Wasser über Deck und Luken - Seefahrt in den 1950-60er Jahren

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Wasser über Deck und Luken - Seefahrt in den 1950-60er Jahren
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Vorwort des Herausgebers


Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.


Im Februar 1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“:

Seemannsschicksale.

Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch.

Ein Schifffahrtsjournalist urteilte über Band 1: „...heute kam Ihr Buch per Post an - und ich habe es gleich in einem Rutsch komplett durchgelesen. Einfach toll! In der Sprache des Seemannes, abenteuerlich und engagiert. Storys von der Backschaftskiste und voll von Lebenslust, Leid und Tragik. Dieses Buch sollte man den Politikern und Reedern um die Ohren klatschen. Menschenschicksale voll von Hochs und Tiefs. Ich hoffe, dass das Buch eine große Verbreitung findet und mit Vorurteilen aufräumt. Da ich in der Schifffahrtsjournalistikbranche ganz gut engagiert bin, ...werde ich gerne dazu beitragen, dass Ihr Buch eine große Verbreitung findet... Ich bestelle hiermit noch fünf weitere Exemplare... Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit dem Buch, - das wirklich Seinesgleichen sucht...“

oder „...möchte Ihnen zu Ihrem Buch gratulieren ...fahre seit 1960 zur See, seit 18 Jahren als Kapitän bei einer namhaften Reederei. Habe in meiner Sturm- und Drangzeit selbst mal bei Ihnen gewohnt. Drei der von Ihnen beschriebenen Personen sind mir persönlich bekannt... Ein Buch, das die Seeleute der 60/70 Jahre treffend beschreibt.“

Diese Rezension findet man bei amazon: „Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. Danke Herr Ruszkowski.“

Diese Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage ermutigen mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben.

So entstand über die Jahre als Ergebnis meines Rentner-Hobbys diese maritime gelbe Buchreihe.

Im vorliegenden Band 60 können Sie wieder erlebte Begebenheiten aus der deutschen Seefahrt der 1950-60er Jahre nachempfinden.

In diesem Zusammenhang wurde ich bei der Lektüre des Manuskripts wieder einmal an den bekannten Theologieprofessor und langjährigen Prediger auf der Kanzel des Hamburger Michels, Helmut Thielicke, erinnert, der 1958 eine Seereise nach Japan auch auf einem Frachtschiff der Hapag unternahm und seine Erlebnisse an Bord in dem Buch „Vom Schiff aus gesehen“ zusammenfasste. Seine hautnahen Begegnungen auf dieser wochenlangen Reise mit Seeleuten brachten ihn zu dem Bekenntnis, dass ihm eine ganz neue, bisher unbekannte Welt erschlossen worden sei und er nun eigentlich sein kurz zuvor veröffentlichtes Ethikwerk umschreiben müsse: „Ich bemühte mich nach Kräften, offen zum Hören zu bleiben und – so schwer es mir fällt – selbst meine stabilsten Meinungen in diesem thematischen Umkreis als mögliche Vorurteile zu unterstellen, die vielleicht einer Korrektur bedürfen. Ich frage mich ernstlich, was an diesen meinen stabilen Meinungen christlich und was bürgerlich ist… Ich merke, wie schwer es ist, sich im Hinblick auf alles Doktrinäre zu entschlacken und einfach hinzuhören – immer nur hören zu können und alles zu einer Anfrage werden zu lassen... Bei meiner Bibellektüre achte ich darauf, wie nachsichtig Jesus Christus mit den Sünden der Sinne ist und wie hart und unerbittlich er den Geiz, den Hochmut und die Lieblosigkeit richtet. Bei seinen Christen ist das meist umgekehrt.

Hamburg, 2012 / 2015 Jürgen Ruszkowski


Jugendtraum

Die Seefahrt war mein Jugendtraum,

ich hab ihn mir erfüllt.

Bin früh zuhause abgehau’n

hab’s Fernweh mir gestillt.

Wale, Haie und Delfine war’n meine Wegbegleiter;

Sonne, Sterne und Planeten mir treue Reiseleiter.

Vom Nordkap bis nach Feuerland, von Frisco bis Schanghai

hab ich so manchen Sturm erlebt, doch das ist lang vorbei.

Nun bleibt mir die Erinnerung

an eine schöne Zeit.

Ich war so stürmisch, wild und jung

und habe nichts bereut ...


Vorwort des Autors

April.

Von Westen hetzen Wolkenstaffetten über den Hunsrück.

Raue Winde mit kräftigen Schauern im Gefolge.

Und das nun schon seit Wochen – mit nur kleinen Unterbrechungen und winzigen Wolkenlücken.

Einige dieser sonnigen Lichtblicke hatte ich vor Tagen genutzt, um dringliche Gartenarbeiten zu verrichten: Pflanzlöcher ausheben, Bäume pflanzen, Nistkästen basteln und aufhängen, den ersten Grasschnitt in diesem Jahr...

Und es kam, wie es kommen musste, wie es mir fast in jedem Frühjahr passiert, nur etwas heftiger in diesem Fall. Im Eifer des Gefechts hatte ich wohl das eine oder andere Kleidungsstück zu früh abgelegt im Vertrauen auf die wärmende Kraft der Aprilsonne, hatte das eisige Lüftchen unterschätzt und prompt dafür die Quittung erhalte – eine handfeste Erkältung.

Dabei fing alles ganz harmlos an: Dumpfes Gefühl unter der Hirnschale, tränende Augen, kaum spürbares Kratzen im Hals und schließlich der Schnupfen.

Klar, dass so etwas überwiegend nachts stattfindet. Der ersten schlaflosen Nacht folgte ein trübsinniger Regentag, und ich stand mir selbst im Wege.

Nur zu bereitwillig folgte ich dem Rat meiner Frau: „Geh’ ins Bett, zieh dir die Decke über’n Kopf und schwitz dich gesund!“

Ich spürte, wie mein gut funktionierendes Immunsystem allmählich die Betriebstemperatur hochfuhr in einen Bereich, in dem die heimtückischen Invasoren in meiner Blutbahn ihre ständige Paarungsbereitschaft einbüßten und meine körpereigenen Fresszellen mit ihnen aufräumten. So, jedenfalls, stellte ich mir die Heilungsabläufe in meinem Inneren vor.

Während ich also ruhig vor mich hin transpirierte, liefen kleine Erinnerungssequenzen vor meinem geistigen Auge ab: Pubertäre Probleme während der Schulzeit, Fernweh, meine erste Seereise als Schiffsjunge, Gefahren der See, Tod an Bord, Abschied von der Seefahrt, Auszeit und Neuanfang als Landratte, berufsbegleitendes Studium, aufregende Geschäftsreisen, schwierige Verhandlungen mit exotischen Geschäftspartnern, eine gescheiterte Ehe, ein neues Glück ...

Die Erinnerungen an die Seefahrt sind unbestritten mein kostbarster Schatz.

Was ich in meiner Jugend erlebt habe, auf kleiner und großer Fahrt, kann sich kaum jemand vorstellen.

Denkt man heute an Seefahrt, sieht man vor seinem geistigen Auge riesige Containerschiffe mit dem Charme eines Parkhauses oder Kreuzfahrtschiffe, auf denen sich Pauschaltouristen verwöhnen lassen.

Noch heute, bei feuchtfröhlichen Treffen mit meinen ergrauten Freunden von der Christlichen Seefahrt, packen wir regelmäßig die große Seekiste unserer Erinnerungen aus und lassen es richtig krachen.

Selbst wenn wir manche „true story“ im Laufe der Jahre schon mehrfach gehört oder erzählt haben, sind heftige Gefühlsausbrüche noch immer garantiert.

Wie oft schon habe ich daran gedacht, ein Buch zu schreiben über mein bewegtes Leben als Seemann. Ebenso oft habe ich die Gedanken wieder verworfen mangels Gelegenheit, aus Zeitmangel, aus Bequemlichkeit...

Alles Gründe, die für mich derzeit keine Bedeutung mehr haben.

Die Gelegenheit wird nie günstiger sein: Ich habe Zeit, beherrsche das Zehnfingersystem auf der Tastatur, und die Festplatte meines PCs hat ein Übermaß an verfügbarem Speicher.

Ein wenig Bammel habe ich schon, denn wenn ich mir etwas vornehme, führe ich es auch zu Ende.

Basta.

Nun, der Entschluss ist gefasst.

Ich freue mich auf meine aufregende Erlebniswelt.

Sehr hilfreich bei meiner Rückschau sind mir unter anderem die vielen Briefe, die ich als junger Seemann aus aller Welt an meine Eltern geschickt hatte und die meine kluge Mutter gesammelt und mir nach ihrem allzu frühen Tode hinterlassen hat.

Diese warten nun – fein säuberlich abgeheftet – darauf, erneut gelesen und durchlebt zu werden.

Ich werde Sie, liebe Leser, mitnehmen auf große Fahrt. Ich möchte Sie teilhaben lassen an all den Begebenheiten, die für mich von Bedeutung waren und noch sind, die ich selbst erlebt habe und die mir in meinen Träumen oft wieder begegnet sind.

Um mit völliger Unbefangenheit drauflos schreiben zu können, habe ich die Namen aller handelnden Personen geändert und mich hinter einem Pseudonym versteckt.

 

Nun wünsche ich Ihnen vergnügliche Unterhaltung.

Kuddel Senkblei


Bordsprache

der Seemann sagt: der Seemann meint:

der Alte der Kapitän (wenn der’s nicht hört)

der Erste 1. Offizier

der Zweite 2. Offizier

der Dritte 3. Offizier

OA Offiziersanwärter

Chief Leitender Maschineningenieur

2. Ing. 2. Ingenieur

hieven Last hochziehen, heran holen

fieren absenken, nachgeben

Riemen Ruder zum Fortbewegen eines Bootes

Zepter Rudergabel, Lager für Riemen

pullen rudern

anheuern, anmustern Borddienst antreten

Heuer Seemannslohn

Heuerstall, -büro Vermittlungsstelle für Seeleute

einklarieren Schiff abfertigen durch Hafenbehörden

Kombüse Schiffsküche

Polytikus Schöpfkelle

Pütz Wassereimer

Back Tisch in der Messe – auch: erhöhtes Vordeck

Moses, Schiffsjunge Decksjunge, Seemann 1. Ausbildungsjahr

Jungmann Seemann im 2. Ausbildungsjahr

Leichtmatrose Seemann im 3. Ausbildungsjahr

Matrose ausgebildeter Seemann mit Matrosenbrief

Bootsmann Vormann der Decksbesatzung

Chef, Smutje Koch, Küchenchef

Messejunge Bedienungs- und Reinigungskraft

Seemann, Seeleute Personal mit seem./nautischer Ausbildung

Seefahrer, Fahrensleute übrige Besatzungsmitglieder

Kümo Küstenmotorschiff

Dampfer Sammelbegriff für Handelsschiffe

Musikdampfer abschätzig für Passagierschiffe

MS „...“ Motorschiff

TS „...“ Turbinenschiff

NAWK Nordamerika Westküste

ZAWK Zentralamerika Westküste

SAWK Südamerika Westküste

Kommandobrücke, Brücke Ruderhaus mit Kartenhaus

Brückennock freier Raum neben der Brücke

Luke, Ladeluke Laderaum

Gangway, Fallreep Vom Deck an Land führender Laufsteg

Kammer Wohnraum für Besatzung

Kabine Wohnraum für Schiffsleitung, Passagiere

Bauernnacht Nacht im Hafen ohne Ladungsarbeiten

Backbord links, linke Schiffsseite

Steuerbord rechts, rechte Schiffsseite

Tampen Leine, Tauwerk

Auge ringförmiges Tauende, Befestigungsring

Reling Schutzgeländer

Verschanzung stählerne Schutzwand

Speigatt Wasserablauf am Fuß der Verschanzung

Steven, Bug Vorderteil des Schiffes

Achtersteven, Heck Hinterteil

Gang Gruppe von Schauerleuten

Betriebsgang Korridor in Aufbauten

Schauermann Hafenarbeiter

bunkern Treibstoff, Frischwasser übernehmen

löschen entladen

Stückgut Kisten, Ballen, Säcke, Verschläge

Ladung Transportgut

Fracht Beförderungsgebühr

Messe Speiseraum für Mannschaft und Offiziere

Salon Messe für Schiffleitung und Passagiere

Hospital, Apotheke Raum an Bord für Krankenbehandlung

Manta-Gang Unterstützungs-Crew für SAWK-Fahrt

Capataz Vormann der Manta-Gang

Manntau Sicherungstau für Rettungsbootseinsatz

Locker Verschlussraum

Lockergut Wertladung unter Verschluss

Kimm Horizont

Kieker Fernglas

Pantry Anrichte

Seemeile 152 Meter

Kabellänge 1/10 Seemeile = 185,2 Meter

achteraus segeln die Abfahrt des Schiffes verpassen

Geienblock Teil eines Flaschenzuges

Lansch von spanisch lancha: großes Boot

Schwell, Schwellhafen dauerhafte Dünung, betroffener Hafen

Dünung lange Wellen durch konstanten Wind

Windsee durch Wettergeschehen bewegtes Meer

Vorläufer dehnbares Tauwerk am Festmacher

Festmacher Stahltrosse mit Auge zum Festmachen

Fender Puffer zwischen Pier und Schiff

Speiserolle Mindeststandard für Bordverpflegung

Charter Schiffsmiete

Döntjes (wahre?) Geschichten aus dem Leben

Kabelgatt Raum unter der Back für Ausrüstung

Persenning wasserdicht imprägniertes Segeltuch

Mug Becher mit Henkel

Krängung Schräglage des Schiffes

rollen Schiffsbewegung um die Längsachse

stampfen Schiffsbewegung um die Querachse

Schiffsstabilität Aufrichtvermögen in Schräglage

weich, rank Neigung zu langsamer Rollbewegung

steif Neigung zu kurzer, harter Rollbewegung


Mosesfabrik

Schluss damit.

Es reicht jetzt.

Für was soll die Quälerei gut sein?

Meine schulischen Leistungen waren seit einiger Zeit rückläufig. Ich war unkonzentriert, aufmüpfig, vorlaut und unausstehlich.

Als ich meinen Eltern offenbarte, dass ich die Schule schmeißen wolle, bekam ich was zu hören. Von Berufsausbildung war die Rede, von verschenkten Möglichkeiten, von Fleiß, Ehrgeiz und anderen Begriffen, mit denen ich nichts anfangen konnte und wollte.

Ich wollte einfach nur weg – zur See fahren.

So, wie ich es in unzähligen Büchern über Seefahrt, Fischfang und Abenteuer mit Begeisterung gelesen hatte.

Hinaus in die weite Welt.

Bei anderen Jungs an der Oberschule, die kurz vor der Mittleren Reife standen, war das Thema „Berufswahl“ hoch aktuell.

Kurz nach dem Krieg, Deutschland war im Aufbau, wurden Arbeitskräfte überall gesucht. Den Schulabgängern standen alle Türen offen. Heiß diskutiert war besonders der Bergmannsberuf. Hier ließ sich gutes Geld verdienen.

Meine Eltern redeten auf mich ein, wenn schon nicht das Abitur, so doch wenigstens einen Abschluss der Mittleren Reife zu versuchen.

Noch heute bin ich dankbar für diese Überzeugungsarbeit.

Mein Vater, der als reisender Handelsvertreter in Norddeutschland unterwegs war, hatte Kontakt aufgenommen zur Schiffsjungenschule in Elsfleth.

In diesem verträumten Ort waren fast alle Einwohner in irgendeiner Weise mit der Seefahrt verbunden. In kleinen schmucken Häuschen hinter dem Weserdeich wohnten etliche Familien, die einen Kapitän oder Steuermann hervorgebracht hatten. Oder Bootsmann, Matrosen, Heizer oder sonstige Fahrensleute.

Für andere war der örtliche Werftbetrieb das Bindeglied zur Seefahrt. Hier entstanden große Schiffe, die die Weltmeere befuhren.

An der Staatlichen Seefahrtschule in Elsfleth erwarben gestandene Matrosen nach drei Semestern das Patent zum Seesteuermann auf großer Fahrt und später, nach einigen Jahren Praxis an Bord und erneutem Studium, schließlich das Patent zum Kapitän auf großer Fahrt.

Dies, genau dies, war mein Ziel: Kapitän zu werden.

Dafür büffelte ich an der Schule weiter bis zur Mittleren Reife. Als ich mein recht unansehnliches Zeugnis endlich hatte, durfte ich auf die Schiffsjungenschule – offizielle Bezeichnung: Seemännische Berufsfachschule – wechseln.

Dass diese Einrichtung auch despektierlich „Mosesfabrik“ genannt wurde, erfuhr ich erst viel später.

Am 15. Mai 1955 wurden außer mir einige Dutzend milchbärtiger Jünglinge aus der elterlichen Obhut entlassen und zwecks seemännischer Grundausbildung in die Hände altgedienter Ausbilder, alles Fahrensleute, übergeben.

Die Schiffsjungenschule hatte Internatscharakter: Unterricht, Kost und Logis rund um die Uhr, drei Monate lang.

In dieser Zeit wurde uns angehenden Schiffsjungen Zucht und Ordnung beigebracht und was das Leben an Bord fürs Erste an Kenntnissen und Fertigkeiten in Theorie und Praxis erforderte – und einiges mehr.

Frisch eingekleidet in Latzhose, Wolltroyer, Pudelmütze – ein Päckchen Ölzeug mit Südwester und Gummistiefel im Spind – begannen wir uns allmählich wie echte Männer zu fühlen.

Selbstgedrehte Zigaretten gehörten dazu.

Der Unterricht bechränkte sich nicht auf die Theorie. Auch die praktische Seemannschaft, wie der Umgang mit Takelage und Tauwerk, Knoten und Spleißen, kam nicht zu kurz.

Besonders der Bootsdienst stellte uns vor Herausforderungen. Auf dem Bootssteg, zwischen eisernen Davits, hingen zwei schwere hölzerne Rettungsboote.

Auf das Kommando des Bootsmanns wurde einer dieser Kutter klargemacht zum Fieren.

Beim ersten Zuwasserlassen spürte ich, dass trockenes Tauwerk, wenn es schnell durch die Hand rauscht, viel Hitze erzeugt und Haut von der Handfläche mitnimmt.

Rohe Handflächen sind sensibel. Besonders, wenn man damit fest zupacken muss. Das war der Fall, als ich den schweren Riemen ins Zepter heben und auf Kommando pullen musste.

Das Boot, von kräftigen Händen mit Bootshaken ins Fahrwasser gedrückt, wurde von der Strömung erfasst und schnell flussabwärts getrieben.

Keiner von uns Jungen hatte jemals in einem solchen Boot gesessen, geschweige denn einen derart schweren Riemen bewegen müssen. Die Kommandos des Bootsmannes lösten Verwirrung aus.

Einige Bootsinsassen kippten rücklings von den Bänken, andere verloren ihren Riemen – es war das reinste Chaos.

Als wir schließlich einigermaßen geordnet den Ruderkommandos gehorchen und die Riemen im Takt bewegen konnten, war das Boot bereits meilenweit abgetrieben und der Bootssteg außer Sicht.

Hinten im Boot an der Pinne, mit Blick in Fahrtrichtung stand der Ausbilder und schrie die Kommandos, dass ihm der Hals schwoll.

Es dauerte unendlich lange, bis das Boot Fahrt über Grund aufnahm. Der Bootssteg kam näher, und völlig ausgepumpt konnten wir das Rettungsboot schließlich anlegen.

Nie zuvor hatte ich so viele geschundene Handflächen gesehen.

Im Laufe der Wochen veränderte sich unser Aussehen merklich. Blasse Gesichter und schlaffe Haltung waren passé. Die Arbeiten an frischer Luft und der körperliche Einsatz zeigten Wirkung: Schwielige Handflächen, frische Gesichtsfarbe und schwellende Muskelpartien ließen uns wie gestandene Seeleute aussehen.

Dann kam die Zeit der Prüfungen und die Vermittlung der Schiffsjungen an Reedereien und Heuerbüros.

Als einer der Ersten ergriff ich die Gelegenheit, auf einem Kümo anzumustern.

Ahoi Seefahrt – ich komme!


Küstenmotorschiff „APHAIA“

Aller Anfang ist schwer


Küstenmotorschiff „APHAIA“

Ein Dutzend Männer auf einem Kümo – eine Welt für sich: eng, klein und immer in Bewegung.

Mein berufliches Rüstzeug für den Einstieg in das Seemannsleben hatte ich in knapp drei Monaten auf der Schiffsjungenschule in Elsfleth erworben.

Ich hatte mich für diesen Beruf entschieden und schickte mich an, meine erste Seereise anzutreten. Zum ersten Mal fort von Schule und Elternhaus, auf mich allein gestellt in einer mir ungewohnten Umgebung.

Als Moses auf MS „APHAIA“ stand ich nun auf der untersten Stufe der Bordhierarchie.

Ganz oben herrschte der ‚Alte’, wie Kapitäne jeden Alters heimlich genannt wurden.

Es zeigte sich bald, dass die Wirklichkeit an Bord eines Schiffes deutlich anders war als alles, was ich bisher über die Seefahrt gelesen und gehört hatte.

Dass ich bereits am ersten Tag meiner Ausreise für eine sechsstündige, nicht enden wollende Brückenwache eingeteilt war, übertraf meine kühnsten Erwartungen.

Schon auf der Außenweser wurde ich als Rudergänger eingewiesen und musste das Schiff steuern – natürlich unter strenger Kontrolle.

 

Die Kompassrose vor mir tanzte um den Steuerstrich, und ich hatte Mühe, das Schiff auf Kurs zu halten. Doch schnell gewann ich ein Gefühl für die Reaktion des Schiffes, und als ich nach einer Stunde vom Jungmann abglöst wurde, klappte es schon recht gut.

In der Brückennock musste ich nun Ausguck gehen und alle Schiffe und Seezeichen, die in Sicht kamen, dem Steuermann melden.

So ging es Stunde um Stunde im Wechsel mit dem Jungmann.

Sechs Stunden Wache bedeutete sechs Stunden stehen – am Ruder oder auf Ausguck. Eine ganz neue Erfahrung für meine Beine.

Als Wachgänger auf See musste ich zweimal am Tag jeweils für sechs Stunden auf die Brücke. Ein Arbeitstag von zwölf Stunden also. Für einen Jüngling von siebzehn Jahren, der bisher nur die Schulbank gedrückt hatte, ein langer Arbeitstag.

Die Zeit zwischen den Wachen, die Freiwache, verbrachte ich mit Essen, Ruhen, Schlafen, Zeugwäsche und anderen nützlichen Beschäftigungen. Gelegentlich musste ich in meiner Freiwache dem Bootsmann an Deck zur Hand gehen. Bezahlte Überstunden.

In den langen Stunden auf Wache, besonders nachts, kam ich häufig ins Grübeln. Ob ich die rechte Berufswahl getroffen hatte? Wie’s wohl der Familie zu Hause gehen mag?

Dass ich anfangs Heimweh hatte, ließ ich mir nicht anmerken.

Der Steuermann, mit dem ich Wache ging und der sich auf der Brücke alle sechs Stunden mit dem Alten abwechselte, war meist recht schweigsam. Auch er wird in Gedanken bei Frau und Kindern gewesen sein. Kein besonders familienfreundlicher Beruf...

Den Umgang mit Heimweh und Weltschmerz hatte jeder für sich zu bewältigen. Arbeit bis zur Erschöpfung half über finstere Gedanken und ungestillte Sehnsüchte hinweg. Mancher suchte Trost im Alkohol, den es an Bord reichlich und zollfrei gab.

Der Alte persönlich verwaltete das Zollgut. Zu bestimmten Zeiten konnte die Besatzung bei ihm einkaufen:

Zigaretten 5 DM / Stange, Schnaps 3 DM / Liter, Schokolade 1,80 DM / 250-Gramm-Tafel.

Beim Einlaufen in einen Hafen durfte jedes Besatzungsmitglied nur bestimmte Freimengen für den Eigenbedarf besitzen. Diese Waren mussten sie in Zoll-Listen eintragen. Wer bei Stichproben über mehr als die eingetragenen Freimengen verfügte, musste alles abgeben und empfindliche Zollstrafen zahlen.

Da Zigaretten und besonders Alkohol in den skandinavischen Häfen gegen gutes Geld verkauft werden konnten, hatten einige Bordkameraden sich auf das Verstecken von Schmuggelware spezialisiert. Alle Hohlräume an Deck, im Maschinenraum, im Kabelgatt und sonst wo boten vorzügliche Versteckmöglichkeiten – jedoch kaum sicheren Schutz vor der gefürchteten „Schwarzen Gang“. Diese Spezialeinheiten der Zollfahndung fielen plötzlich und unvorhergesehen irgendwann, nachdem das Schiff im Hafen einklariert war, an Bord ein – vorzugsweise zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang.

Mit der Zoll-Liste in Händen stürmten die schwarz gekleideten Männer durch das Schiff – mit Taschenlampen, Haken, Schraubenziehern und Spiegeln bewaffnet – auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Wer glaubte, den Zoll hintergehen zu können, wurde oft eines Besseren belehrt. Die gängigsten Tricks waren den Zöllnern längst bekannt.

An Bord gingen die wildesten Gerüchte um über das Katz- und Mausspiel zwischen Seeleuten und den Fahndern. Eine Geschichte löste schadenfrohe Heiterkeit statt Abschreckung aus:

Ein besonders gewitzter Schiffskoch hatte in einem schwedischen Hafen Abnehmer für alkoholische Schmuggelware. Um eine mögliche Zollfahndung auszutricksen, hatte der Koch am Tage vor der Ankunft des Schiffes einen großen Topf mit Eintopf gekocht. In diese abgekühlte Pampe versenkte er dann einige Flaschen Schnaps. Die Flaschen waren komplett unsichtbar. Der Topf stand auf dem Herd, wo er kurz vor Mittag auch hingehörte.

Ein graumelierter Zöllner hatte bereits Provianträume und Kombüse erfolglos durchsucht und dabei ein auffällig nervöses Verhalten des Küchenchefs registriert. Dessen verkrampfte Freundlichkeit und Schweißperlen auf der Stirn ließen den Verdacht aufkommen, dass irgendwo noch fette Beute zu finden sein musste.

Da er die Kombüse bereits gründlich gefilzt hatte, fiel sein Blick schließlich auf den unscheinbaren Kochtopf auf dem Herd. Der Zöllner trat heran, hob den Deckel, schnupperte die würzigen Düfte des Inhalts, legte den Deckel wieder auf und sagte: „Das ist wohl das Mittagessen für heute?“

Erleichtert bestätigte der Chef: „Ja, das gibt’s heute zu Mittag.“

„Dann wird es aber allerhöchste Zeit, den Eintopf aufzuwärmen, damit die Seeleute nicht unseretwegen hungern müssen“, lächelte der graue Schnüffler mitfühlend.

„Sie haben völlig recht, fast hätte ich das vergessen“, erwiderte der Koch und legte den Schalter auf Heizstufe III.

Wenn der Chef geglaubt hatte, damit sei die Sache ausgestanden, sah er sich getäuscht. Der Zöllner machte keine Anstalten, die Kombüse zu verlassen. Im Gegenteil, freundlich verwickelte er den Koch in ein Gespräch, wobei er mit großer Genugtuung feststellte, dass eine zunehmende Unruhe dem Küchenchef arg zusetzte.

Der Inhalt des Kochtopfs begann zu blubbern.

Eigentlich müsste der Eintopf schon längst umgerührt werden...

Beide wussten das.

Doch der Koch wagte nicht, den Polytikus hineinzutauchen, wohl wissend, welche Geräusche dieser beim Unrühren machen würde.

Das Unausweichliche passierte mit einem kräftigen „Plopp“.

Von einer unsichtbaren Kraft gehoben, flog der Deckel vom Topf auf die Herdplatte, gefolgt von einem Schwall Suppe, der sich zischend auf dem Herd breitmachte und eine vielsagende Duftnote freisetzte.

Mit einem Satz sprang der Koch an den schäumenden Topf, um ihn vom Feuer zu ziehen. Noch bevor dies gelang, ertönten fast simultan zwei weitere Detonationen, eine Flutwelle brandete gegen den Topfrand, gischtete darüber hinweg und erfüllte alsbald die gesamte Kombüse mit einer betäubenden Alkoholwolke.

Sehr zufrieden zückte der Zollfuchs die Checkliste, um rein rechnerisch die Höhe der Zollstrafe zu ermitteln...

Eine herrliche Story, die mich mächtig amüsiert hatte.

Nun, ich war in der Ausbildung zum Kapitän auf großer Fahrt, oder genauer: im ersten Lehrjahr der Ausbildung oder noch präziser, im ersten Monat des ersten Lehrjahres.

Ich hatte noch viel zu lernen – und zwar schnell.


Einige Wochen später.

Nach einer ruhigen Überfahrt von Lübeck lag MS APHAIA im schwedischen Hafen Hälsingborg.

Ich hatte mich – wie meine Bordkameraden – auf See mit Alkohol und Zigaretten eingedeckt und meine Bestände in die Zoll-Liste eingetragen. Hierbei war ich ein wenig kreativ vorgegangen: 120 Zigaretten und eine Flasche Whisky hatte ich schlicht „vergessen“.

MS APHAIA hatte kurz vor Mitternacht angelegt und war gleich von den Behörden abgefertigt worden. Müde und abgekämpft ging ich unter Deck um eine Mütze Schlaf zu suchen.

Unser Schiff hatte die für Kümos typische Bauweise: Auf dem Vorschiff – zwischen zwei Masten – eine lange Ladeluke. Die Aufbauten achtern.

Meine Kammer, die ich mit drei weiteren Seeleuten teilte, hatten die findigen Schiffbauer ganz nach hinten gelegt, knapp über die Wasserlinie und in gute Hörweite zur Hauptmaschine, Rudermaschine und Antriebsschraube.

Die Kammer hatte die ungefähre Form eines rechtwinkligen Dreiecks, wobei zwei Schenkel von Etagenkojen gebildet wurden. Die dritte, längere Seite war die gekrümmte Außenhaut mit zwei Bullaugen und einer Sitzbank darunter.

In der Mitte des Raumes stand ein kleiner dreieckiger Tisch. Unter den beiden Etagenkojen befanden sich jeweils zwei Schubladen, so dass jeder Bewohner der Kammer eine Schublade für seine persönlichen Sachen hatte.

Am Ende der Kammer, gab es einen Kleiderschrank, und im Winkel zwischen den Etagenkojen war die Tür.

In der Kammer war so wenig Platz, dass sich vier Mann nicht gleichzeitig aus- oder anziehen konnten.

Der Chief hatte den Hilfsdiesel aus- und die Stromversorgung für die Nacht auf Batteriebetrieb geschaltet. Das Schiff lag ruhig am Pier. Die Besatzung schlief tief und fest.

Nach dem morgendlichen Weckruf des Bootsmanns hatte der Küchenjunge die Viermannkammer verlassen, um sich im Waschraum anzuziehen. Der Leichtmatrose und ich schlüpften gerade in die Klamotten, als der gellende Ruf „Schwarze Gang!!!“ von Deck aus in den Niedergang zum Mannschaftslogis gebrüllt wurde.

„Verdammt!“

Die Bullaugen waren noch geschlossen und festgeknebelt. Keine Möglichkeit, Schnaps und Zigaretten hinauszuwerfen.

Eilige Schritte dröhnten den Niedergang herab. Ich stopfte meine Whiskyflasche in den Hosenbund, Troyer drüber, Zigaretten in die Taschen – schon wurde die Tür aufgerissen und drei Schwarzgekleidete drängten in den engen Raum.

In diesem Augenblick erwachte auch unser Matrose in der Unterkoje, der sowohl den Weckruf als auch den Warnruf verschlafen hatte. Verwirrt öffnete er die Augen und zog es dann vor, sich tot zu stellen.

Die Zöllner leisteten ganze Arbeit. Anhand der Zoll-Liste befragten sie jeden einzelnen von uns, tasteten uns ab, stellten die Kammer auf den Kopf und förderten alles zutage, was wir zu Geld machen wollten.

Im Salon berechneten die Zöllner am Ende des Überfalls die Strafgebühren, die sie sogleich vom Kapitän kassierten.

So schnell, wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die Zollfahnder auch wieder – es gab schließlich noch mehr Schiffe im Hafen.

Mit einem niederträchtigen Grinsen überreichte der Alte uns die Zahlungsbelege. Er musste nicht viel sagen – alle hatten verstanden, dass Heimatzahlungen aufs Konto erst einmal gestoppt würden.