und verwandte ein gut Teil meiner Zeit auf den Versuch, es zu erhellen.
Medizin studierte er nicht. Was das betraf, so hatte er auf unsere Frage hin Stamfords Ansichten bestätigt. Ebenso wenig schien er Vorlesungen belegt zu haben, die ihn befähigt hätten, einen wissenschaftlichen Grad oder irgendeinen anderen anerkannten Einlaß in die Welt der Gelahrten zu erwerben. Seine Hingabe an bestimmte Studien war jedoch bemerkenswert, und innerhalb exzentrischer Grenzen waren seine Kenntnisse so ungewöhnlich weitreichend und genau, daß seine Bemerkungen mich durchaus erstaunten. Sicherlich konnte niemand so hart arbeiten oder so genaue Kenntnisse erlangen, ohne ein bestimmtes Ziel anzustreben. Oberflächliche Leser sind selten ob der Genauigkeit ihres Wissens bemerkenswert. Kein Mensch belastet seinen Geist mit Kleinkram, ohne dafür einen sehr guten Grund zu haben.
Seine Unwissenheit war ebenso bemerkenswert wie seine Kenntnisse. Über zeitgenössische Literatur, Philosophie und Politik schien er so gut wie gar nichts zu wissen. Als ich Thomas Carlyle9 zitierte, erkundigte er sich überaus naiv, wer dieser sei und was er geleistet habe. Meine Überraschung erreichte jedoch einen Höhepunkt, als ich zufällig herausfand, daß ihm die Theorie des Kopernikus und der Aufbau des Sonnensystems unbekannt waren. Daß ein gebildeter Mensch in diesem unseren neunzehnten Jahrhundert in Unkenntnis der Bewegung der Erde um die Sonne verharrte, erschien mir als solch außerordentliche Tatsache, daß ich es kaum zu begreifen vermochte.
»Sie scheinen sehr erstaunt zu sein«, sagte er; er lächelte über meinen verblüfften Gesichtsausdruck. »Jetzt, da ich es weiß, werde ich mich nach Kräften mühen, es zu vergessen.«
»Es zu vergessen!«
»Sehen Sie«, erläuterte er, »ich bin der Meinung, daß das Hirn eines Menschen ursprünglich wie eine kleine leere Dachkammer ist, die man mit dem Mobiliar versehen muß, das einem genehm ist. Ein Narr nimmt allen Plunder auf, über den er stolpert, so daß das Wissen, das ihm nützen könnte, von der übrigen Menge verdrängt oder bestenfalls von all den anderen Dingen verstellt wird, so daß er es schwerlich erfassen kann. Der geschickte Arbeiter dagegen wird sehr sorgsam mit jenen Dingen umgehen, die er in seine Hirnmansarde holt. Er nimmt nur jene Werkzeuge auf, die ihm bei seiner Arbeit helfen können, aber von diesen hat er ein großes Sortiment, und alle sind geordnet und in bestem Zustand. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dieser kleine Raum habe elastische Wände und sei beliebig dehnbar. Verlassen Sie sich darauf: Es kommt eine Zeit, da Sie für jede neue Kenntnis etwas vergessen, das Sie vordem gewußt haben. Es ist daher von größter Wichtigkeit, daß nicht nutzlose Fakten die nützlichen verdrängen.«
»Aber das Sonnensystem!« protestierte ich.
»Was zum Teufel soll ich damit?« unterbrach er mich ungeduldig. »Sie sagen, wir kreisen um die Sonne. Und wenn wir um den Mond kreisten – für mich oder meine Arbeit würde das nicht den geringsten Unterschied machen.«
Ich hätte ihn beinahe gefragt, was denn diese Arbeit sei, aber etwas in seiner Haltung zeigte mir, daß die Frage unwillkommen wäre. Ich machte mir jedoch Gedanken über unsere kurze Unterhaltung und suchte Schlüsse aus ihr zu ziehen. Er sagte, er wolle kein Wissen erwerben, das nicht zum Erreichen seiner Ziele beitrüge. Daher mußte alles Wissen, das er besaß, so beschaffen sein, daß es ihm nützte. Ich zählte im Geiste all die verschiedenen Punkte auf, über die er mir seine außerordentlich guten Kenntnisse demonstriert hatte. Ich nahm sogar einen Bleistift und schrieb sie nieder. Ich konnte nicht umhin, das Dokument zu belächeln, als ich es fertiggestellt hatte. Es lautete folgendermaßen:
Sherlock Holmes – seine Grenzen
1. Kenntnisse in Literatur: Null
2. Kenntnisse in Philosophie: Null
3. Kenntnisse in Astronomie: Null
4. Kenntnisse in Politik: Schwach
5. Kenntnisse in Botanik: Unterschiedlich. Gut in Belladonna, Opium und generell Gift. Er weiß nichts über praktische Gärtnerei.
6. Kenntnisse in Geologie: Verwendbar, aber begrenzt. Er kann mit einem Blick verschiedene Böden unterscheiden. Nach Spaziergängen hat er mir Spritzer auf seiner Hose gezeigt und mir anhand ihrer Farbe und Zusammensetzung gesagt, in welcher Gegend von London sie ihm zuteil wurden.
7. Kenntnisse in Chemie: Umfassend.
8. Kenntnisse in Anatomie: Genau, aber unsystematisch.
9. Kenntnisse in Sensationsliteratur: Ungeheuer. Er scheint jede Einzelheit jeder in diesem Jahrhundert begangenen Schreckenstat zu kennen.
10. Er spielt gut Geige.
11. Er ist ein geübter Stock- und Degenfechter sowie Boxer.
12. Er kennt sich gut in den britischen Gesetzen aus.
Als ich mit meiner Liste so weit gediehen war, warf ich sie voller Verzweiflung ins Feuer. ›Wenn ich das, worauf der Bursche abzielt, nur herausfinden kann, indem ich all diese Fertigkeiten unter einen Hut bringe und einen Beruf entdecke, für den sie samt und sonders nötig sind‹, sagte ich mir, ›dann kann ich den Versuch gleich aufgeben.‹
Ich stelle fest, daß ich oben auf seine Violinkünste angespielt habe. Sie waren äußerst bemerkenswert, aber genauso exzentrisch wie all seine sonstigen Fertigkeiten. Ich wußte sehr wohl, daß er Stücke, auch schwierige, spielen konnte, hatte er mir doch auf meine Bitte hin einige Lieder von Mendelssohn und andere meiner Lieblingsstücke vorgespielt. War er jedoch allein, so machte er selten Musik und suchte keine erkennbaren Melodien zu spielen. Er pflegte sich dann abends in seinem Sessel zurückzulehnen, die Augen zu schließen und unachtsam auf der Fiedel herumzukratzen, die auf seinen Knien lag. Manchmal waren die Akkorde klangvoll und schwermütig. Gelegentlich waren sie phantastisch und fröhlich. Offenbar spiegelten sie die Gedanken wider, die von ihm Besitz ergriffen hatten; ob aber die Musik diese Gedanken förderte, oder ob das Spielen nichts war als das Ergebnis einer Schrulle oder Träumerei, dies zu bestimmen überstieg meine Fähigkeiten. Ich hätte mich wider diese nervzermürbenden Soli aufgelehnt, wenn er nicht an deren Ende jeweils in schneller Folge eine ganze Reihe meiner Lieblingsmelodien gespielt hätte, als kleine Entschädigung für das Strapazieren meiner Geduld.
Während der ersten Wochen hatten wir keine Besucher, und ich nahm an, daß mein Gefährte ebenso ohne Freunde sei wie ich. Bald jedoch stellte ich fest, daß er viele Bekannte hatte, und zwar in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. Es gab da einen kleinen blassen Burschen mit einem Rattengesicht und dunklen Augen, der mir als Mr. Lestrade vorgestellt wurde; er kam drei- oder viermal innerhalb einer einzigen Woche. Eines Morgens kam eine junge Frau vorbei, gekleidet nach der neuesten Mode, und blieb eine halbe Stunde oder länger. Derselbe Nachmittag brachte einen grauhäuptigen, verwahrlosten Besucher, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und auf mich sehr aufgeregt wirkte; ihm folgte unmittelbar eine ältere, schlampige Frau. Bei einer anderen Gelegenheit führte ein alter, weißhaariger Gentleman ein Gespräch mit meinem Gefährten; bei wieder einer anderen war es ein Gepäckträger in seiner Manchester-Uniform. Wenn eines dieser schwer einzuordnenden Individuen erschien, pflegte Sherlock Holmes mich zu bitten, ihm den Wohnraum zu überlassen, und ich zog mich in mein Schlafgemach zurück. Er entschuldigte sich immer, daß er mir diese Unbequemlichkeit auferlegte. »Ich muß dieses Zimmer als Geschäftsraum verwenden«, sagte er, »und diese Leute sind meine Klienten.« Wieder bot sich mir die Gelegenheit, ihm eine direkte Frage zu stellen, und wieder ließ ich mich durch meine Feinfühligkeit davon abbringen, einen Menschen zu Vertraulichkeiten zu zwingen. In dieser Zeit glaubte ich, er habe starke Motive, nicht davon zu sprechen, aber er zerstreute diese meine Bedenken bald, indem er aus eigenem Antrieb auf das Thema zu sprechen kam.