Steh auf und geh

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Steh auf und geh
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Arnold

Mettnitzer

Steh auf und geh

Die therapeutische Kraft

biblischer Texte

Mit Fotos und Kunstwerken von Harald Schreiber


Nicht daran, wie einer von Gott redet, erkenne ich, ob seine Seele durch das Feuer der göttlichen Liebe gegangen ist, sondern wie er von den irdischen Dingen spricht.

SIMONE WEIL

Inhalt

Cover

Titel

Zitat

VORWORT

EINLEITUNG

Die Autorität „heiliger“ Schriften

STEH AUF UND GEH: DER WEG NACH INNEN

Selbstwerdung – ein biblisches Grundanliegen

Die Weinberggleichnisse

Die Saatengleichnisse

Nach innen hören

Nach innen wandern

Der Traum als Königsweg ins Innere

Die Traumschule der Senoi

Der Traum in der Bibel

Ijobsbotschaft und Ijobs Botschaft

LIEBE, ODER: WAS SELBSTWERDUNG FÖRDERT

Die biblische Rede von der Liebe

Das Buch Hosea

Jesus, der Liebhaber

Das biblische Doppelgebot

Das Hohelied der Liebe

Die goldene Regel

Die Stunde der „Gutmenschen“

Die himmlische Mathematik

ANGST, ODER: WAS SELBSTWERDUNG VERHINDERT

Die vier Grundformen der Angst

Die Angst vor Nähe

Die Angst vor Verlust

Die Angst vor Veränderung

Die Angst vor dem Endgültigen

GIBT ES DIE SEELE UND WENN JA, WIE?

Das Konzept der Seele in der heiligen Schrift und im therapeutischen Verständnis

Die Klang der Seele im Klang der Stimme

Wenn Musik die Seele berührt

Schatz und Perle

STEH AUF UND GEH: WELTERFAHRUNG

Wallfahrt: Der Hunger nach Erfahrung

Was Sterbende am meisten bereuen

Wunder der Auferstehung

Steh auf und geh: Deine Sünden sind dir vergeben

„Verlorener“ Sohn und barmherziger Vater

DIE LEBENSREGEL VON BALTIMORE

ZU GUTER LETZT: DAS ARGUMENT DER MORGENRÖTE

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildverzeichnis

Impressum

Vorwort

„Schon wieder ein Buch! Warum tust du dir das an?“ Die Frage einer klugen und erfahrenen Freundin ist ernst gemeint. Es wäre ja, meint sie, durchaus ein Liebesdienst an den Leserinnen und Lesern, einmal ganz bewusst ein Buch nicht zu schreiben. Auch Sokrates und Jesus, die mich so faszinieren und auf die ich ja deswegen immer wieder verweise, wären in ihrem Umgang mit den Menschen ganz ohne Schriften ausgekommen. Erst die Schüler und Gefährten hätten sich dann Notizen gemacht und damit nicht nur Informationen, sondern durchaus auch Quellen für Missverständnisse geschaffen und sich dabei nicht selten verdächtig gemacht, den tieferen Sinn so mancher ihnen vermittelter Weisheiten nicht verstanden zu haben.

Seit die „Ranking-Manie“ unter der Devise „Wer mehr publiziert, ist klüger“ für eine wahre Bücherschwemme am Buchmarkt zu sorgen scheint, ist die Herausforderung an einen Autor besonders groß, sich gut zu überlegen, ob überhaupt und wenn ja, mit welchem Thema er sich zu Wort melden soll. Wenn er dabei den weisen Kohelet zurate zieht, der sich bereits 200 Jahre vor Christus über all das Gedanken gemacht hat, wird er aus seinen Texten zunächst keine schnelle Ermutigung für sein Vorhaben erkennen können. Bereits die ersten Zeilen dort stimmen nachdenklich, vielleicht sogar pessimistisch und scheinen den Schluss nahezulegen, mit dem Schreiben erst gar nicht zu beginnen.

„Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt:

‚Sieh dir das an, das ist etwas Neues‘ –

aber auch das gab es schon in den Zeiten,

die vor uns gewesen sind.“ 1

Bei näherer Betrachtung allerdings entpuppt sich Kohelet nicht als Pessimist, wohl eher ist er ein lebenserfahrener Realist, der sein Denken und Fühlen ähnlich wie der griechische Philosoph Heraklit auf den Punkt bringt:

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären/​und eine Zeit zum Sterben,/​eine Zeit zum Pflanzen/​und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,/​eine Zeit zum Töten/​und eine Zeit zum Heilen,/​eine Zeit zum Niederreißen/​und eine Zeit zum Bauen,/​eine Zeit zum Weinen/​und eine Zeit zum Lachen,/​eine Zeit für die Klage/​und eine Zeit für den Tanz;/​eine Zeit zum Steinewerfen/​und eine Zeit zum Steine sammeln,/​eine Zeit zum Umarmen/​und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,/​eine Zeit zum Suchen/​und eine Zeit zum Verlieren,/​eine Zeit zum Behalten/​und eine Zeit zum Wegwerfen,/​eine Zeit zum Zerreißen/​und eine Zeit zum Zusammennähen,/​eine Zeit zum Schweigen/​und eine Zeit zum Reden,/​eine Zeit zum Lieben/​und eine Zeit zum Hassen,/​eine Zeit für den Krieg/​und eine Zeit für den Frieden.“ 2

Ähnliche Überlegungen finden wir auch in den Gedanken des griechischen Philosophen Heraklit.3 Sein wohl bekanntester Satz lautet: „Alles fließt, nichts besteht.“ Auch seine Gedanken, dass es Entwicklung nur geben kann im täglichen Hin und Her, im ständigen Zusammenspiel gegensätzlicher Kräfte, sind interessante Parallelen zum biblischen Text bei Kohelet. Heraklit geht sogar so weit, sich Gott selbst vorzustellen als „Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluss und Hunger“.4 Darum, so meint er, wäre es für den Menschen auch nicht gut, wenn er ans Ziel seiner Wünsche käme. Denn es sei die Krankheit, die die Gesundheit angenehm macht, nur am Übel gemessen trete das Gute in Erscheinung, am Hunger die Sättigung, an der Mühsal die Ruhe. Darum hätten diejenigen Unrecht, die ein Ende allen Kampfes in einem ewigen Frieden herbeisehnen. Denn mit dem Aufhören der schöpferischen Spannungen würde totaler Stillstand und Tod eintreten.

 

Wenn mich also der Weise aus der Bibel daran erinnert, dass alles seine Zeit hat, dann gibt es offensichtlich wohl auch eine Zeit zum Bücherlesen und zum Bücherschreiben. Und wenn mich noch dazu der Philosoph vor dem Aufhören schöpferischer Spannungen warnt, dann bin ich trotz aller Einwände von besorgten Freunden hoch motiviert, ein weiteres Büchlein zu schreiben. Ich schreibe es nämlich nicht, weil ich etwas wüsste, das andere nicht wissen. Ich schreibe es, um das, was mich täglich in der Begleitung von Menschen bewegt und beschäftigt, durch die Mühe, es in Worte zu fassen, tiefer und (hoffentlich) gründlicher „verstehen“ zu können. Die dabei zu Hilfe gerufenen, biblischen Texte sind erstaunlich jung, voller Kraft und therapeutischer Qualität, sie sind aber auch ein überzeugender Hinweis darauf, dass alles, was wir heute als zentrale Probleme des Menschen diskutieren, bereits wichtig war „in den Zeiten, die vor uns gewesen sind“.

Einleitung

„VOM REISEN.“ So antwortete vor Jahren Peter Handke auf die Frage, woher er den Stoff für seine vielen Bücher nehme. Dieses „Reisen“ als „Erfahrung“, als „Unterwegssein“ ist in unterschiedlichen Nuancen das Thema dieses Buches, weil es auch die Grundmelodie alles Lebendigen und das zentrale Thema vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel ist. Wer das älteste Buch der Welt unter diesem Vorzeichen zur Hand nimmt und es so zu lesen versucht, versteht seinen eigenen Lebensweg und die darin gemachten Erfahrungen, eingebunden in den Erfahrungsschatz vieler. Gipfelsiege, Glanzleistungen, Irrwege, Umwege und Sackgassen werden dort beschrieben und von Erfahrungen berichtet, deren tiefe Wahrheit und therapeutische Kraft erstaunlich modern wirken und selbst vor den Ergebnissen neurobiologischer Forschung bestehen können.

Immer geht es dabei um Ermutigung, um „Zumutung von innen her“, um das Feuer innerer Bereitschaft und wenn nötig um einen radikalen Perspektivenwechsel. So können im Menschen schlummernde Selbstheilungskräfte aktiviert und neue Ziele ins Auge gefasst werden. Selbst dem hochbetagten Abraham gelingt es so noch, aufzubrechen, aus der gewohnten Umgebung wegzuziehen und einen ganz neuen, seinen unverwechselbar eigenen Weg zu gehen. Wer so die Bibel liest, wird staunen, wie erfrischend jung sie ist, was sie den Abenteurern des Lebens auch heute noch zu bieten hat. Sie ist „heilige“ Schrift im Sinne von „heilender“ Schrift, sie „gehört“ nicht nur Juden und Christen, sie ist als gebündelter Erfahrungsschatz Kulturgut der Menschheit und offen für alle, die bereit sind, in diesen Erfahrungsschatz einzutauchen.

Die ermutigende Kraft biblischer Texte ist seit Jahren eine immer wieder auftauchende Begleitmelodie meiner therapeutischen Arbeit. Und das Erstaunliche dabei liegt darin, dass nicht ich als Theologe die Sprache darauf bringe, sondern meine Patienten, die nicht selten dabei auf das kleine Kreuz in der Praxis Bezug nehmen, das manche irritiert, viele erstaunt und von kaum jemandem nicht beachtet wird: Der Konzeptkünstler Werner Hofmeister hatte zunächst für die vierte Klasse einer Volksschule, also für Schüler kurz vor dem „Absprung“ in einen neuen Lebensabschnitt, eine Skulptur geschaffen, die den Gekreuzigten am oberen Rand des Längsbalkens als Abspringenden zeigt. Auf dem Querbalken steht das Wort „springboard“ – „Sprungbrett“ beziehungsweise, wie in der monumentalen Ausführung dieses Werkes am Fuß des Grazer Kalvarienberges, „tabula saltandi“ – „Tanzboden“. Dieses kleine, von vielen als ungewöhnlich empfundene Kreuz ist mir ein stimmiges Symbol für den beherzten Mut, den ein Mensch braucht, damit sein Leben „gelingen“ kann.

Mit „gelingen“ ist hier weit mehr gemeint als „Erfolgreich-Sein“, es meint jene geheimnisvolle und von außen nicht steuerbare Erfahrung, dass Rückschläge, Enttäuschungen, selbst aussichtslos scheinende Situationen im Leben nicht einfach hingenommen und in Demut ertragen werden müssen, sondern „von innen her“ betrachtet zum Sprungbrett, vielleicht sogar nach und nach zum Tanzboden für unerwartet neue Möglichkeiten werden können. In Blickrichtung auf dieses Kreuz sieht der Betrachter in meiner Praxis auch einen kleinen, mir geschenkten Schuh, der unserem Patenkind Samuel zu klein geworden war …

Kaum besser kann ich symbolisch zusammenfassen, worum es in meiner täglichen Arbeit geht, nämlich um die Beseitigung seelischer Leidenszustände und dabei immer zuallererst wohl darum, einem Menschen, der Hilfe sucht, wieder auf die Sprünge zu helfen, ihm beizustehen, damit er wieder festen Boden unter seine Füße und den Mut bekommt, aufzustehen und unter einer anderen Perspektive weiterzugehen. Oder anders gesagt: Es geht darum, einem Menschen, der, aus welchen Gründen auch immer, auf den Wegen seines Lebens den alten Schuhen entwachsen ist, bei der Suche nach „neuem Schuhwerk“ behilflich zu sein. Letztlich geht es im besten Sinn des Wortes um „Auferstehung“, um die Befreiung aus der Erfahrung des „Aufs-Kreuz-gelegt-und-angenagelt-Seins“, es geht um einen Ausweg aus vermeintlicher Ausweglosigkeit, um Hoffnung in zunächst bedrückender Hoffnungslosigkeit. Es geht um das, was Augustin von Hippo in einer seiner großen Reden seinen Zuhörern zuruft: „Sei, der du bist und wachse voran, ein anderer zu werden, als du bist! Denn wo du Halt machst, bleibst du stehen und wenn du sagst ‚Ich habe genug geleistet‘, bist du verloren!“

Auf der Suche nach neuen Lebensperspektiven die Bibel so in die Hand zu nehmen und zu lesen, erscheint vielen Menschen suspekt. Sie möchten nicht in ein falsches Licht geraten, religiös punziert oder vorschnell als harmlos abgestempelt werden. Mit biblischen Texten macht sich ein Therapeut verdächtig, der Religion sozusagen durch die Hintertür zum Durchbruch zu verhelfen, als ginge es ihm in erster Linie um die Religion und nicht um den Menschen, dem auch die Bibel mit ihrem Erfahrungsschatz helfen könnte.

Dazu kommt, dass Religion im Moment so etwas wie der Stachel im Fleisch vieler zu sein scheint. „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Religion“, hat der Philosoph Peter Sloterdijk vor einigen Jahren schon formuliert und damit einer eigenartigen Angst Ausdruck verliehen. Unbestreitbar ist, dass Religionen natürlich auch gefährlich sein können und in ihrer politischen Gegenwart mit fundamentalistischer Erregungskraft wie ein Sprengkopf wirken. Mit der Religion steht etwas Unkontrollierbares im Raum. Das zeigt sich an der Empfindlichkeit „hochreligiöser“ Menschen. Wer Gott beleidigt, verletzt heiligste Gefühle und damit diejenigen, die an ihn glauben. Darum muss hier unmissverständlich gesagt werden, dass in diesem Buch zwar oft in der Sprache der Bibel von „Gott“ geredet wird, damit aber nicht die Gottesfrage im eigentlichen Sinn behandelt werden will. Gott wird hier weder bewiesen noch geleugnet, sondern als biblischer Ausdruck für innere Verankerung, Orientierungshilfe und persönlichen Halt wertgeschätzt.

Auch die fundamentale Bedeutung des Ersten und Zweiten Testaments für das Judentum und Christentum ist nicht das Anliegen dieses Buches, vielmehr die in beiden Testamenten verborgene tiefe Weisheit und ein Erfahrungsschatz, der die Bibel über alle religiösen Grenzziehungen hinaus als Lehrmeisterin des Lebendigen ausweist. „Die Wahrheit“, hat jemand gesagt, „ist symphonisch“5, ein Zusammenklang aus vielen Einzelstimmen; dabei ist jede Stimme wichtig und wertvoll, weil sie aus dem Leben, aus konkret-persönlicher Lebenserfahrung kommt. Unterschiede bedeuten dabei nicht Trennung, sondern verschiedene Farben von Wahrheit. Ein Ausspruch des altindischen Herrschers und Buddhisten Ashoka bringt die buddhistische Ansicht auf den Punkt:

„Wer seiner eigenen Religionsgemeinschaft Ehre erweist und die Religionsgemeinschaften anderer verachtet, allein aus Anhänglichkeit gegen die eigene, mit der Absicht, den Glanz der eigenen zu erhöhen, der fügt in Wahrheit seiner eigenen Gemeinschaft schwersten Schaden zu.“6

Nicht weniger beeindruckend ist das Wort von Mahatma Gandhi:

„Ich glaube an die Bibel, wie ich an die Gita glaube. Ich halte alle die großen Glaubensbekenntnisse der Welt für ebenso wahr wie mein eigenes. Es tut mir weh zu sehen, wann immer eines von ihnen verzerrt wird.“7

Wer die Bibel mit solchen Augen zu lesen versucht, wird Berührungsängste ablegen und staunen können, wie modern das älteste Buch der Welt ist, wie ewig jung und aktuell seine Perspektiven erscheinen. Diese bündeln sich in einem Anleiten zum „Weise-werden im Raum der Güte“8, wobei die Sorge um die Identität des Einzelnen und sein Wohlergehen als Grundlage für eine tragfähige Gemeinschaft an erster Stelle stehen.

Das Individuum steht also im Zentrum der Betrachtung. Um diese Identität zu schaffen und zu stärken, gibt es zumindest drei große Erzählstränge in der Bibel. Der Erste zeigt zunächst einmal einen Weg aus der Sklaverei in die persönliche Freiheit auf, der Zweite kümmert sich um das von den Propheten eingemahnte Thema der Reinigung, Klärung, Korrektur und Klarheit und der Dritte legt den Schwerpunkt auf die Erfahrung der Sinn- und Identitätskrise beziehungsweise deren Bewältigung. Biblische Sinn- und Krisenbewältigung erfolgt aber nicht durch beeindruckende Heldentaten, sondern durch persönliche Erfahrungen aus Beispielgeschichten. Dem Leser der Bibel wird rasch klar, dass der biblische Mensch kein gefinkelter Theologe, sondern ein bodenständiger Praktiker ist, der bei allen Unterschieden zum heutigen Menschen zumindest darin mit ihm vergleichbar zu sein scheint, dass auch er schon durch ein vielseitiges Überangebot von Lebensgestaltungsmöglichkeiten verunsichert, gebeutelt und verwirrt ist, nach Orientierung Ausschau hält und oft nur sinnlose Leere ohne Hoffnung und Begeisterung vorfindet.

Die Autorität „heiliger“9 Schriften

In der rabbinischen Tradition findet sich die Geschichte eines jungen Flüchtlings, der in eine Stadt kommt, deren Bewohner ihn bereitwillig aufnehmen und verstecken. Dann kommen Soldaten auf der Suche nach dem Flüchtling, doch die Bewohner der Stadt behaupten, von nichts zu wissen. Die Soldaten schöpfen Verdacht und kündigen an, die ganze Stadt in Schutt und Asche zu legen, wenn der Flüchtling nicht bis zum nächsten Morgen ausgeliefert wird. Voller Angst kommen die Menschen zu ihrem Rabbi, um ihn um Rat zu fragen. Tief besorgt beginnt er, in der Schrift nach einer Antwort zu suchen. Die ganze Nacht liest er, ohne etwas zu finden. Kurz vor Sonnenaufgang fällt sein Blick auf den Satz: „Es ist besser, dass einer für das ganze Volk stirbt, als dass alle zugrunde gehen.“10 Er ist sich sicher, dass das die Antwort ist und kommt damit zu den Stadtbewohnern. Sie sagen den Soldaten, dass der junge Mann tatsächlich bei ihnen versteckt ist und er wird abgeführt. Der Rabbi aber ist nicht beruhigt. Er setzt sich nochmals über seine Bücher. Ein Engel erscheint und fragt ihn, was er für ein Problem habe. „Ich bin mir einfach noch nicht sicher, ob es richtig war, den jungen Mann auszuliefern“, sagt der Rabbi. Der Engel antwortet: „Wusstest du nicht, dass das der Messias ist?“ Ungläubig schaut ihn der Rabbi an: „Wie hätte ich das wissen können?“, fragt er. „Hättest du dir die Zeit genommen, den jungen Mann aufzusuchen und ihm in die Augen zu schauen, anstatt in den Schriften zu suchen“, entgegnet der Engel, „hättest du gesehen, dass er der Messias ist.“ Wer die Schrift, aus der der Rabbi liest, vom Leben loslöst, verzerrt ihren Inhalt. Wer die Geschichten von den Menschen loslöst, zu deren Zeit sie entstanden sind, versteht sie falsch. Die Autorität „heiliger“ Schriften liegt darin, dass sie über sich selbst hinaus verweisen auf Menschen und die Geschichte ihrer Erfahrungen. Wer das Buch zum Götzen macht, macht die Worte zur letzten Wahrheit und kommt in Schwierigkeiten, so wie der Rabbi in der Geschichte. Wo Schriften und Regeln wichtiger werden als die konkrete Not eines Menschen, verkommt die Sorge um das Wohl eines Menschen zum Lippenbekenntnis.

Eugen Drewermann warnt an vielen Stellen seines umfangreichen Werkes, dass eine Auslegung heiliger Texte, die in der historischen Distanz des gelehrten Bildungswissens daherkommt, von der unmittelbaren Ergriffenheit nichts transportieren könne und in ihrem ganzen Wesen unreligiös und zum Zeugnis gegen sich selber verkommen müsse. Geschichten berühren uns dann, wenn sie uns innerlich anrühren, wenn statt Erinnerung „Verinnerung“ möglich wird; statt „Begriffenhaben“, „Ergriffensein“. Alles andere wäre Heuchelei und Mummenschanz.11

 
Steh auf und geh: Der Weg nach innen

Selbstwerdung – ein biblisches Grundanliegen

DIE BIBEL auch noch aus einem den religiösen Kontext übersteigenden, ganz anderen Blickpunkt lesen zu können, verdanke ich einem Buch, das mir 1990 zum Geburtstag geschenkt wurde. Die Lektüre schlug bei mir ein wie ein Blitz und wirbelte mein Weltbild gehörig durcheinander, weil sie „Von einem, der auszog, das Leben zu lernen“12 berichtete und mir nicht nur zum Aufbruch, zur Reise, sondern zu guter Letzt auch zum „Ausbruch“ aus meiner damaligen Lebenssituation Mut machte. Seither weiß ich, dass (auch) biblische Geschichten wie Sprengstoff wirken können. Gleichzeitig sah ich alte Texte mit neuen Augen. Plötzlich ging es nicht mehr nur wie im Theologiestudium um den Text und seine Bedeutung für die religiöse Gemeinschaft. Hier und jetzt ging es mit einem Mal um mich.

Mein Leben wurde verhandelt und infrage gestellt. Meine Gefühle und daraus abgeleitete Perspektiven waren plötzlich wichtig. Das kam mir zunächst nicht nur neu, jung und frisch, sondern durchaus auch „gefährlich“ vor. Aber stärker als das „Gefährliche“ war dann das für mich bis dahin so noch nicht gekannte Gefühl innerer Kraft und Unerschrockenheit. Die Vorsicht und Angst in mir wich meiner Neugier, was zur Folge hatte, dass in meiner Umgebung bald von einer „schweren Glaubens- und Identitätskrise“ gesprochen beziehungsweise die Befürchtung geäußert wurde, dass ein so hoffnungsvoll begonnener Weg kirchlicher Karriere scheitern und in der Sackgasse karrieristischer Bedeutungslosigkeit enden müsse. Niemand aber konnte mich daran hindern, den für mich unverwechselbar eigenen Weg zu gehen.

Die damals voll Argwohn und mit vorwurfsvoll-bitterem Beigeschmack mir immer wieder vorgehaltenen Schlagworte hießen „Selbstwerdung“ und „Selbstverwirklichung“. Sie wären die Ikonen der Neuzeit, wurde ich gewarnt, sie würden die Menschen in die „Egoismus-Falle“ locken und der persönlichen Freiheit des Menschen Tür und Tor öffnen. Dem gegenübergestellt wurden die Norm der Treue zum einmal eingeschlagenen Weg und das Gebot der sich selbst vergessenden Nächstenliebe. Auf diesem Boden gedieh das Misstrauen gegen „Selbstwerdung“ und „Selbstverwirklichung“; diese würden die einseitige Verherrlichung des Lustprinzips bedeuten und als alleiniger Maßstab für Lebensentscheidungen und Lebensführung gelten.

C. G. Jung, neben Freud der zweite Vater der Psychoanalyse, sieht die Selbstverwirklichung anders. Er bezeichnet mit dem Begriff des „Selbst“ die Ganzheit unserer Seele im Gegensatz zum „Ich“, das nur einen Teil unseres seelischen Lebensbereiches ausmacht. Das Selbst ist gleichsam das Zentrum der Person, von dem alle psychischen Kräfte ausgehen. Es ist zunächst reine Möglichkeit, die zur Wirklichkeit werden kann, wenn das Ich seinen Signalen Beachtung schenkt. Das Ziel des Selbst ist die Selbstwerdung, die Ausbildung und Reifung der individuellen Persönlichkeit.

Marie-Luise von Franz, eine Schülerin C. G. Jungs, vergleicht das Selbst deshalb mit dem Samen einer Bergföhre, in dem das Bild der Bergföhre mit all ihren Möglichkeiten grundgelegt ist, verbunden mit dem Impuls, diese Möglichkeiten zu entfalten.13 Durch Anpassung an die speziellen Umstände und Bedingungen wie Erdbeschaffenheit, Steine im Boden, Hangneigung, Windlage, Regenmenge und Sonnenbestrahlung wächst dann die dadurch einmalige Bergföhre. Dieses Wachstum des einmalig Einzelnen nennt C. G. Jung „Individuationsprozess“; die Selbstwerdung eine Dynamik, die einen Menschen ein Leben lang begleitet und bis zu seinem letzten Atemzug nicht abgeschlossen werden kann. Es geht also nicht um ungehemmte Lustbefriedigung, vielmehr darum, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und zu leben. Dass das mit Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden ist, ist ebenso zu verstehen wie auch die Tatsache, dass das immer wieder auch mit Rückschlägen und Enttäuschungen zu tun haben wird.

Selbstwerdung ist so betrachtet die schöpferische Verwirklichung des eigenen Selbst und damit die Grundlage einer gesunden menschlichen Entwicklung. Nur wer zu sehen vermag, dass eine so verstandene „Selbstwerdung“ biblischen Texten nicht nur nicht entgegensteht, sondern in ihnen geradezu ein Grundanliegen erkennt, wird in der Lage sein, diese Texte im Kontext persönlicher Ermutigung zu lesen. Zahlreiche Bilder und Erzählungen in den biblischen Schriften benennen in diesem Sinn die Selbstwerdung als zentrales Anliegen.