Der Kurator 7 Neue Wege 8 Kornar V 9 Leerraum

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„Jetzt wirst du auch verstehen, warum ich immer wieder den Wunsch verspüre, an diesen Ort zurückzukehren. Denn dieser Welt wohnt einfach etwas Göttliches inne. Daher habe ich stets aufs Neue das Bedürfnis, für immer auf meiner Insel leben zu wollen. Möchte auch, wenn einmal der Zeitpunkt kommen sollte, hier sterben und begraben werden.”

„Bestand eigentlich tatsächlich reale Todesgefahr für uns?”

Knud blieb ihm die Antwort schuldig.

Sie schoben ihre Räder entlang des Gewässers zurück zum Rundweg. Plötzlich bückte sich Mouad. Er hob einen Stein hoch, der mit Lehm verschmutzt war, tauchte ihn ins Wasser und betrachtete ihn. Wunderschöne Bergkristallprismen funkelten in der Sonne. Dazwischen blinkte es gelb-metallisch.

„Ist das echtes Gold?”, fragte er.

„Ja, dieser Fluss ist für seine Goldablagerungen und Nuggets unter Geologen sehr bekannt - schon seit langem.”

„Und ihr beutet ihn nicht aus?”

-

„Die Natur ist kostbarer als der bloße Materialwert des Edelmetalls.”

„So allmählich begreifst du unsere Philosophie. Warum sollten wir diesen zauberhaften Ort zerstören, wenn wir doch zum Beispiel kurz nach der - zugegeben sehr seltenen - Kollision zweier Neutronensterne innerhalb kürzester Zeit Billiarden Tonnen diverser Edelmetalle abernten können?”

Mouad blickte auf die fast völlig fehlerfrei auskristallisierte mineralische Stufe.

„Aber nimm doch das schöne Stück als Erinnerung herzlich gern mit.”

Knud und Mouad schwangen sich wieder auf den Sattel und radelten weiter. Auf der Kuppe eines Hügels, den sie mit einiger Anstrengung erklommen hatten, setzten sie sich auf den steinernen Rand eines Aussichtspunktes und genossen wieder einmal die Aussicht: Senkrecht unter ihren Füßen brach eine viele hundert Meter tiefe Abbruchkante in die spiegelglatte See. In der Ferne der dunkelrot angestrahlte Blumenkohl als Zeichen der weiterhin heftigen Ausbruchsaktivität.

Auf der zum Kratermeer abgewandten Seite erhob sich der mit riesigen Gletschern überzogene, sturmumtoste Nostaq, mit 8311 Metern der höchste Gipfel der östlichen Ausläufer des Polgebirges in den stahlblauen Himmel. Sie betrachteten respektvoll das chaotische Terrain aus Eislawinen, Schneewächten und Gletschern.

Es verging geraume Zeit, in der die beiden nur so da saßen und die faszinierenden Bilder in sich aufsogen.

„Ich wünschte mir, dass all die Menschen, die mir auf der Erde etwas bedeutet hatten, diese phantastische Natur zusammen mit uns genießen könnten. Ich glaube, dass auch sie neue Kraft für ihr weiteres Leben tanken könnten, um den Schrecken ihrer Erlebnisse auf Terra zu überwinden.

Knud kuschelte sich an Maouad. Abermals küssten und liebkosten sie sich zärtlich.

„Ich bin so glücklich”, flüsterte Mouad. „Diese Erotik, diese Intimität - ich habe sie vermisst.”

Nach einer Weile ergänzte er leise: „Ist schon sehr eigenartig, dass ich die Katastrophe heute Mittag scheinbar mühelos weggesteckt habe.

Es dämmerte. Knud und Mouad saßen unter einer gläsernen Aussichtskanzel auf einer knapp 1000 Meter hohen Klippe, aus der man auch bei schlechtem Wetter das Panorama genießen konnte. In dessen Mitte war eine Bodenplatte eingelassen, auf der 20 Personen Platz finden konnten: Der Zugang zu einem unterirdischen Hotel.

„Lass uns die Nacht doch hier verbringen”, schlug Mouad vor.

Knud nickte. Er deutete auf den See hinaus: Die langen Schatten aus dem himmelhohen Gebirge hinter ihrem Rücken hatten sich weit auf den See hinausgeschoben: Caeleon versank endgültig hinter den eisigen Flanken des Gebirgsmassivs. Rasch wurde es empfindlich kalt - der Herbst nahte. Mouad und Knud blickten ein letztes Mal den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Aber was war das? Eine Gruppe Radfahrer, schemenhaft, tief unten am Fuße des kilometerlangen steilen Anstiegs?

Mouad: „Die werden aber erst hier oben ankommen, wenn es schon tiefe Nacht ist.”

Die Gruppe schien aus Leibeskräften den Anstieg bewältigen zu wollen - rasch wurden die ersten Steigungen überwunden.

Knud wurde sichtlich nervös. Mit bebender Stimme sagte er:

„Mouad, auch wenn du mich für total verrückt hältst - ich muss ihnen entgegen fahren.”

Er stieg auf sein Fahrrad und raste den Abhang hinab, ein nachdenklicher, und zugleich sichtlich irritierter Mouad folgte ihm.

Beim Näherkommen erkannte er Astrid, Mary - und eine Gruppe von jungen Leuten, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er identifizierte einige Afrikaner, mehrere Asiaten - vielleicht Koreaner sowie Menschen aus dem zentralasiatischen Raum.

Knud brauste - wie von Sinnen - auf die Gruppe zu. Dabei stieß er fortwährend Freudenschreie aus und Namen, an die sich Mouad aus Knuds dramatischen Erzählungen erinnerte.

Er sah, wie sein Freund plötzlich stehenblieb, abstieg, von der Gruppe in die Mitte genommen und immer wieder umarmt und geküsst wurde. Schließlich wurde Knud triumphierend ein Stück bergauf getragen.

Jetzt erreichte auch Mouad die lachenden und zugleich vor Freude weinenden Menschen. Astrid und Mary standen etwas abseits. Sie sahen überglücklich aus.

Mouad gesellte sich zu den beiden Frauen, die ihn herzlich begrüßten.

„So ist offensichtlich ein Wunder geschehen: Knud hat viele seiner terranischen Freunde, die er einst aus heiklen Situationen einst befreit hat, wieder gefunden.”

Mary lächelte.

„Wunder würde ich das nicht nennen. Eher Zähigkeit und Hartnäckigkeit unsererseits und zugleich ungeheure Dankbarkeit. Denn ohne Knuds aufopferungsvollen Einsatz wären wir beide schließlich nicht mehr am Leben. Wir wussten, dass er an diesen Menschen hängt. Wir haben zum Teil jahrelang recherchieren müssen, um sie auf Terra ausfindig zu machen. Vor zwei Jahren hatten wir endlich Erfolg.”

„Aber warum habt ihr mit dieser freudigen Nachricht so lange gewartet?”, fragte Mouad.

„Einige dieser Menschen waren in einem so schlechten Zustand, dass jahrelange, umfangreiche psychologische Vorbereitungen notwendig waren. Insbesondere die drei Koreaner brauchten sehr intensive und liebevolle Betreuung.”

„Koreaner? Davon hat mir Knud nie etwas erzählt.”

„Knud soll dir selbst über sie berichten.”

Nordkorea

„Kurz nach Mitternacht. Knud und Mouad saßen auf einem bequemen Sofa in der Lounge des Hotels und blickten durch eine riesige Panoramascheibe nach draussen. Caeleon II war aufgegangen. Sein riesiges Spiegelbild leuchtete tief unter ihnen auf der vollkommen glatten Seeoberfläche. Das Rad der Milchstraße hing schräg über ihnen.

„Willst du mir jetzt vielleicht davon erzählen, woher du die drei Koreaner kennst - warum sie dir so viel bedeuten?”

Knud holte tief Luft.

„Ich bin heimlich in den größten Gulag eingedrungen, den es auf Terra überhaupt zur Zeit gibt - Nordkorea.

Es ist der Staat, in dem die Menschen nichts anderes als den Willen des Großen Führers - Kim Jong Un - kennen, dem von der Staatspropaganda göttliche Eigenschaften angedichtet werden. Ein Staat in dem die Menschen von allen anderen Informationen systematisch abgeschottet werden, in dem eine Aussenwelt für die eingeschlossenen 24 Millionen Nordkoreaner nicht existiert.

„Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, dieses Land untersuchen zu wollen? Hinter vorgehaltener Hand hat man doch selbst im Libanon vernommen, dass Nordkorea das irdische Pendant zur Hölle ist.”

„Mich haben - wie ich dir schon mehrmals anvertraut habe - immer schon Regionen im Kosmos interessiert, über die man nichts weiß. Kurz nach meiner Ankunft in der Föderation war ich bereits meiner Neugierde nach dem Fremden, Unbekannten, völlig verfallen. Ich bin viele Male in Regionen des Weltraums vorgestoßen wo ich Äonen alte Spuren vergangener Zivilisationen nachspüren konnte, habe Rassen aufgespürt, über deren Existenz nur noch Legenden existierten. Ich habe Wesen gefunden, über deren Lebensbedingungen ich immer noch völlig überwältigt bin. Denn es gibt tatsächlich Kulturen, die über Jahrmilliarden scheinbar unverändert existieren. Die es aber in Wirklichkeit über diesen unermesslichen Zeitraum geschafft haben, eine Reife zu erzielen, vor der ich voller Bewunderung stehe. Ich habe viele Jahre mit diesen Erkundungsmissionen verbracht - es war eine der fruchtbarsten und fesselndsten Episoden in meinem Leben.

Dann traf ich auf eine Terranerin, die sich auf der Erde in eine Kundschafterin verliebt hatte. Unter dramatischen Umständen gelangten sie in die Föderation. Wenn ich mich recht entsinne, mussten die beiden eine unglaublich lange, riskante und psychisch extrem strapaziöse Flucht auf sich nehmen. Damals fiel überhaupt zum ersten Mal in meinem Leben das Wort Nordkorea. Ich hörte von einer Region, die von einer Machtclique vollkommen gegenüber dem Rest Terras abgeschottet wird. Aber meine Neugierde war geweckt - ich begann Nachforschungen anzustellen.

Das Erstaunlichste offenbarte sich mir nur wenig später: Ich fand nichts. Selbst in den Annalen der Föderation, die sonst wirklich hervorragend detailliert Informationen enthalten, fanden sich nur dürftige Hinweise über die Situation in diesem Teil eurer Welt. Und glücklicherweise - so dachte ich damals nach meinen bahnbrechenden Entdeckungen in anderen Teilen des Kosmos - war auch niemand in der Föderation daran interessiert, dieses Land näher in Augenschein zu nehmen. Hätte ich mich doch bloß mehr mit der Flüchtlingsfrau näher beschäftigt...”

„Wie bist du überhaupt in dieses vollkommen isolierte System hineingekommen?”

„Es gibt nur eine Möglichkeit - von chinesischer Seite aus, indem man durch den Grenzfluss Yalu schwimmt. Und ich wollte die Kundschaftermission alleinverantwortlich tun - denn ein gewisses Risiko hatte ich schon vorhergesehen.”

„Wann und wie hast du die Grenze überhaupt überwinden können?”

 

„Es war eine nebelige, regnerische und extrem dunkle Neumondnacht, als ich durch den eisig kalten, rasch strömenden und wasserreichen Grenzfluss watete und dann schwamm. Ich war nicht unvorbereitet: Den Flussabschnitt, den ich durchqueren wollte, hatte ich vorher auf einem Holodeck genau simuliert. Jeder einzelne Stein, jedes einzelne Detail wurde nachgebildet - so weit dies die planetare Überwachung von Terra durch die wenigen Nannitenroboter, die mir zur Verfügung standen, zuließ. Aber ich besaß nur eine Momentaufnahme der Situation in diesem Land - es existierte keine Real-Time Supervision. Wie mir dieser Fehler unterlaufen konnte - warum diese Überwachung nicht ununterbrochen stattfand... Ich habe bis heute keine schlüssige Erklärung dafür.”

„Können es nicht einfach nur ganz normale menschliche Fehler sein? Nachlässigkeit, Desinteresse oder einfach technische Defekte?”

„Alle diese Möglichkeiten habe ich auch schon in Erwägung gezogen.”

Plötzlich flammte am Nachthimmel über dem Kratersee ein Meteor auf und zog einen langen, weiß glühenden Streifen hinter sich her. Knud zuckte zusammen. Ein entferntes Donnergrollen war zu hören.

„Woran denkst du gerade - hat dich dieses Naturschauspiel an ein Detail deiner Mission in Nordkorea erinnert?”, flüsterte Mouad und drückte seinen Freund zärtlich an sich.

„Leuchtspurmunition und Blendgranaten. Auch in jener Nacht wurden sie eingesetzt, was ein vollkommen diffuses Licht erzeugte und die Orientierung im Nebel noch weiter erschwerte. Und dann dieses bedrohliche Zischen, wenn die Geschosse plötzlich in unmittelbarer Nähe von irgendwoher auftauchten und wieder verschwanden.

Aber es kam für mich noch viel schlimmer: Ich habe nämlich ein hervorragendes Gedächtnis über topografische Gegebenheiten. Damit kann ich also quasi vorab ausrechnen, wann ich bei welcher Strömungs - und Schwimmgeschwindigkeit das andere Ufer erreichen würde. Aber ich schwamm und schwamm - der Fluss schien kein Ende zu nehmen. Mehrmals geriet ich unter Wasser und verlor dadurch schließlich auch die Orientierung. Und dann noch diese enrsetzliche Kälte des Wassers, die mir immer mehr zusetzte.

Glücklicherweise war ich damals körperlich genau so fit wie heute. Ich kraulte immer weiter Richtung Süden - irgendwo dort lag ja Nordkorea. Mein eiserner Durchhaltewillen, den du ja bereits kennst, rettete mir auch damals das Leben. Daher habe ich mit letzter Kraft das andere Ufer doch noch erreicht.”

Mouad spürte Knuds rasenden Herzschlag. So als würde er sich in jene lebensbedrohliche Situation erneut hineinversetzen.

„Es war einfach nur abartig, wie viel Geld, Zeit und Ressourcen in Form von Menschen und Rohstoffen dieser Staat investierte, um das Eindringen und viel mehr noch die Flucht zu einer hochriskanten Angelegenheit zu machen: Grenzbefestigungen veränderten sich laufend. Einzelne Flussabschnitte wurden fortlaufend durch Geröllabtragungen und -aufschüttungen verlagert. Wachtürme, Selbstschussanlagen, Minen, Stacheldrahtverhaue und Zufahrtsstrassen tauchten scheinbar urplötzlich irgendwo auf und verschwanden wieder. Es ist für Flüchtlinge wie russisches Roulette”

„Aber du musst es doch trotzdem irgendwie geschafft haben.”

„Aber nur ganz knapp. Es war der Realität gewordene Albtraum. Stroboskopartige Lichteffekte, schreckliche Schreie. Und bis heute leide ich unter dem Wimmern einer Kinderstimme, das ich über viele Stunden von irgendwo her hörte. Ich war fast soweit, mich auf zu geben.

Scheinbar nach einer Ewigkeit brach dann endlich doch ein neuer Morgen an. Ich fand mich in einer dunkelgrauen, strukturlosen Suppe wieder - tastete mich endlich weiter voran. Hinter Felsbrocken, in Kieslöchern, unter Baumaschinen, und zwischen Erdhaufen suchte ich Deckung. Ich war zudem gut getarnt - von einer widerlich riechenden Schlammschicht bedeckt. So fiel es den Grenzposten schwer, mich auszumachen”

„Das ist für mich alles nur schwer vorstellbar. Vielleicht war das so ähnlich wie unsere Flucht aus dem Libanon?”

„Nein Mouad. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Staat gesehen, der so weit zivilisatorisch zurückgeblieben ist. Selbst auf meinen Reisen durch den Kosmos bin ich noch nie solchem Elend begegnet. Selbst das, was ich in Afrika erlebt habe, war noch immer nicht so schrecklich wie die Tragödie, die ich dort hautnah miterleben musste. Ich kann dir nur einige wenige Beispiele überhaupt anvertrauen - viele andere kann ich emotional immer noch nicht handhaben.”

Knud konnte nicht weiter sprechen. Über ihnen breitete sich die sternenklare Schwärze des Universums aus, tief unten die kristallene Spiegelung des Sees. Eine beruhigende Magie verströmte dieser Ort.

Mouad küsste seinen Freund liebevoll.

„Ich brauche jetzt jemanden, dem ich berichten kann, was damals geschehen ist. Ich will dies alles nicht länger für mich behalten.”

Mouad bemerkte die schwach glänzenden Streifen unter Knuds Augen

„Ich werde dir weiter zuhören - auch wenn das von dir Erlebte alle erträglichen Grenzen sprengen sollte.”

„Das erste, was mir auffiel war, dass es sich als völlig unmöglich erwies, überhaupt mit irgend jemandem in Kontakt zu treten. Jeden Menschen, den ich ansprach, beantwortete meine Fragen mit Schweigen. Die Leute wirkten völlig gehemmt, teilnahmslos, sogar apathisch. An meinem Äusseren konnte es übrigens nicht liegen: Dank der hervorragenden plastischen Chirurgie der Föderationsärzte war ich in einen äußerlich perfekten Koreaner verwandelt worden. Und auch nicht an meiner Sprache. Denn mir war vor der Mission von unabhängiger Seite bescheinigt worden, dass ich ein völlig akzentfreies Koreanisch sprach - wenn auch mit der Ausdrucksweise der einfachen Landbevölkerung.

Ich begriff: Dies könnte rasch für mich in einer lebensbedrohlichen Situation enden. Denn wie sollte ich unter diesen Voraussetzungen etwas zu essen finden? Man konnte nicht einfach in ein Geschäft gehen und Lebensmittel kaufen. Alles war rationiert und wurde auf Lebensmittelkarten zugeteilt. Und die Leute waren dermassen unterernährt - sie konnten mir beim besten Willen nicht helfen.

Ich habe diese Erfahrung bis heute nicht vergessen - habe sogar immer noch Angst davor: Zum ersten Mal überhaupt lernte ich, was lebensbedrohlicher Hunger und Durst bedeuten. Der nagende Schmerz im Bauch, das Abgeschlafft sein, das brennende, übermächtige Verlangen nach Wasser. Dann das gefährlichste: Ich war nicht mehr in der Lage, zu denken, Entscheidungen zu treffen, etwas vorausschauend zu planen. Denn meine ganze Existenz war nur noch auf das nackte Überleben fixiert.

Ich schlich mich immer weiter die Straßen entlang in Richtung Pjöngjang, denn ch hegte die vage Hoffnung, dass normalerweise die Hauptstädte in totalitären Staaten besser mit Nahrungsmitteln versorgt sind. Aber nichts wurde besser - die Lage entwickelte sich genau in das Gegenteil. Ich sah, wie die Leute vegetierten. Als ob das Alles nicht entsetzlich genug wäre: Bei einem Wintereinbruch mit Eisregen und nassem Schnee verwandelte sich das Land in einen einzigen, grundlosen Matsch. Unzählige Menschen verreckten - von den Anderen völlig unbeachtet.”

Mouad war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.

„Ja Mouad. Ich habe diese Mission mehrfach fast nicht überlebt, weil ich wiederholt meine körperlichen und geistigen Grenzen erreichte. Denn irgendwann ließen meine Kräfte nach, zusätzlich geschwächt durch ständige Durchfälle, die durch das Trinken von fauligem Wasser und den Verzehr verdorbener Lebensmittel nicht ausbleiben konnten. Irgendwie habe ich es geschafft, etwas Salz aufzutreiben. Es gab sogar irgendwann sauberes Wasser - Regen, den es glücklicherweise zu dieser Jahreszeit - Frühlingsanfang - reichlich gab.

Dann hatte ich sogar richtig Glück - die Regierung suchte Arbeitskräfte. In Abgasschwaden gehüllte, klapprige, uralte LKWs fuhren die verschlammten Wege und Schotterpisten entlang und sammelten die Menschen auf, die noch halbwegs bei Kräften waren. Von ihnen lernte ich, wie man in Nordkorea, jedoch unter hohem Risiko, überlebte: Durch den Verzehr von Würmern, Schnecken und Wurzeln. Jedoch - Unzählige verreckten daran.”

Mouad war wie versteinert. Lange schwiegen beide.

Knud: „Wie ich dir schon gesagt habe: Ich muss weiterreden! Ich will endlich, dass wenigstens du erfährst, was ich in dieser Hölle auf Erden durchgemacht habe!”

Mouad nickte unmerklich.

„Wir wurden abtransportiert, um mit tausenden von Arbeitskräften einen gewaltigen Bewässerungskanal anzulegen. Dieser sollte zudem schiffbar sein. Ich begriff sofort, dass dieses Projekt absolut hirnrissig war. Denn dafür wären Erdbewegungen erforderlich, die mit tausenden halb verhungerten Arbeitskräften niemals hätten bewältigt werden können.

Aber für die Nordkoreaner war es die einzige Möglichkeit zu überleben. Die Zwangsarbeiter bekamen wenigstens wässrige Reissuppe und ab und an etwas frisches Wasser. Das besonders perfide daran war: Die Regierung verhinderte so, dass andere so genannte Staatsschmarotzer, die in ihren Augen nicht arbeiten wollten oder konnten, Nahrungsmittel erhielten. Der Besitz beziehungsweise das Mitbringen von Gefäßen aller Art zur Suppenausgabe war strengstens verboten. Die Blechnäpfe für die Essensrationen waren schließlich Staatseigentum und wurden nach dem Ende der Mahlzeit weggeschlossen.

Ich fühlte es bei vielen im Voraus, denn es war bei diesen Lebensumständen unausweichlich: Immer wieder brachen Leute zusammen, starben an Entkräftung. Und man hatte nicht die geringste Chance, dagegen aufzubegehren. Es erinnerte mich damals an eine sehr alte terranische literarische Meisterleistung, die mich in den Bann geschlagen hatte und die ich bis heute noch großenteils auswendig zitieren kann: Dantes Inferno eines Italieners mit Namen Allegri. Nur mit dem Unterschied, dass es hier in Nordkorea für die allermeisten völlig aussichtslos war, der Hölle zu entkommen”

„Aber noch hatte ich meine menschlichen Prinzipien nicht verraten, noch hatte ich mich nicht aufgegeben. Darauf bin ich im Nachhinein sogar ein bisschen stolz. Denn ich hatte es mehrmals gewagt drei Halbwüchsigen, fast noch Kindern, heimlich Nahrung zuzustecken von meiner eigenen Ration, um sie vor dem sicheren Tod zu bewahren.”

„Und dann? Du bist doch nicht etwa deshalb...”

„...im Gefängnis gelandet? Oh doch. Und wir wurden wie Vieh dorthin transportiert. Wie viele Menschen dabei gestorben sind? Ich weiß es einfach nicht.”

Knud konnte erneut nicht weiter sprechen. Mouad spürte erneut, wie die Erinnerungen seinen Mann überwältigten:

„Halte bitte meine Hand”, flüsterte Knud.

Nach einer Weile fuhr er stockend fort: „Ich selbst habe es auch deswegen nur überlebt, weil ich in der Ecke nah zur Fahrerkabine stand. Die Leute wurden auf der zum Führerstand abgewandten Seite auf die Ladefläche geknüppelt, zum Schluss sogar hinaufgeworfen. So entging ich den menschlichen Geschossen, die von der Soldateska auf die auf der Ladefläche stehenden Menschen geschmissen wurden. Jeder musste gegen das Erdrückt werden und Ersticken einen entsetzlichen Todeskampf ausfechten. Schließlich verlor ich das Bewusstsein. Ich kam wieder zu mir, als der Laderaum nach oben aufgerichtet wurde und wir alle wie eine Fuhre Baumaterial auf die Straße vor einer Gruppe aus primitiven Baracken gekippt wurden. Glücklicherweise landete ich ziemlich weit oben auf dem Haufen aus lebenden und toten menschlichen Körpern.

Dann das Lager selbst: Schläge, Elektroschocks, Stehen in eiskaltem Wasser. Und dies ist nur eine kleine Auswahl der dort angewendeten Foltermethoden.

Irgendwann musste ich mir eingestehen: Für eine Flucht war ich inzwischen zu schwach. Ich wusste, dass ich es nicht mehr schaffen würde, ohne fremde Hilfe das Land zu verlassen - den Grenzfluss Yalu zu durchschwimmen.

Dann aber geschah ein kleines Wunder. Jemand steckte mir etwas zu essen zu - es war einer der drei Jugendlichen, die ich vorher gerettet hatte. Und endlich, endlich gelang es mir, einen Blick hinter die Kulissen zu erhaschen. Kang fand nämlich den Mut, immer mal wieder einige Worte mit mir zu wechseln. Und was ich von ihm erfuhr, lässt mir bis heute das Blut in den Adern gefrieren. Kang nämlich wusste gar nicht, dass ausserhalb der Lagergrenzen eine andere Welt, sogar andere Staaten existierten. Er war nämlich in diesem Lager selbst zur Welt gekommen.”

„Aber wie in Himmels Namen konnten unter diesen Umständen zwei Menschen zueinander finden und sich lieben?”

„Nur unter größter Überwindung gelang es ihm, in den nächsten Wochen gegenüber mir die näheren Umstände seiner Zeugung zu schildern: Lagerinsassen konnten für gute Arbeit fünf Tage Auszeit in einer speziellen Baracke bekommen - fünf Tage mit einem gewissen Maß an Intimität. Die Perfidie dieser besonderen Form der Gratifikation wurde mir erst später klar: Denn auf diese Weise kann sich das politische System Nordkoreas ein willfähriges Heer an Arbeitssklaven heranziehen.

 

Dadurch, dass die Kinder von ihren Eltern kurz nach der Geburt getrennt werden, verhinderte man auch die Entstehung von Familienverbänden. Menschen, die sich gegenseitig vertrauten waren das letzte, was die kommunistische Partei gebrauchen konnte. Kangs Situation ist ein gutes Beispiel dafür: Er sah seine Eltern und seinen Zwillingsbruder nur zwei oder dreimal überhaupt in seinem Leben.

Dass die Lagerleitung, dass das System keine Gnade gegenüber Familien und deren Kindern walten ließ zeigt sich auch an der Tatsache, dass Kang der Hinrichtung seines Bruders - durch Erschießen, und seiner Mutter - durch Strangulierung, mit ansehen musste. Ihr Vergehen? Sie fielen irgendwann bei dem Vorarbeiter in Ungnade. Sie arbeiteten angeblich nicht hart genug. Kang hatte nämlich einmal seine Beschwerden während eines Arbeitseinsatzes aufgeschnappt. Es wurde von der Kommandantur nicht akzeptiert, dass Kangs Eltern während ihrer Fronarbeit immer wieder völlig entkräftet zusammen brachen.

Mir wurde bald klar, dass so ein System geschaffen wurde, dem jede zivilisatorischen Errungenschaften abhanden gekommen waren. Denn Kang berichtete, dass er während der Hinrichtung seiner Mutter und seines Bruders keine besondere Zuneigung zu ihnen fühlte. Er verspürte nur eine rätselhafte Verwunderung, als sein Vater - in Tränen aufgelöst - einige Meter neben ihm stand.

Aber selbst diese grausame Bestrafung reichte den Lagerverantwortlichen noch nicht. Denn von nun an haftete Kang der Ruf eines Verräters an - was er auch rasch zu spüren bekam:

Kang wörtlich: ,Eines Tages ließ ich völlig ausgezehrt einen Sack mit Zement fallen, der aufplatzte. Dabei verätzte ich mir Arme und Beine. In diesem Augenblick hatte ich mit meinem Leben bereits abgeschlossen - ich malte mir schon meine Hinrichtung detailliert aus. Und es sah zunächst auch ganz danach aus: Der Oberaufseher bedrohte, schlug und packte mich schließlich, schleifte mich mitleidslos in Begleitung mehrerer Soldaten zum Lagerkommandanten. Dieser befahl mir, vor einem Tisch zu knien. Ich erwartete mein Todesurteil.

Doch es kam anders. Zwei Soldaten ergriffen mich schließlich, zwangen mich, die ausgestreckte Hand auf den Tisch zu legen. Und mit einer höhnischen Grimasse säbelte mir der Aufseher in aller Ruhe den Mittelfinger ab.’ ”

„Du musst nicht weitersprechen”, flüsterte Mouad.

„Nein Mouad. Lass mich. Ich muss das jetzt zu Ende bringen.

Einige Wochen ging die spärliche Kommunikation mit Kang gut. Dann aber erfuhren wir, dass die Regierung ein anderes, noch dringenderes Projekt erfüllt haben wollte. In wenigen Stunden sollte es ganz in den Osten des Landes - ins Gebirge gehen.

,Jetzt oder nie’, schoss es mir durch den Kopf. Ich versuchte, Blickkontakt mit meinen jugendlichen Lebensrettern aufzunehmen - und es gelang mir. Ich stieß nur das Wort ,Dämmerung’, ihnen zugewandt, hervor. Und ich glaubte in ihren Gesichtern Verständnis für das, was ich beabsichtigte, zu erkennen.”

„Am Abend gelang es mir, den Hochspannungssicherheitszaun an einer Stelle kurz zu schließen. Kang wurde jedoch beim Überklettern des zweiten Sicherheitszaunes, der mit rasiermesserscharfen Metallblättern gespickt war, so schwer verletzt, dass die anderen beiden Flüchtlinge mich drängten, ihn zurück zu lassen. Aber ich dachte nicht im Traum daran. Wir verbanden ihn notdürftig. In den nächsten Tagen schleppte ich den ausgemergelten Körper des Jungen huckepack über bestimmt 100 Kilometer immer in Richtung Nordwesten - in Richtung Grenze. Unsere zwei Begleiter schüttelten über mein Verhalten nur den Kopf. Aber ich flehte sie an, uns so viel wie möglich zu Essen zu besorgen und irgendwo Verbandszeug aufzutreiben. Ich weiß bis heute nicht, wie sie es geschafft haben, mit dem rettenden medizinischen Material und reichlich zu Essen plötzlich wieder aufzutauchen. Sie mussten ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben - gebrochene Nasen, zahllose Prellungen und Blutergüsse waren untrügliche Zeichen eines Kampfes. Aber das Schlimmste - so wussten es alle - stand uns noch bevor.

Die Nacht war sternenklar, als wir es durch eine Lücke der Aussengrenze schafften, das Ufer des schnellfließenden Yalu zu erreichen. Wir glitten ins Wasser. Plötzlich Gewehrfeuer - ich wurde getroffen und verlor das Bewusstsein.

Als ich erwachte, lag ich auf einer kleinen Sandbank am Nordufer des Yaluflusses. Über mir ein Höhlendach. Darüber mehrere Meter hohe Wände eines felsigen Steilufers, die sich senkrecht auftürmten und mich vor neugierigen Blicken von oben schützten. Ich sah an meinem Körper herab - ich hatte noch Glück gehabt. Ein Streifschuss am Oberschenkel, ein weiterer an der Hüfte. Besorgnis erregender war ein glatter Durchschuss am Oberarm. Ich drehte den Kopf. Meine drei Begleiter, deren vollständige Namen ich erst jetzt erfuhr, hatten es erneut irgendwie geschafft, Nahrungsmittel und Verbandszeug zu organisieren. Sie hatten sich selbst und mir sogar etwas zum Anziehen mitgebracht.

Als ich aus dem Koma erwacht war begannen sie, mich zu füttern. Mehrere Tage ging das so. Ok Taek-yeon - rundlicher Kopf, kräftig gebaut, immer den Tränen nah, Kang Min - schmales Gesicht, trauriger Gesichtsausdruck, völlig abgemagert und Kim Tae-hui, lange Haare, schlank, namenloser Schmerz in ihrem Gesicht, dachten nicht daran, ihren Lebensretter einfach so zurückzulassen. Endlich, endlich gelang es mir, mit nordkoreanischen Menschen ausführlicher zu reden - und Einblicke in eine Gesellschaft zu bekommen, deren Realität sich als noch wesentlich grausamer entpuppte als das, was ich selbst erlebt hatte.

,Was machen wir jetzt?’, fragten sie mich am Morgen des dritten Tages. Ich wusste, dass ich in Lebensgefahr war - ein verräterisches Pochen in meinen entzündeten Wunden beunruhigte mich sehr.

,Ich brauche eine relativ hochauflösende Karte des Yalus, damit wir hier unerkannt wegkommen.’

Ok und Kang gelang es, eine topografische Karte der chinesisch - koreanischen Grenzregion aufzutreiben. In der darauf folgenden Nacht machten wir uns auf den Weg, entlang der Straße, die parallel zum Grenzfluss auf chinesischer Seite verlief.

Mouad, diese drei haben mir erneut das Leben gerettet. Denn knapp drei Kilometer vor dem Ziel brach ich zusammen - der Blutverlust, die Erschöpfung, die Entzündungen. Sie haben mich genau dorthin getragen, wo ich hinwollte. Und dann harrten sie mit mir oberhalb des Uferbereichs aus, an dem sich ein getarnter Zyklop befand. Ich sagte ihnen, dass wir da unten hinab müssten, auch wenn sich das als freies Schussfeld für die nordkoreanischen Grenztruppen entpuppen sollte. Es wäre unsere einzige Rettung.

Die drei sahen mir vollkommen ruhig in die Augen, fragten nur: ,Bist du dir absolut sicher?’

,Ja!’, entgegnete ich.

Sie hasteten - mich auf dem Rücken - zum vorgegebenen Uferabschnitt hinab. Plötzlich Schüsse. Sandfontänen spritzten auf. Ok und Kang wurden getroffen - wimmernd brachen sie zusammen. Ich schaffte es gerade noch, den Zyklopen zu berühren, den Zugangscode zur Aktivierung des Fluggerätes zu rufen und die Notteleportation zu aktivieren.

Meine drei Lebensretter waren jedoch tödlich verwundet worden. Es gelang mir im letzten Augenblick, ihnen jeweils eine Zellaktivator - Injektion zu setzen, bevor ich mir selbst das rettende Präparat spritzte.

Die Herzen der drei Koreaner schlugen glücklicherweise noch ein paarmal. So wurde der Wirkstoff in ihren Körpern verteilt. Zu diesem Zeitpunkt waren sie jedoch bereits physisch verblutet. Aber auf zellulärer Ebene war der Stoffwechsel glücklicherweise schon so weit verlangsamt, dass die zwanzigminütige Flugzeit zur Intrepid gerade noch ausreichte, um sie noch lebend Krwyssnoggh zu übergeben.”

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