Buch lesen: «Kardinäle, Künstler, Kurtisanen», Seite 3

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ARNE KARSTEN

Der Botschafter und der Mörder

Innozenz X. schäumte vor Wut. Selbst seinen engsten Mitarbeitern, jenen Angehörigen der famiglia, die täglich mit ihm zu tun haben und deshalb an die cholerischen Zornesausbrüche des Papstes nachgerade gewöhnt sind, hatte das heutige Schauspiel die Sprache verschlagen. Dabei war der Tagesbeginn zunächst scheinbar friedlich und formvollendet gewesen. Der französische Botschafter Henry d’Étampes-Valençay hatte sich zur Audienz im Quirinalspalast eingefunden, mit jenem pompösen Gefolge, das ein Vertreter der französischen Krone sich und seinem Herrn schuldig zu sein glaubte, und vielleicht sogar noch ein wenig mehr. Denn die Beziehungen zwischen dem regierenden Papst Innozenz X. Pamphili und Frankreich waren schlecht. In Paris warf man ihm die einseitige Begünstigung der Spanier vor, mit denen die Franzosen um die Vorherrschaft in Europa kämpften, wie auch um den größeren Einfluss an der römischen Kurie. Innozenz X. seinerseits betrachtete die französischen Versuche, die Politik des Papsttums zu beeinflussen, als unerträgliche Anmaßung.

Kein Wunder also, wenn sein Verhältnis zu d’Étampes-Valençay alles andere als herzlich war. Und der Botschafter tat nichts, um es zu verbessern. Im Gegenteil: auch bei dieser Audienz hatte er die endlosen Höflichkeitsrituale, die ein Gespräch mit dem Papst einzuleiten pflegten, in einem von ihm zur Perfektion entwickelten Ton provokativer Arroganz vorgetragen, der den ohnehin leicht erregbaren Papst zur Weißglut trieb. Und dann war das Gespräch auch noch auf die Barberini gekommen!

Innozenz’ X. direkter Vorgänger auf dem Stuhl Petri, Urban VIII., aus dem Hause Barberini, hatte sich seiner eigenen Familie gegenüber nicht anders benommen als die übrigen Päpste des 16. und 17. Jahrhunderts: großzügig. Das war nicht nur normal, sondern wurde von den Zeitgenossen sogar als moralisch anständiges Verhalten gewertet, schließlich konnte eine Karriere an der Kurie nur gelingen, wenn sie von der ganzen Familie getragen wurde. So war es nicht mehr als recht, sich dafür erkenntlich zu zeigen, wenn man zu höchsten Würden aufgestiegen war. Freilich durfte diese Erkenntlichkeit, um moralisch geboten oder auch nur vertretbar zu erscheinen, gewisse Grenzen nicht überschreiten, und Urbans Verwandtenförderung hatte alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt. Der Grund dafür lag weniger in besonders rücksichtslosen Bereicherungsmethoden als in der ungewöhnlich langen Dauer des Barberini-Pontifikates: Einundzwanzig Jahre lang flossen kirchliche und staatliche Einnahmen des Papstes zum guten Teil in die Taschen seiner drei Neffen, der Kardinäle Francesco und Antonio sowie Don Taddeos, der nach der Heirat mit Anna Colonna, aus ältestem römischen Adel stammend, der weltliche Chef des Hauses war.

Reich und mächtig also waren die Barberini während der Herrschaft ihres Familienpapstes geworden – und hatten sich dabei unvermeidlicherweise eine Vielzahl von Feinden geschaffen, die nur darauf warteten, den Parvenüs die Grenzen zeigen zu können. Die Gelegenheit kam mit dem Tod Urbans VIII. und der Wahl seines Nachfolgers. Jetzt schlug die Stunde all der Zurückgesetzten, Benachteiligten, Verbitterten, die einundzwanzig Jahre lang im Schatten gestanden hatten. Die Frage nach dem Verbleib astronomischer Summen wurde gestellt, immer lauter, immer drängender. Im Sommer 1645 setzte der neue Papst Innozenz X. eine Untersuchungskommission ein, und kurz danach gelangte der besonders kompromittierte Kardinal Antonio Barberini zu der Überzeugung, dass es klüger sei, sich aus dem Staub zu machen. Bei Nacht und Nebel verließ er ohne päpstliche Genehmigung Rom. Es war eine kaum noch bemäntelte Flucht. Seine Brüder hielten ein wenig länger aus, aber im Januar 1646 flüchteten auch sie gen Frankreich. Am Hof des französischen Königs hofften sie auf Asyl, hatten sie doch in den Jahren ihrer Herrschaft stets ein gutes Verhältnis zu Frankreich gepflegt. Nicht nur eine Pikanterie am Rande, sondern aufschlussreich für die gesellschaftlichen Strukturen der Epoche ist der Sachverhalt, dass es sich bei jenem französischen Premierminister, in dessen Schutz sich die Barberini flüchteten, um eine ihre ehemaligen Kreaturen handelte. Jules Mazarin war nämlich als Giulio Mazzarini geboren worden und hatte seine steile politische Karriere als Angestellter der Barberini begonnen, ehe er, gewiss aufgrund der interessanteren Aufstiegschancen, in den Dienst der französischen Krone gewechselt war. Nunmehr konnte er sich als Protektor seiner ehemaligen Herren bewähren – oder aufspielen.

In jedem Fall war Mazarin von dieser Konstellation begeistert. Mit den Barberini hatte er einen hervorragenden Vorwand im Hause, sich in die Politik des Kirchenstaates einmischen zu können, und das tat er mit großer Entschlossenheit. Seine Politik zielte darauf, den Papst zu einer Amnestierung der Barberini zu bewegen: damit würde alle Welt sehen, wie weit die französische Macht reichte. Umgekehrt wollte Innozenz X. genau aus diesem Grund von Amnestie nichts wissen. Er war der Herr im Kirchenstaat und nicht im mindesten gesonnen, sich von anderen Mächten in innere Angelegenheiten hereinreden zu lassen.


Diego Velázquez, Porträt Papst Innozenz’ X. Pamphili, Galleria Doria-Pamphilj, Rom

Diego Velázquez, als spanischer Hofmaler wiederholt in Italien, schuf das Porträt des Pamphili-Papstes im Jahre 1650. In der Wahl des Malers drückte sich nicht zuletzt die politische Ausrichtung des Papsttums in diesen Jahren aus: Innozenz X. (1644–1655) setzte zu Beginn seiner Herrschaft eindeutig auf ein gutes Verhältnis zu Spanien; entsprechend schlecht entwickelten sich die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich. Eindrucksvoll kommt in dem Bild die Verschlagenheit des für seine Stimmungsschwankungen und unkontrollierten Wutausbrüche berüchtigten Pontifex zum Ausdruck, der bei der Enthüllung des Bildes gesagt haben soll: „Troppo vero“ – „Zu wahr!“

Kein Wunder also, dass Innozenz X. auf die Ausführungen des Botschafters d’Étampes-Valençay mit Unwillen reagierte, als man auf die Barberini-Affäre zu sprechen kam. Das war allerdings nicht der einzige Grund für seinen Wutanfall. Vielmehr hatte der Papst vor ein paar Tagen erfahren, dass d’Étampes im Botschaftsgebäude einem lange gesuchten Berufskriminellen und mehrfachen Mörder Unterschlupf gewährte. Das klingt für unsere Ohren unglaubwürdig, war aber im Rom des 17. Jahrhunderts nicht gar so sensationell. Wenn man dem päpstlichen Stadtherren die Grenzen seiner Macht vor Augen führen wollte, war die Beherbergung von Kriminellen keine schlechte Methode. So dachte sich auch d’Étampes und ließ für den Banditen sogar einen versteckten Verschlag zimmern. In den folgenden Wochen war die Gegend um die französische Botschaft ein gefährliches Pflaster. Eines Morgens fanden Passanten im Morgengrauen vor dem Tritonenbrunnen einen abgeschlagenen Kopf, der so entsetzlich zugerichtet war, dass er nicht einmal identifiziert werden konnte. Wenig später wurde ein Soldat der päpstlichen Truppen in derselben Gegend umgebracht.

Schließlich aber kamen die päpstlichen sbirri (wörtlich: Häscher, die frühneuzeitlichen Vorläufer der Polizei im Kirchenstaat) dem Banditen auf die Schliche. Auf seinen Kopf war inzwischen die beachtliche Summe von 300 scudi ausgesetzt, etwaigen Denunzianten vollkommene Anonymität zugesichert worden. Unter diesen Umständen waren sogar einige Botschaftsangestellte zur Aussage bereit, die nicht nur die Anwesenheit des Verbrechers bestätigten, sondern den Bütteln des Papstes auch noch sein Versteck verrieten, „denn um das Kopfgeld zu bekommen kümmerte man sich nicht um die Schande, für einen Verräter gehalten zu werden und einen Rebellen gegen seinen Herrn“.

Innozenz X. war sich seiner Sache also zu Recht sicher, als er in seiner Wut dem französischen Botschafter an den Kopf warf: „Nehmt zur Kenntnis, dass wir Berichte und Beweise haben, dass sich in Eurem Palast Verbrecher aufhalten!“ Und wie hatte d’Étampes darauf reagiert? Nicht etwa mit Verlegenheit oder gar einer Entschuldigung, sondern mit entrüstetem Leugnen! Dergleichen war unerhört? Innozenz verlor den Rest seiner Fassung. Es fehlte nicht viel, und der fünfundsiebzigjährige Greis hätte sich auf sein Gegenüber gestürzt. Die Audienz endete mit der brüsken Verabschiedung d’Étampes, und noch bevor der Botschafter den Quirinalspalast verlassen hatte, rief der Papst den Chef der Stadtverwaltung, den governatore di Roma, Monsignore Girolamo Farnese, zu sich. Hier galt es, ein Exempel zu statuieren, und zwar ein weithin sichtbares. Wenn d’Étampes-Valençay glaubte, er könne den päpstlichen Ordnungskräften auf der Nase herumtanzen, so würde es höchste Zeit, ihn eines Besseren zu belehren!

Der Plan, den der greise Papst und der governatore di Roma nun fassten, war ebenso schlicht wie spektakulär: er sah nicht weniger als die Erstürmung der französischen Botschaft vor, mithin die Verletzung der diplomatischen Immunität, um den Verbrecher festnehmen zu können. Zu diesem Zweck würde man nicht nur ein paar sbirri losschicken, sondern ihnen zur Rückendeckung 150 Mann der päpstlichen Garde mitgeben. Die Soldaten waren in drei Gruppen zu 50 Mann aufzuteilen. Jede Gruppe hatte eine der Zugangsstraßen zur Botschaft zu sperren und erhielt zu diesem Zweck auch gleich noch ein leichtes Feldgeschütz. War die französische Botschaft auf diese Weise isoliert, sollten die sbirri ohne Vorankündigung das Tor des Palazzo aufsprengen, das Personal festsetzen und sich auf die Suche nach dem Mörder machen, ihn festnehmen und daraufhin zum Quirinal gehen, um ihn dem Papst vorzuführen. Der würde in diesem Moment gerade d’Étampes zur Audienz empfangen und ihm das menschliche Corpus Delicti zeigen, wenn es an den Fenstern des Audienzzimmers vorbeigeführt wurde. Kein Zweifel, das würde Eindruck machen! Und bei dieser Gelegenheit konnte Innozenz dem Botschafter nicht nur sein Vergehen vorwerfen, sondern den arroganten Kerl auch gleich aus Rom ausweisen.

Gesagt, getan: als d’Étampes einige Tage später erneut zur Audienz erschien, wurde der Plan in die Tat umgesetzt. Die Tore der französischen Botschaft waren kaum gesprengt, als die sbirri auch schon das gesamte Botschaftspersonal festnahmen, damit es nicht etwa den Hausherrn benachrichtigen konnte. Dann machte man sich daran, das beschriebene Versteck zu suchen, wo man den Verbrecher in ahnungslosem Schlaf antraf, ihn sich in aller Eile ankleiden ließ, fesselte und zum Quirinal abführte. Da von Seiten der völlig überraschten Franzosen keinerlei Widerstand geleistet wurde, brauchten die Soldaten nicht einzugreifen und auch der Einsatz der Feldgeschütze in den engen Straßen Roms unterblieb.

Als der Papst die Prozession der sbirri mit dem Delinquenten in ihrer Mitte sah, rief er den Botschafter ans Fenster und machte seine Vorsätze wahr, indem er ihn ins Gesicht einen Lügner nannte, und, besonders tödlicher Vorwurf in der auf Etikette bedachten höfischen Gesellschaft, einen schlechten Edelmann. D’Étampes war tatsächlich für einen Augenblick sprachlos, erst recht als ihm bedeutet wurde, er habe drei Stunden Zeit, um Rom, sechs Stunden, um den Kirchenstaat zu verlassen. Doch war es eher ein Schweigen der Wut als der Beschämung. Kaum in der Botschaft zurück, schickte er einen Eilboten los, der die Nachricht vom Skandal nach Paris bringen sollte. Daraufhin verließ er wie befohlen Rom.

Der Nachrichtenverkehr im 17. Jahrhundert war für unsere Begriffe äußerst langsam; selbst ein hoch bezahlter Eilbote brauchte unter günstigen Bedingungen rund zehn Tage von Rom nach Paris. Es versteht sich, dass d’Étampes der Ansicht war, die Ereignisse würden die Sendung eines solchen rechtfertigen. Die Antwort des französischen Königs kam denn auch rasch, und sie fiel aus, wie d’Étampes es erhofft und erwartet hatte. In hochoffizieller Empörung über die Verletzung der diplomatischen Immunität wurde verlangt, der Papst solle unverzüglich Genugtuung leisten, und zwar indem er zuallererst den Botschafter nach Rom zurückrufe, zweitens die am Übergriff auf die Botschaft beteiligten sbirri öffentlich hinrichten lasse und drittens den governatore der Stadt Rom nach Paris schicke, damit er dort offiziell den König um Entschuldigung bitte.

Der Papst war erneut außer sich. Hatte er nicht mit seiner Polizeiaktion lediglich das Recht, ja die Pflicht eines verantwortungsbewussten Landesherren ausgeübt? War nicht auf dem Botschaftsgelände tatsächlich ein notorischer, steckbrieflich gesuchter Mörder gefasst worden? Und hatte d’Étampes-Valençay schließlich nicht nur mit dessen Aufnahme gegen Recht und Gesetz verstoßen, sondern ihn darüber hinaus auch noch angelogen? Der Wutausbruch war verständlich und ebenso die nächste Reaktion Innozenz’ X. Gegenüber dem Überbringer des französischen Forderungskataloges, Henri Arnauld, Abt von S. Nicola, lehnte er es kategorisch ab, über eine Rückkehr d’Étampes in die Ewige Stadt auch nur zu verhandeln. Die unerträgliche Arroganz und maßlose Unverschämtheit des Diplomaten wolle er an seinem Hof nicht mehr dulden.

Das mochte vielleicht verständlich sein, gefiel aber den führenden Politikern in Paris, zumal dem Kardinal Mazarin, nicht im allermindesten. Die Affäre nahm nunmehr eine bedrohliche Wendung. Frankreich sandte 12000 Mann frischer Truppen zur Belagerung der südtoskanischen Hafenstadt Orbetello, um deren Besitz man sich seit längerer Zeit mit Spanien stritt. Es war bisher ein einigermaßen lustlos geführter Nebenkrieg des ganz Europa erschütternden Konfliktes zwischen den beiden Großmächten, der sich schon einige Jahre matt und ereignisarm in die Länge zog, nun aber mit einem Schlag an Interesse gewann. Denn Orbetello lag ganz in der Nähe des Kirchenstaates. Mazarin ließ dem Papst ausrichten, dass die frischen Truppen für einige Unruhe im Kirchenstaat sorgen könnten, wenn dem König nicht Genugtuung geleistet werde. Das war eine kaum noch verhüllte Kriegsdrohung. In Rom bekam man Angst. Eine Reihe von Kardinälen wies den Papst auf die kaum abschätzbaren Gefahren hin und auch Angehörige des römischen Adels drängten mit Nachdruck auf eine diplomatische Lösung.

Zähneknirschend gab Innozenz X. nach, erklärte sich zu neuen Verhandlungen bereit – und musste feststellen, dass die Franzosen inzwischen eine neue Forderung erhoben: die Amnestierung der Barberini-Brüder! Es war damit endgültig klar, dass die Genugtuungsforderungen für die Verletzung der Botschaftsimmunität nur ein Vorwand für die Demütigung des Papstes war, aber was nützte den Römern alle moralische Entrüstung. Die Macht in Form der stärkeren Bataillone war auf Seiten der Franzosen und hat noch selten nach Recht und Moral gefragt. Wenn der Papst glaubte, längst überholte Suprematieansprüche erheben zu können, so war es aus Sicht des Pariser Hofes höchste Zeit, ihn über die realen Machtverhältnisse aufzuklären.

Die Lektion fiel bitter aus. Innozenz’ X. Kompromissvorschlag, den inzwischen nach Rom zurückgekehrten und weniger belasteten Kardinal Francesco Barberini wieder in seine Ämter einzusetzen, nicht jedoch den besonders frankophilen Antonio, wurde rundweg abgelehnt. Vollständige Rehabilitierung beider Kardinäle, so lautete die kategorische Forderung, und am Ende wurde sie erfüllt. Damit endete die Affäre, eine der vielen diplomatischen Niederlagen, die das Papsttum im 17. Jahrhundert erlitt und die seinen unaufhaltsamen Abstieg von einer europäischen Großmacht zu einem italienischen Kleinstaat markierten. Selbst die persönliche Demütigung blieb Innozenz X., der den Kampf so vermessen-hochgemut begonnen hatte, nicht erspart. Henry d’Étampes-Valençay, den arroganten französischen Botschafter, musste er nach Rom zurückrufen und sich weiterhin während der Audienzen über dessen Unverschämtheiten ärgern.

VOLKER REINHARDT

Der Sanierer

1676 waren die guten Jahre am Tiber lange vorbei. Im Westfälischen Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, den konfessionellen Ausgleichszustand in Deutschland und eine europäische Friedensordnung festschrieb, wurde der Papst nicht einmal erwähnt. Es war wohl auch besser so. Denn er war nicht einverstanden, im Gegenteil. Doch die römischen Proteste gegen diese dauerhafte Aufwertung der ‘Ketzer’ kümmerten die führenden Mächte nicht mehr. Aus päpstlicher Sicht noch fataler: sie betrieben Religionspolitik jetzt zunehmend in eigener Regie. Dass die Kirche ein Teil des Staates, ja dessen Behörde und daher den Anweisungen des Herrschers unterworfen sein sollte, diese Überzeugung bricht sich vor allem in Frankreich Bahn; dort regiert mit Ludwig XIV. ein König, der eine hohe Auffassung von seinem Rang und seinen Rechten hegt. Für den Papst bleibt in seiner Sicht der Dinge wenig mehr als ein formaler Ehrenvorrang. Aber auch dieser ist in Gefahr, mehr noch: die römische Ehre insgesamt. Seit zwei Jahrzehnten zirkulieren auf dem europäischen Buchmarkt anzügliche Broschüren, die dem interessierten Publikum Blicke hinter kuriale Vorhänge verheißen, Motto: toll treiben es die Nepoten.

Vor allem aber krankt Rom ökonomisch. Im Klartext: der Kirchenstaat ist finanziell ruiniert, seine Wirtschaftskraft stark geschwächt – und die Ursache für diese Misere so simpel wie heutzutage aktuell. Man hatte über seine Verhältnisse gelebt. Sprich auf Pump. Oder um es anklagender auszudrücken: man hatte das Vermögen der nächsten Generation gleich mit ausgegeben. Und noch eine gewisse Parallele zur Gegenwart drängt sich auf: die Hoffnung auf einen Wirtschaftsboom, welcher durch ein steigendes Bruttosozialprodukt und eine diskrete Inflation die angesammelten Schulden tilgen helfen würde, erwies sich als eine Illusion. Spätestens hier ist der Punkt erreicht, um die geneigte Leserin, den geneigten Leser fairerweise zu warnen: wer den Wirtschaftsteil seiner Tageszeitung undurchblättert beiseite legt, sollte zur nächsten Geschichte übergehen. Doch nicht selten findet man auf diesen Seiten die wahren Tragödien. Oder auch Heldentaten oder wie im hier zu erzählenden Fall auch beides zusammen.

Ende 1676 summierte sich das Defizit der öffentlichen Hand in Rom auf fünfzig Millionen scudi. Das zumindest schreiben die venezianischen Botschafter. Als gewiefte Kaufleute müssen sie es wissen. Oder zumindest einigermaßen zutreffend abschätzen können. Der Papst und seine zuständigen Amtsträger selbst haben kaum eine ungefähre Vorstellung, wie tief sie in der Kreide stehen. Sie wollen es auch gar nicht wissen – so wie der Verdammte auf Michelangelos Jüngstem Gericht halten sie sich die Hand vor die Augen, um den Abgrund nicht zu sehen, in den sie stürzen. Oder besser: in dem sie längst unsanft gelandet sind. Dass man keinen Überblick hat, liegt vor allem daran, dass es keine auch nur ansatzweise zentrale Kassenführung gibt. Jede Behörde mit eigenem Budget und eigener Gerichtsbarkeit – und es ist nirgendwo aufgelistet, wie viele das eigentlich sind – wirtschaftet vor sich hin. Und zwar mehr schlecht als recht. Wer römische Kassenbücher zwischen 1640 und 1676 durchsieht, den packt das kalte Grausen. Zahlen werden nicht mehr addiert und wenn doch, oft genug falsch; Saldi werden nicht mehr gezogen, Bilanzen nicht mehr erstellt: eine traumhafte Situation für die Geschäftswelt in Rom, vor allem für die genuesischen Großfirmen, die Getreide einkaufen und Kredite bereitstellen. Niemand schaut ihnen auf die Finger. Rom, der große Selbstbedienungsladen in Sachen Finanzen.

Die Kardinäle, welche im August 1676 das Konklave beziehen, wissen oder ahnen zumindest, wie ernst die Lage ist, auch wenn sie keine sicheren Zahlen kennen. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt hat sich das Kollegium der Purpurträger in ganz neuartiger Weise sortiert – und damit zugleich polarisiert. Die alten Gefolgschaften, die sich um Spanien und Frankreich und um die Kardinalnepoten der letzten Päpste scharen, bestehen durchaus fort. Doch die damit gezogenen Grenzen verblassen zunehmend; viel schärfer tritt jetzt eine neuartige Trennlinie hervor. Auch sie mutet uns Heutigen vertraut an. Denn sie verläuft zwischen Reformern und Beharrern. Die Letzteren, überwiegend saturierte alte Männer, besitzen eine seltene Fähigkeit: unbegrenzt verdrängen zu können. Ihre Devise lautet: es wird schon weitergehen, zumindest so lange, wie wir leben. Hatte nicht schon der Erzbösewicht Machiavelli anderthalb Jahrhunderte zuvor in seinem ruchlosen Traktat über den Fürsten geschrieben, dass die Herrschaft des Papstes schlichtweg nicht untergehen kann? Die Fraktion der Reformer – sie macht gerade einmal ein Neuntel der Wahlberechtigten aus – ist davon längst nicht mehr überzeugt. In ihren Augen ist die Welt böser geworden, ja sie schreckt vor nichts mehr zurück, nicht einmal davor, Hand an das Papsttum zu legen. Dabei versteht diese Gruppierung der zelanti, der „Eiferer“, Reform im ursprünglichen Wortsinn: Wiederherstellung der alten, besseren Gestalt. In diesem Fall heißt das: zurück zu den strengen Leitsätzen des Konzils von Trient, die in ihrer Schärfe niemals zur Anwendung gelangt sind. Vor allem aber bedeutet es einen politisch-moralischen Appell, dessen Befolgung in ihren Augen gleichfalls seit mehr als einem Jahrhundert überfällig ist: schaffen wir endlich den ewigen Stein des Anstoßes aus dem Weg – schaffen wir den Nepotismus ab. Seit langem ist kaum ein Jahr vergangen, in dem nicht – auch das eine Ähnlichkeit zum frühen 21. Jahrhundert – der regierende Papst eine hochkarätige Kommission ins Leben gerufen hat, die sich dieser Frage aller Fragen zu widmen hatte. Darf er oder darf er nicht – darf der regierende Pontifex maximus seine Verwandten erhöhen, und falls ja, wie weit, wie glanzvoll, wie kostspielig? Was wie ein müßiges Spiel der Regierenden aussehen mag, ist in Wirklichkeit blutiger, heiliger Ernst: Roms Herz, der Nepotismus, schlägt unruhig. Und nach der Mitte des 17. Jh. erbringt diese angstvolle, qualvolle Gewissensbefragung immer seltener die erhofften beschwichtigenden Antworten (die am Ende doch nicht beruhigen können) und stattdessen immer häufiger ein niederschmetternd negatives Resultat: nein, er darf nicht, schlimmer noch, er stellt sein Seelenheil aufs Spiel, wenn er es tut. Und so stirbt Innozenz’ dritter Vorgänger, Alexander VII., der sich am Beginn seiner Regierung als erster eine Generalsanierung des Systems Rom zu Ziel gesetzt hatte, 1667 im Zustand der völligen Verzweiflung; er hatte einige Monate lang durchgehalten, hatte seine Verwandten von Rom fern gehalten, um dann umso rückhaltloser rückfällig zu werden.

Neun Jahre später wird die Wahl des neuen Papstes auf diese Weise zu einer Abstimmung über Sein oder Nichtsein: Rückwärtserneuerung im Sinne einer rigorosen moralischen Ökonomie – oder Augen zu und vorwärts in den Bankrott. Im Jargon der Fachkommissionen ausgedrückt: wollen wir, brauchen wir einen Papst, dem nichts Menschliches fremd ist, oder einen Pontifex, der ganz dem Jenseits zugewandt ist? Theologisch konnte man beide Varianten begründen. Schließlich war Christus, der Gottessohn, selbst Mensch geworden, hatte sich also aus der einsamen Höhe des Göttlichen herabgelassen zu seinen Geschöpfen, nicht zuletzt, um auch deren Empfindungen zu teilen. Also musste auch Er gewusst haben, dass Blut dicker ist als Wasser; und waren Seine Apostel nicht gleichfalls nach Verwandtschaft handverlesen? Dieser religiösen Rechtfertigung des Nepotismus radikal entgegen waren die ‘Eiferer’ der Ansicht, dass das Amt des Papstes im Wesentlichen nicht von dieser Welt sein durfte, sondern auf Zeitenende und Ewigkeit gerichtet zu sein hatte. Weltliche Herrschaft war eine Last, eine Treuhänderschaft, die man leidend und duldend auf sich nehmen musste: zum Nutzen der anderen – und mit sauberen Händen. Mani pulite 1676.

Und damit enden die Parallelen zur Gegenwart. Denn am 21. September 1676 erheben die Kardinäle den radikalsten aller Reformer zum Papst: Benedetto Odescalchi, fünfundsechzig Jahre alt, seit einunddreißig Jahren Kardinal und dadurch mit den Missständen des alten Systems bestens vertraut. Hinterher konnte niemand behaupten, er habe nicht gewusst, was er tat. Der neue Papst hatte wie nicht wenige Kardinäle der letzten zwei Jahrhunderte einen Lebensstil des symbolischen Widerstands geführt und damit das Gegenbild einer alternativen Kirche gezeichnet. In Zeiten des voll entfalteten, um nicht zu sagen: entfesselten Nepotismus hatte er innerweltliche Askese praktiziert. Ein weißgetünchtes Schlafgemach fast ohne Möbel, nur ein Kruzifix an der Wand, frugalste Mahlzeiten, dauerndes Memento mori – bedenke, dass du sterben musst. Das war sehr barock, passte zum Zeitgeist und hieß noch nicht viel. Schließlich hielt sich auch Alexander VII., welcher der süßen Stimme des Blutes am Ende nachgab, einen aufgeschlagenen Sarg als Wohnzierde.


Gianlorenzo Bernini, Karikatur Innozenz’ XI. Odescalchi

Ein fader Pedant, öder Kleingeist und Verächter des Schönen – so zeigt Berninis grausame Karikatur den durchgreifendsten Reformpapst der Neuzeit. Diesen Hass zog sich Innozenz XI. dadurch zu, dass sein Regierungsprogramm „Spitäler statt Spektakel“ lautete, womit die römische Kunstindustrie in eine Auftragskrise ohnegleichen gestürzt wurde. Im Übrigen ermangelte der rigorose Luxusverbieter und Sitteneinschärfer, der zugleich die Zwangskonversionen der Hugenotten im Frankreich Ludwigs XIV. ab 1685 indirekt missbilligte, nicht des Humors und der Fähigkeit zur Selbstkritik – vielleicht hätte er also bei aller Bitternis der Charakterzeichnung über sein genial verzerrtes Konterfei sogar geschmunzelt.

Innozenz XI. aber war aus anderem, aus härterem Holz geschnitzt. Und bei aller Weltabgewandtheit war er ein Finanzpolitiker großen Stils. Den global players der großen Konzerne sollte schnell Hören und Sehen vergehen. Nicht umsonst stammte dieser Papst aus einer Familie, die über Generationen hinweg im Großhandel reich geworden war; diese ererbten Managerqualitäten werden jetzt gegen die Großfinanz gewendet. ATTAC hätte seine Freude daran.

Um einen Sumpf auszutrocknen, muss man seine Ausdehnung kennen. Und so beginnt jetzt ein seltsames Spiel: wer findet bislang unbekannte Schulden? Hier taucht nochmals eine gewisse Übereinstimmung zum Jahr 2004 auf. Bei kaum einer anderen Tätigkeit sind Finanzpolitiker so erfinderisch wie bei der Einrichtung von Schattenbudgets, Zusatzetats und versteckten Sonderkassen. Für die römischen Finanzkontrolleure bedeutete das konkret: Berge finden. Monti, also Berge nämlich hießen die öffentlichen Schuldaufnahmen, mittels deren Rom in fünf viertel Jahrhunderten seine Nepoten, seine Bauten und seine Kriege finanziert hatte. Ein solcher ‘Berg’ bestand aus einer Pauschalanleihe, meistens in der Größenordnung von einhunderttausend bis einer Million scudi (zum Vergleich: ein Handwerker verdient um die Mitte des 17. Jh. jährlich etwa sechzig bis siebzig scudi), welche in der Regel von einem Bankenkonsortium en bloc übernommen, also vorgestreckt wird. In Zeiten extremer Geldnot – also im Normalfall – zahlt der Kreditgeber jedoch nicht den Nennwert, sondern einen durch ein so genanntes Disagio, einen Abschlag, niedrigeren Wert; Rabatte von bis zu zehn Prozent sind durchaus üblich. Mit anderen Worten: das Papsttum bekommt dann beispielsweise statt einer Million nur 900000 scudi ausbezahlt, hat aber für den vollen Betrag die Zinsen zu zahlen.

Auf der Seite der Banken aber tun sich verlockende Gewinnspannen auf. Denn die meist billig erstandenen Großanleihen ließen sich in vielfältig gestückelter Form lukrativ absetzen. Aufgeteilt in „Bergorte“ von hundert scudi, waren diese römischen Staatsschatzbriefe auch und gerade für den Kleinsparer attraktiv. Und wenn das Familienvermögen nicht reichte, dann tat man sich mit Verwandten, Freunden oder Nachbarn zusammen – und lebte als glücklicher Rentier von deren Erträgen bis ans Lebensende. Noch Giacomo Casanova versorgt seine abgelegten Mätressen zwecks Verheiratung mit solchen Kleinrenten. Die ideale Mitgift waren sie nicht zuletzt aufgrund der päpstlichen Zahlungsmoral. Diese nämlich ist eisern. Im Gegensatz zu König Philipp II. von Spanien, der zweimal den Staatsbankrott ausrufen und danach den Schuldendienst, die Zinszahlungen also, einstellen ließ, waren die Päpste durchgehend darauf angewiesen, ihren Ruf der Kreditwürdigkeit zu wahren – die Nepoten jedes neuen Pontifikats warteten schließlich ungeduldig auf ihre fürstliche Ausstattung. Mochten Könige auf dem Schafott enden und die Türken vor Wien stehen: diese Rente war sicher. Schon damals machten solche Sprüche die kleinen Leute glücklich. Mit dem Unterschied, dass sie stimmten. Zumindest bis Innozenz XI. kam.

Monti wurden seit dem Pontifikat Clemens’VII. (1523–1534) eingerichtet, und zwar in zwei verschiedenen Spielarten. Die so genannten „erlöschenden“ Berge gelten nur zu Lebzeiten des Anteilzeichners, können nicht vererbt werden und stellen daher eine Hochrisikoinvestition dar. Dementsprechend werfen sie eine fabulöse Rendite ab: bis zu 12%. Etwas für Finanzzocker also. Dieser Menschentyp aber wird zunehmend rar in Rom, in Italien, im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Viel beliebter sind daher die „ewigen“ monti, die man getrost per Testament hinterlassen kann. Die einzige Gefahr, dass sie erlöschen könnten, besteht im theoretischen Rückkaufrecht der Kurie. Doch wann hatte man schon erlebt, dass ein Staat Schulden zu tilgen vermochte? Dementsprechend konnten die Konsortien die Anteile meist deutlich über dem Nennwert absetzen, manchmal sogar mit einem Aufschlag von einem Viertel. Daraus ergab sich, wie unschwer zu berechnen, eine hübsche Profitmarge. Bei standesbewussteren Geldanlegern noch höher geschätzt waren die so genannten „Kaufämter“. Noch älter als die monti, hüllten sie die schnöde Kredit-Zins-Operation in die Prunkgewänder einer öffentlichen Tätigkeit. Natürlich waren das des Kaisers neue Kleider. Der Kreditgeber durfte sich mit einem phantasievollen Titel – etwa Ritter des heiligen Petrus – schmücken, ohne damit irgendwelchen beruflichen Verpflichtungen zu unterliegen: alles Schall und Rauch, außer dem ‘Gehalt’, den Zinszahlungen also, versteht sich. Sie waren sehr real und lagen für die Lebenszeit- und Dauerämter in etwa in Höhe des „Bergorte“-Ertrags.