Wasser über Deck und Luken - Seefahrt in den 1950-60er Jahren

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Meine Zollstrafe betrug 80 Schwedenkronen bzw. 64 Deutsche Mark – mehr als ich in zwei Monaten, ohne Überstunden, verdiente.

„Nie wieder!“, lautete mein Schwur, der bis zum Winter hielt.


Rollentausch

Seit sechs Wochen tat ich bereits Dienst als Moses auf der APHAIA. Für mich waren die körperliche Belastung, durchwachte Nächte und die vielen Arbeitsstunden sehr ungewohnt. Von der gelegentlich hochkommenden Seekrankheit mal ganz abgesehen.

Auf See ging ich mit dem Jungmann und dem Steuermann die Brückenwache von 06 bis 12 und von 18 bis 24 Uhr.

Tags, wenn Sicht und Wetter gut waren und der Steuermann den Ausguck übernahm, war es meine Aufgabe auf der Brücke für Sauberkeit zu sorgen. Fegen, Fenster putzen, Aschenbecher leeren und Messing putzen.

Letzteres war eine eher unangenehme Tätigkeit. Es gab eine Menge Teile aus Messing, wie Fensterrahmen, Kompasshaube, Anzeigeinstrumente, Maschinentelegraf und andere. Feuchtigkeit, salzhaltige Luft und Berührung mit den Händen machten die Oberflächen stumpf und unansehnlich. Hier für Hochglanz zu sorgen, war meine Aufgabe.

Zwischen den Wachen auf der Brücke hatte ich Freiwache. Die nutzte ich zum Essen, Schlafen, Lesen und Briefe schreiben. Gelegentlich machte ich Zeugwäsche in der Pütz: Einweichen, waschen, trocknen, anziehen – ungebügelt.

Wenn an Deck viel Arbeit anstand, musste ich in meiner Freiwache Überstunden machen. Dadurch waren meine Ruhezeiten oft sehr kurz.

Ich war das jüngste Mannschaftsmitglied an Deck. Es gab aber noch einen Jungen, der dem Koch zur Hand ging und auch fürs Saubermachen und Bedienen zuständig war.

Eines Tages sagte mir der Bootsmann, dass der Küchenjunge auch einmal an Deck eingesetzt werden wolle. Ich solle mit ihm für einige Tage die Rolle tauschen, um ihm Gelegenheit zu geben, seemännische Kenntnisse zu erwerben.

Am nächsten Morgen meldete ich mich zum Dienst in der Kombüse. Schon beim Betreten stockte mir fast der Atem. Der Raum war erfüllt mit Dampf und ungewohnten Gerüchen.

Der Koch, den sie an Bord alle „Chef“ nannten, war ein kleines dickliches Männchen mit weißer Mütze und um den Hals ein nasses Schweißtuch.

Er wirbelte in seinem Arbeitsbereich herum. Eine Bierflasche war für ihn immer in Reichweite.

Ich merkte schnell, dass der Chef ständig Durst hatte. Es blieb dann nicht beim Bier. Manchmal griff er auch nach einer anderen Flasche, die er zur Tarnung im Gewürzregal geparkt hatte. Die Zufuhr scharfer Getränke muss wohl mit der Zeit seine Geschmacksknospen weggeätzt haben. Das erklärte auch, dass seine Kreationen oftmals zu stark gewürzt waren, was gelegentlich zu Murren in der Mannschaftsmesse führte.

Wenn ich Kartoffeln zu schälen hatte oder Gemüse putzen musste, ging ich damit an Deck. Hier war die Luft erträglich.

Das Putzen, Spülen und Schrubben hatte allerdings in der Kombüse stattzufinden.

Es widerte mich an.

Als der Koch bemerkte, dass ich ohne Begeisterung bei der Sache war, grinste er und holte zwei große Pfannen vom Haken, die reichlich schwarz und verkrustet aussahen.

„Hier, Moses“, sagte er mit schmierigem Grinsen „bring die mal auf Vordermann!“ Dann verschwand er zum Mittagschlaf in seiner Kammer.

Ich sah mir die Teile von allen Seiten genauer an: Eingebrannte Speisereste innen und außen – fest und hart. Nach dem zweiten Spülgang war mir klar: Das ist hoffnungslos.

Nun kam mir die geballte Erfahrung meines sechswöchigen Brückendienstes zur Hilfe – und siehe da: Nach einer Stunde erstrahlen die Pfannen in neuem Glanz.

Der Koch staunte nicht schlecht beim Anblick der blanken Geräte. Er wollte sie auch gleich in Betrieb nehmen. Für „Chansonettentitten“ wie er die Frikadellen nannte, die er zum Abendessen zubereiten wollte.

Dafür konnte er alle Fleischabfälle und trockenen Brötchen verarbeiten.

Seeleute liebten Frikadellen, besonders wenn der Fleischanteil überwog und das Material gut gewürzt war. In meiner Eigenschaft als vorübergehender Küchenjunge schleppte ich die vollen Schüsseln in die Mannschaftsmesse und staunte nicht schlecht, wie die Maaten darüber herfielen.

Nach dem Essen saßen die Seeleute und einige Männer der Maschinencrew noch bei einer Zigarette und der einen oder anderen Flasche Bier zusammen und unterhielten sich angeregt.

Plötzlich dröhnte ein kräftiger Rülpser über die Back. Es folgten weitere Rülpser von allen Seiten. Die Leute sahen einander an: „Was hat uns der Chef denn da wieder in die Frikadellen gemischt?“

Ein heftiges Bauchgrimmen machte sich breit.

Zwei Mann gingen auf Suche nach dem Koch. Sie fanden in der Kombüse nicht den Koch, wohl aber einen Restbestand an Frikadellen, die der Chef für das Frühstück am nächsten Morgen verwenden wollte.

Die Männer rochen daran und befanden, dass Frikadellen so nicht riechen sollten. Mit der Schüssel machten sie sich auf den Weg zur Kochskammer, ein Deck tiefer. Sie ballerten mit den Fäusten gegen die Tür, die verschlossen blieb. Der Koch war abgetaucht und lag vermutlich vor Angst schlotternd oder total besoffen in der Koje.

In ihrer Wut nagelten die Seeleute dem Feigling drei Frikadellen an die Kammertür – in Form eines Warndreiecks.

Als ich am nächsten Morgen meinen Dienst in der Kombüse antrat, hing der Koch wie ein Schluck Wasser in seinem Stuhl.

Bleich, hohlwangig, die Haare in fettigen Strähnen unter der Mütze hervorlugend, blickte er mich aus roten Augen an: „Womit hast du gestern die Pfannen geputzt?“

In Erwartung eines besonderen Lobes sagte ich stolz: „Mit dem Mittel, das ich auf der Brücke zum Messingputzen nehme: Sidol.“

Ungläubig stierte er mich an: „Raus!“ war das Einzige, was er hervorbrachte.

Mit sofortiger Wirkung fühlte ich mich aus dem Kombüsendienst entlassen und meldete mich beim Bootsmann zurück an Deck.


Der rote Ring

MS APHAIA war mit Stückgut und Autos unterwegs auf der Reise durch die Nordsee nach Norwegen.

Das Wetter war stürmisch. Der Wind hatte die Nordsee aufgewühlt. Das Schiff rollte heftig in kurzer Dünung.

Beim Frühstück mussten in der Mannschaftsmesse feuchte Tücher auf den Tischen ausgebreitet und die seitlichen Schlingerleisten hochgestellt werden, damit Geschirr und Bestecke beim Überholen des Schiffes nicht hinunterrutschen konnten.

Ich hatte mir, wie jeden Morgen, ein kräftiges Frühstück gegönnt: Spiegeleier mit Speck, dazu und danach ein paar Scheiben Brot, zwei Becher Bohnenkaffee – eine gute Grundlage für einen arbeitsreichen Tag.

Nach dem Frühstück war Kammer säubern angesagt.

Anschließend ging ich an Deck, um dem Bootsmann Wassereimer beizuschleppen. Der wusch auf dem Bootsdeck Farbe – eine Arbeit, die immer dann anfiel, wenn wegen schlechten Wetters Instandsetzungen auf dem Vordeck nicht möglich waren.

Heute war ein solcher Tag. Beim Frühstück hatte das Schiff noch gerollt, doch nach einer Kursänderung kam nun die See von vorne. Aus der Rollbewegung war eine Stampfbewegung geworden. Die APHAIA hob bei jeder See den Bug aus dem Wasser und krachte schwungvoll in die nächste Welle. Weiße Gischt fegte von der Back über Deck und Luke bis hoch an die Brückenfenster.

Mit jedem Eintauchen des Buges hob sich das Heck, und die Antriebsschraube kam geräuschvoll schlagend aus dem Wasser.

Der Koch hatte seine Kombüse verlassen und suchte frische Luft an Deck. „Kuddel“, fragte er matt, „merkst du auch schon was?“

Ja, ich merkte was.

Ich schleppte Pützen voll Wasser über die Treppe aufs Bootsdeck, wobei ich große Mühe hatte, mich auf den Beinen und das Wasser in der Pütz zu halten.

Immer häufiger musste ich schlucken. Schweiß trat mir auf die Stirn. Mein Magen tanzte wie wild.

In dieser Situation erinnerte ich mich an meinen Onkel Heinz.

Dieser hatte einige Jahre Dienst bei der Marine abgeleistet. Als er erfahren hatte, dass ich zur See fahren wolle, war er sofort mit guten Ratschlägen zur Stelle. Besonders zum Verhalten bei Seekrankheit hatte er wertvolle Tipps parat: „Also, um den Magen zu beruhigen, musst du zuerst mal den Gürtel enger schnallen. Dann in die frische Luft an Deck und zwar möglichst mittschiffs, wo die Bewegungen des Schiffes am wenigsten spürbar sind...“

Noch bevor ich den Gedankengang zu Ende führen konnte, musste ich mich über die Reling beugen und meinen Mageninhalt in hohem Bogen in den Wind schreiben.

Schräg über mir hörte ich das Röcheln des Leichtmatrosen, der das Ruder fluchtartig verlassen hatte und nun ebenfalls Erleichterung suchte und fand.

Eine Schar Möwen quittierte mit lautem Geschrei den Empfang der vorgekauten Mahlzeiten, die sie aus dem Kielwasser fischten.

Ich ließ mir vom Koch etwas Brot geben, das ich widerwillig hinunter würgte.

„...du musst deinem Magen immer was zu opfern geben“, hatte Onkel Heinz gesagt, „sonst würgst du nur Galle hervor!“

Die Wirkung war verblüffend. Ich fühlte mich gleich viel besser.

In diesem Augenblick schleppte sich ein schlapper Maschinenassistent an Deck, um sein Leben auszuhauchen. In der Hitze des Maschinenraumes, bei Ölgestank und dem Lärm der Hauptmaschine hatte er quälende Stunden seiner Wache ausgeharrt, auf allen Vieren auf den Flurplatten den Tod herbeigesehnt und seinen Mageninhalt verloren.

 

Nun lag er an Deck, röchelnd, mit seelenlosem Blick.

Ich bot ihm Brot.

„Du musst was essen!“ schrie ich ihn an.

Keine Reaktion.

„Wenn du nichts im Magen hast, kommt nur noch Galle – hier, nimm das!“

Regungslose Apathie, lautloses Würgen...

Ich wurde unruhig. Schaum und grünlicher Saft sickerten dem Assi aus den Mundwinkeln.

Für solche Situationen hatte Onkel Heinz auch eine Empfehlung.

Ich stieß den Assi an, schüttelte ihn und schrie: „Wenn du nichts isst und weiter so rumwürgst, kommt gleich nach der Galle der rote Ring! Hörst du? Den musst du aber wieder runterschlucken. Der wird noch gebraucht! Hast du mich verstanden?“

Keine Regung.

„Mensch, das ist dein Arschloch!“

Der Assi zuckte zusammen.

Der Koch kam zur Hilfe. Zu zweit schleppten wir den Reglosen nach mittschiffs, richteten ihn auf und flößten ihm vorsichtig eine warme Kraftbrühe ein.

Langsam kehrten die Lebensgeister zurück in seinen geschundenen Körper. Er beruhigte sich und atmete regelmäßig. Der rote Ring blieb an Ort und Stelle.


Eiszeit

Die nächsten Reisen des MS APHAIA, Anfang 1956, brachten den Winter ins Spiel.

Auf der Fahrt durch die Ostsee in den Bottnischen Meerbusen sanken die Temperaturen Ende Januar weit unter Null. Eisfelder trieben in der See. Immer häufiger traf der Bug der APHAIA auf Eisschollen, die geräuschvoll außen an der Bordwand entlang schrammten. Nur mühsam erreichte das Schiff seinen fast zugefrorenen schwedischen Bestimmungshafen, wo Zellulose für Bremen geladen wurde.

Auf der Heimreise hatte der Eisgang auch in der Ostsee bereits merklich zugenommen, und ein kräftiges Hoch brachte bei strahlend blauem Himmel weiterhin klirrende Kälte.

In Bremen wurde die APHAIA eingedockt und erhielt eine Eisschraube, deren härtere Legierung besseren Schutz gegen das Verbiegen der Schraubenflügel im Eisgang versprach.

Diese neue Schraube, der überfallende Steven mit Eisverstärkung und die ansehnliche Maschinenleistung verliehen dem Schiff die gebotene Eistauglichkeit für eine ganz besondere Mission.

Ein riesiger Schwimmkran kam längsseits und senkte einen 68 Tonnen schweren Glättzylinder für eine schwedische Papierfabrik in die Ladeluke.

Das walzenförmige Teil wurde auf dem Doppelboden abgesetzt und ragte in der Höhe bis knapp unter die Lukendeckel. Der Rest des Laderaumes hinter dem Schwergut wurde mit Bandeisen und Baumwollballen aufgefüllt.

Wieder einmal hieß es: „Leinen los!“

Bestimmungshafen war Oskarshamn, ein kleiner schwedischer Hafen am Kalmarsund.

Schon bald nach dem Passieren des Nord-Ostsee-Kanals nahm der Eisgang zu. Östlich der Kieler Bucht trieben bereits zusammenhängende Eisfelder von beträchtlichem Ausmaß.

Anfangs drückte der überhängende Bug die Schollen mühelos nieder, doch das Eis wurde dicker, und schwere Schollen dröhnten an der Bordwand entlang. Die Schiffsschraube rumpelte heftig beim Zerkleinern der Brocken.

Als ich meine Seewache antrat, reichte eine zusammenhängende, schneebedeckte Eisfläche nach allen Seiten bis an den Horizont. Beim Auftreffen des Buges breiteten sich schmale Risse im Eis blitzartig seitwärts aus. Die APHAIA war langsamer geworden und rüttelte merklich beim Brechen einer Rinne.

Plötzlich kam das Schiff fest.

Maschine Rückwärts.

Stopp.

Maschine Langsam Voraus.

Ganz langsam schob sich der Bug wieder vorwärts.

So ging es über Stunden.

Am Abend reckten ferne Leuchtfeuer ihre Strahlen in den Himmel, der sich unheilvoll verdunkelt hatte. Mächtige Wolkenbänke quollen auf. Plötzlich tanzten erste Schneeflocken um das Schiff. Wind kam auf und trieb mit heftigen Böen gewaltige Schneemassen vor sich her. Im Nu versank das Schiff unter einer weißen Decke, und bizarre Verwehungen bildeten sich auf allen Decks.

Die Sicht war gleich Null.

Selbst das Vorschiff war hinter einem Schneevorhang verschwunden.

Mit gestoppter Maschine verharrte die APHAIA im Eis. An ein Weiterkommen war derzeit nicht zu denken.

Da die Gefahr einer Begegnung mit anderen Schiffen nicht bestand, Küsten und Untiefen in weiter Ferne lagen, ordnete der Alte Nachtruhe an.

Der Steuermann legte sich im Kartenhaus auf das Sofa. Ich hatte die Anweisung, Ausguck zu halten und zu melden, sobald der Schneesturm nachließ und die Sicht wieder freigab.

Nach Sonnenaufgang war der Spuk vorüber.

Während die Decksbesatzung das Deck vom Schnee befreite, nahm die APHAIA wieder Fahrt auf. Sie kam nicht weit. Immer wieder rammte sich ihr Bug im Eis fest.

Schließlich meldete der Alte die Position des Schiffes an eine schwedische Küstenfunkstelle und forderte Eisbrecherhilfe an.

Schon bald meldete sich der schwedische Eisbrecher „ATLE“, der mit einem Konvoi in Richtung Kalmarsund unterwegs war.

Achteraus an der Kimm kam schwarzer Rauch in Sicht. Dann tauchten Masten, Schornsteine, Aufbauten und schließlich die Rümpfe von fünf Schiffen aus dem endlosen Weiß.

Es dauerte lange, bis sich der Eisbrecher mit vier Frachtern im Gefolge der APHAIA bis auf wenige Kabellängen genähert hatte.

Über Sprechfunk gab der Alte dem Eisbrecher die wichtigsten Schiffsdaten wie Bestimmungshafen, Maschinenleistung und sonstige Einzelheiten durch.

Aufgrund der guten Eisklasse sollte die APHAIA an das Ende des Konvois kommen.

Nun erlebte unsere Besatzung ein eindrucksvolles Spektakel: Zuerst ganz schwaches Rauschen, allmählich anschwellend, schließlich krachendes Getöse des brechenden Eises, begleitet vom Wummern der Schiffsmaschinen, Schaben der Eisschollen und dumpfes Rumpeln der Schiffsschrauben durch die Eistrümmer.


So schob sich der Konvoi langsam wie eine feierliche Prozession in geringer Entfernung an uns vorbei.

Dem Eisbrecher folgte ein großer alter Frachter mit geringem Tiefgang und drei Kümos modernerer Bauart.

An Deck der Schiffe: winkende Gestalten, dick vermummt. Rufe ertönten und verhallten unverstanden...


Nach dem Passieren unserer Position klingelten ferne Maschinentelegrafen, der Konvoi kam zum Stillstand.

Von der Spitze setzte sich der Eisbrecher ab und rauschte krachend in weitem Bogen von hinten auf die APHAIA zu.

Scheinbar mühelos pflügte ATLE durch das splitternde Eis, passierte in geringem Abstand an der Steuerbordseite und legte sich vor unseren Bug.

Der Alte erhielt Anweisung zu folgen, und wir wurden an das Ende des Konvois eingefädelt.

Der Eisbrecher setzte sich an die Spitze, und fast gleichzeitig stiegen aus den Schornsteinen der Frachter dunkle Rauchsäulen auf.

Ganz langsam setzte sich der Konvoi in Bewegung...

Es war Ende Februar, als die APHAIA nach aufreibender Eisfahrt durch den Kalmarsund endlich die Hafeneinfahrt von Oskarshamn erreichte.

Der Hafenschlepper „NALLE“ hatte das Eis im Hafen gebrochen und ständig in Bewegung gehalten, wodurch uns ein Anlegen am Liegeplatz möglich war.

Die Temperaturen bewegten sich Richtung minus 30 Grad, Tendenz weiter fallend.

Unsere Hoffnung, nach dem Löschen des Schwerguts mit Eisbrecherhilfe bald wieder auslaufen zu können, bekam einen Dämpfer. Es stellte sich heraus, dass die Hafenkräne nicht nur ungeeignet waren, ein Schwergutteil dieser Güte zu heben, auch war es wegen des Eisgangs unmöglich, einen geeigneten Schwimmkran herbeizuschleppen.

Guter Rat war teuer.

Das Ding musste an Land – so schnell wie möglich, ehe der Hafen komplett zufror.

Es musste improvisiert werden.

Die Vorbereitungen allein dauerten einen ganzen Tag. Schweres Gerät wurde herangeschafft. Lastwagen brachten dicke Holzbalken. Ein Teil unserer Baumwoll-Ladung wurde gelöscht, Balken und Geräte in die Luke gefiert.

Der Plan war wie folgt: Mit Hydraulikhebern sollte der Glättzylinder an einem Ende soweit angehoben werden, bis ein Balken untergeschoben werden konnte. Dann dasselbe Manöver an dem anderen Ende. Bei den nächsten Arbeitsgängen je ein Balken quer auf die untere Balkenlage. Auf diese Weise sollte schließlich der Zylinder auf einem Holzstapel von über vier Metern Höhe aus der Luke ragen und über Stahlträger an Land gezogen werden.

Nach Ablauf des ersten Arbeitstages waren die Gesichter der Verantwortlichen sehr nachdenklich.

Während der Hafenschlepper die dicker werdenden Schollen im Hafenbecken auseinander stocherte, verließen andere Schiffe, die ihre Ladungsarbeiten abgeschlossen hatten, ihren Liegeplatz, um schnell durch den Kalmarsund in die Ostsee zu gelangen.

Der Rundfunk meldete zunehmendes Packeis im Sund. Noch konnten Eisbrecher eine Rinne freihalten...


Am dritten Tag stand fest: Der Plan mit den Hydraulikhebern musste aufgegeben werden.


Inzwischen war bereits die Presse vor Ort gewesen und hatte der Bevölkerung von Oskarshamn und Umgebung in Bild und Wort von dem ungeheuren Schwergut berichtet, dem schwersten Teil, das in diesem Hafen jemals angelandet werden sollte...

Eine Expertenrunde tagte. Ein Teilnehmer erinnerte sich an ein altes Dreibein mit einer Tragkraft von 45 Tonnen, das in einem anderen Teil des Hafens seit Jahren ungenutzt sein Dasein fristete.

Damit könne der Löschvorgang enorm beschleunigt werden und das Schiff noch vor dem endgültigen Zufrieren des Hafens seine Heimreise antreten.

MS APHAIA wurde mit Mühe an die andere Pier verholt, das Dreibein in Betrieb genommen und getestet. Es funktionierte.

Zwar war auch dieses Gerät zu schwach, den Zylinder komplett zu heben, doch gelang es mit diesem viel zügiger, jeweils ein Ende anzuheben und den Balkenstapel in die Höhe zu bringen.

Die Temperaturen hatten mit minus 35 Grad ihren Tiefstpunkt erreicht. Der Hafenschlepper hatte es aufgegeben, das Eis im Hafen zu brechen, und für die Besatzung des Schiffes gab es bald keine sinnvolle Beschäftigung mehr.

Die APHAIA war trotz Dauerbetriebes der Heizungsanlage stark ausgekühlt.

Wenn ich morgens aufwachte, konnte ich mit dem Daumennagel meinen gefrorenen Atem von der Kojenwand schieben...

Der Rundfunk meldete weiter zunehmendes Packeis im Kalmarsund.

Von der anfänglichen Hektik an Bord war nichts mehr zu spüren. Zeit spielte keine Rolle mehr. Sund und Hafen waren zugefroren und unser Schiff zum Bleiben gezwungen.

Der Zoll hatte das Freilager an Bord entsiegelt, und die Besatzung konnte sich mit Wochenrationen für den Eigenbedarf eindecken. Hauptsächlich Zigaretten und Schnaps waren gefragt gegen Kälte und Langeweile.

Kaum waren die Beamten nach erneuter Versiegelung von Bord, tauchten an der Pier vermummte Gestalten auf. Zigaretten und Flaschen wechselten gegen gutes Geld den Besitzer.

Mit den erworbenen Schwedenkronen konnten wir etwas anfangen.

Über das zugefrorene Hafenbecken liefen wir in die Stadt und machten Bekanntschaft mit den freundlichen Einwohnern.

Am Tag elf der Liegezeit war der Glättzylinder endlich an Land. Doch es wollte keine Freude aufkommen, denn der Rundfunk meldete, dass der mächtige Eisbrecher „THULE“, der uns durch den Sund bringen sollte, an dem mehrere Meter hohen Packeis gescheitert war und zur Reparatur in die Werft musste.

Allmählich ließ der strenge Frost nach.

Zu Beginn der siebten Woche kam die erlösende Nachricht: „THULE“ kommt heute.

Am Nachmittag sahen wir eine größere Menschenansammlung am Hafen und angrenzenden Ufern. Die Bevölkerung von Oskarshamn wollte sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen.

 

Am Horizont erschien die dunkle Rauchfahne des Eisbrechers, der sich langsam vorkämpfte, die Hafeneinfahrt passierte und alsbald in der Ferne entschwand.

Schlepper ATLE führte uns aus dem Hafen bis zur Rinne, die der Eisbrecher hinterlassen hatte. Diese hatte sich bereits verengt und war kaum noch zu erkennen.

Mühsam folgten wir ihr, dies ging jedoch nur bei Tageslicht. Nachts herrschte Ruhe. So schafften wir den Weg in die Ostsee, wo wir uns einem Konvoi bis zum Nord-Ostsee-Kanal anschließen konnten...


Frau an Bord

An der APHAIA arbeitete nur noch ein Kran, der unermüdlich seinen langen Hals über die Luke drehte und schlingenweise Stückgut in den Laderaum hinabließ. Am Lukenrand – im Sichtfeld des Kranführers – stand ein beleibter Lukenviez, der den Laderaum überblickte und mit sparsamen Gesten die Bewegungen des Kranhakens dirigierte: hieven, fieren, vor, zurück, landseitig, wasserseitig, fest.

In der Luke schlugen Schauerleute ihre Stauhaken in die Holzkisten, wuchteten diese aus der Schlinge heraus und an geeignete Stelle unter Deck, wo sie mit anderen Stückgütern und Stauholz einen seetüchtigen Verbund herstellten. Der Kranführer, der von seiner Kanzel keine Sicht in den Laderaum hatte, musste sich auf die routinierten Handzeichen des Lukenviezes verlassen.

Dieser reckte seinen Daumen hoch. Keine Reaktion. Nochmals Daumen hoch. Der Kranhaken rührte sich nicht von der Stelle. Der Lukenviez sah hoch zum Kranführer, doch dieser beachtete ihn nicht. Der Lukenviez folgte der Blickrichtung des Kranführers und entdeckte sogleich den Grund für den ins Stocken geratenen Arbeitsablauf: Eine Frau an der Kante der Kaimauer, in der Rechten einen Handkoffer, an der Linken einen Jungen.

Nun ist schon die Anwesenheit einer Frau an sich in der Männerwelt des Hafenbetriebes eine kleine Sensation. War sie gutgewachsen und elegant gekleidet wie diese, konnte sie in einem flottdrehenden Räderwerk durchaus eine Unwucht erzeugen. Ganz offensichtlich wollte die Dame mit ihrem Jungen an Bord der APHAIA gelangen. Zwei Umstände jedoch machten das Vorhaben zu einem echten Problem. Erstens war die Frau sechs Stunden zu früh oder sechs Stunden zu spät am Kai. Es herrschte nämlich Niedrigwasser im Europahafen. Zweitens hätte sie statt des eleganten Kostüms doch besser einen Hosenanzug tragen sollen. Wie sollte sie in diesem Aufzug auf das Schiff gelangen, dessen Deck sich gut fünf Meter unter ihrem Standort befand?

Offensichtlich hatte sie auf diese Frage noch keine Antwort gefunden, allein der Blick in die Tiefe war furchterregend genug. Ein wenig hilflos schaute sie sich um. Zwei Hafenarbeiter kamen hinzu, hilfsbereit, höflich. Sie wiesen auf die senkrechte Kaileiter, die für solche Zwecke zu benutzen war. Während noch die Frau auf den Jungen einsprach, der eifrig nickte, wurde der Koffer bereits an einem Tampen an Deck hinabgelassen. Die Frau richtete sich auf, blickte auf das Schiff hinunter, sah die Schauerleute in der Luke hantieren und trat, tief durchatmend, an die Leiter.

Sie wusste, ihre Lage war misslich. Sie wollte es kurz machen, möglichst ohne Aufsehen zu erregen. Ein wenig trotzig zog sie den Rock über die Knie und stellte sich mit dem Rücken zum Schiff in gebückter Haltung auf die erste Leiterstufe, beide Hände festen Halt suchend und findend. Zögernd tastete ihr linker Fuß nach der nächsten Stufe, ihr rechtes Knie beugte sich, der Rocksaum rutschte hoch und – den Schauerleuten in der Luke stockte der Atem.

Es ist hinlänglich bekannt, dass Bremer Schauerleute von nobler hanseatischer Gesinnung sind und dass sie sich in manchen Situationen durchaus angemessen benehmen können. Entweder waren diese Männer nicht von Bremen, sondern Zugewanderte aus der Provinz oder diese Situation war so überwältigend oder das Unangemessene ihres Benehmens war ihnen nicht bewusst, da einer von ihnen beim Blick nach oben genüsslich die Zunge schnalzte und die anderen verhalten johlten.

Der Abstieg der Dame offenbarte schonungslos die Schönheit ihrer wohlgeformten Beine, die sehr lang waren, besonders oben herum. Die heiser geraunten Kommentare und anzüglichen Bemerkungen aus dem Laderaum konnten durchaus als Ovation gewertet werden.

Der Kranführer, aus dessen Sichtfeld die Dame auf halber Höhe der Leiter bereits entschwunden war, wollte seine Arbeit wieder aufnehmen, doch die Hand des Lukenviezes umklammerte reglos das Lukensüll. Hingerissen verfolgte dieser den langsamen Abstieg.

Dort, wo die Kaileiter hinter der Verschanzung des Schiffes weiter hinabführte, war eine vierstufige Treppe mit Handlauf an Deck aufgestellt. An dieser stand, den Blick aufwärts gerichtet, der Küchenchef in seiner weißen, adrett gebügelten Arbeitskleidung. Sein hochroter Kopf verriet, dass ihm die Vorstellung mehr als peinlich war. Er reckte seine Arme hoch, um handfeste Hilfestellung zu geben. Als die Frau endlich an Deck stand und noch verlegen ihre Kleider ordnete, folgte behände der Junge. Beide wurden an Bord vom Smutje herzlich begrüßt und schnellstens unter Deck geführt.

Der Kranführer suchte Blickkontakt zum Lukenviez, der allmählich aus seiner Erstarrung erwachte und hochblinzelte. Sie sahen einander an, grinsten und waren sich einig: Trotzdem (ein anderes Bindewort wie z. B. „obwohl“ käme dem Bremer an dieser Stelle nicht in den Sinn.) sie eine Frau ist, hat sie´s geschafft – alle Achtung!

So sind sie, die Bremer – typisch hanseatische Denkungsart.

Daumen hoch...

Der Koch hatte von der Reederei die Erlaubnis erhalten, Frau und Sohn bis Liverpool mitzunehmen – kein gutes Omen für die bevorstehende Reise.

Unter Seeleuten war der Aberglaube verbreitet, dass Frauen an Bord Unglück bringen. Jedes noch so kleine Missgeschick während einer Reise wurde ganz selbstverständlich der Anwesenheit weiblicher Fahrgäste zugeordnet.

Die Gespräche am Abend in der Mannschaftsmesse drehten sich um nichts als dieses Thema. Die Meinungen waren geteilt. Die jungen Seeleute erwiesen sich als tolerant, die älteren, voran der Bootsmann, zeigten sich skeptisch. „Hoffentlich kriegen wir Schlechtwetter, dann bleiben die wenigstens unter Deck“, lautete sein abschließender Kommentar.

Schon auf der Höhe von Nordenham wurde die Weser rau. Es blies ein frischer Wind aus nordwestlicher Richtung. Nach dem Absetzen des Lotsen in Bremerhaven, als die APHAIA langsam auf volle Umdrehungen ging, frischte der Wind weiter auf. Die Wellen trugen Schaumkronen. Salz lag in der Luft. Norddeich Radio gab Windwarnung.

Auf den Seestraßen, entlang der Kette ostfriesischer und westfriesischer Inseln, stampfte die APHAIA bei Westwind der Stärke 7 – 8 gegen die kurzen Wellen der Nordsee. Ihr Bug setzte hart ein, Gischt fegte über das Vorschiff. Wache um Wache verging, das Schiff kam nur langsam voran.

Bei der Ansteuerung des Englischen Kanals – auf südwestlichem Kurs – kam die See von Steuerbord vorn. Die APHAIA schlingerte unter heftigem Rollen von einem Wellenkamm zum nächsten. Aus dem Laderaum klang dumpfes Schlagen bei jedem Überholen.

Küstenfunkstationen gaben Sturmwarnung.

Der Koch kümmerte sich voller Hingabe um seine Passagiere. Diese hatten nur den Anfang der Reise, bis etwa Bremerhaven, genießen können und sich dann unter Deck begeben. Hier lagen sie nun jammernd in ihren Kojen und verweigerten die Nahrungsaufnahme. Dabei hatte der Chef sich vorgenommen, seine Lieben an Bord mit allerlei Köstlichkeiten besonders zu verwöhnen. Doch jedes Mal, wenn er sorgenvoll die Kammer betrat, schlug ihm säuerliche Schwüle entgegen. Von heftigen Brechreizen gepackt, leerte er die Fangschüsseln, die seine Fahrgäste umklammert hielten und verteilte angefeuchtete Handtücher. Sodann verließ er fluchtartig die Stätte des Leidens und trank mit vollen Zügen die salzfeuchte Luft an Deck.

An diesem Abend, als ich zum Wachbeginn auf die Brücke kam, hatte der Wind unter dem Schutz der Britischen Insel zunächst merklich abgeflaut. Doch bei der Annäherung an die Straße von Dover nahm er wieder zu. Ein kräftiges Tief zog vom Atlantik ostwärts in den Trichter des Englischen Kanals und entwickelte sich dort schnell zu einem ausgewachsenen Sturm mit Orkanböen.

Der Alte war überrascht. Mit dieser dramatischen Entwicklung des Wetters hatte er nicht gerechnet.

Vielleicht hätte er den Bootsmann fragen sollen. Der wusste Bescheid. Schon in dem Augenblick, da die Frau des Küchenchefs die Schiffsplanken unter ihren Füßen spürte, waren die Weichen für eine unheilvolle Reise gestellt. Unausweichlich.

Für das Anlaufen eines Schutzhafens war es zu spät. Bei der hochgehenden See musste großer Abstand von Küsten, Klippen und Untiefen gehalten werden. Die Nacht war finster. Die Topplaterne im Vormast warf Lichtkegel in die feuchte Luft. Der Sturm heulte in den Masten und trieb Gischtsalven gegen die Brückenfenster.