Verdächtige Stille

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Verdächtige Stille

Ariane Werbel

&

Veronika Wetzig

Verdächtigte Stille

Ariane Werbel, Veronika Wetzig

Copyright: © 2013 Ariane Werbel, Veronika Wetzig

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-4918-7

Prolog

Das kleine Haus, nah am Rand einer Klippe scheint dem nahenden Unwetter trotzig entgegen zu blicken. Dunkle Wolken bauschen sich am Horizont und es ist, als würde die Welt den Atem anhalten. Kein Vogel singt, kein Blatt bewegt sich, nur das dumpfe Rauschen der Brandung ist zu hören.

Eine starke Windböe beendet die bedrückende Stille. Als wäre mit dieser der Bann endlich gebrochen, nimmt das Unwetter jetzt rasch zu und schon peitscht der Regen über die nahen Klippen und Wälder.

Jaulend fegt der Wind um die Ecken des kleinen Hauses und fängt sich in den Bettlaken, die noch am Nachmittag sorgfältig zum Trocknen aufgehängt wurden. Durch den Regen sind sie wieder nass und schwer, trotzdem drohen sie, durch den Sturm von der Leine gerissen zu werden. Wie Gespenster tanzen sie in der Nacht.

Das kleine Haus knarzt und quietscht in seinen Grundfesten. Nur zwei der kleinen Fenster sind schwach erleuchtet und blicken wie zwei müde Augen in das Dunkel. Hin und wieder huscht ein Schatten vorüber, doch noch ahnt keiner der Bewohner, was im Dunkel des anliegenden Waldes auf sie lauert.

Wieder prallt ein Windstoß gegen die Front des Hauses und zerzaust die üppigen Kletterpflanzen, die sich in den letzten Jahren ihren Weg bis zum Dachfirst gesucht haben. Wild peitschen die langen Ranken durch die Luft, während ihre toten Blätter durch den verwilderten Vorgarten wirbeln. Kniehoch wächst das Gras und wilde Brombeersträucher haben das Refugium übernommen. Begierig schlängeln sie ihre Arme bereits in Richtung des angrenzenden Waldes. Der kleine Garten gleicht einem Urwald und so ist es fast unmöglich, das schmale Augenpaar auszumachen, das sich im Unterholz des Waldes versteckt und das heimische Treiben im Haus beobachtet.

Im Schutz der Dunkelheit und des wütenden Sturmes, wagt es sich langsam aus seinem Versteck. Vorsichtig und sehr langsam durchbricht eine gebückte Gestalt das Dickicht. Das Ende des Waldes ist schnell erreicht. Jetzt können nur noch karge Sträucher Deckung bieten. Das hohe Gras raschelt bedrohlich, doch das Prasseln des Regens und das Wüten des Sturmes übertönen die sich nähernden Schritte.

Fast ist es geschafft, die kleine Gartenpforte ist zum Greifen nahe. Da plötzlich öffnet sich die Tür des kleinen Hauses und ein schmaler Lichtstreifen fällt auf den Weg.

1. Kapitel

Samstag, 29. Oktober, 19:00 Uhr

Entspannt tritt Ben vor die Haustür. Endlich mal ein Abend ohne endlose Diskussionen mit seiner fünfjährigen Tochter. Nur er und Marie. „Herrlich“, denkt er und streckt die Schultern nach hinten.

Hinter sich hört er das Klappern von Geschirr und als er die Tür bis auf einen schmalen Spalt zuzieht und durch eines der kleinen Fenster ins Haus hinein späht, sieht er, wie seine Frau Marie die Reste des Abendessens zusammenräumt.

Ben genießt diesen kurzen Augenblick als stiller Beobachter. Es kam nicht allzu oft vor, dass sie einen Abend ohne ihre Tochter Annely verbringen konnten und so hatten sie sich für heute Abend etwas ganz Besonderes vorgenommen. Sie hatten zusammen gekocht, das heißt eigentlich hat Marie ihn zum Zwiebelschneiden verdonnert und anschließend Anweisungen für die Zubereitung der Lasagne erteilt, während sie selbst in Kochschürze und mit erhobenem Kochlöffel jeden seiner Handgriffe mit Argusaugen verfolgte. Weil er sich aber immer wieder von ihren unter der Kochschürze verborgenen Rundungen hatte ablenken lassen, erbarmte sie sich schließlich, zumindest die Soße und noch einen kleinen Salat zuzubereiten.

Das Essen war köstlich und bei Kerzenschein und gutem Wein saßen sie eine gute Stunde zusammen und genossen das mehr oder weniger gemeinsam zubereitete Festmahl. Zugegeben: eigentlich waren es nur vierzig Minuten. Ben schmunzelt bei dem Gedanken daran, wie sie zwischen dem Salat und der Lasagne spontan übereinander hergefallen sind. Marie kicherte ausgelassen, da er mindestens drei Minuten allein damit beschäftigt war, sie aus ihrer unbequemen Kochschürze zu befreien.

Die Lasagne war währenddessen zwar erkaltet, doch das anhaltende wohlige Gefühl sorgte dafür, dass er sie trotzdem mit einem breiten Dauergrinsen im Gesicht bis auf den letzten Bissen verschlang.

Nun steht Ben unter dem schmalen Vordach der kleinen Hütte und lässt sich von dem aufsteigenden Sturm einlullen. Nach wenigen Augenblicken muss er jedoch überrascht feststellen, dass seine innere Wärme dennoch nicht ausreicht, um es länger hier draußen auszuhalten und so beschließt er, noch einmal zurückzugehen und sich eine Jacke überzuziehen, um in Ruhe seine letzte Zigarette genießen zu können.

Seit der Geburt von Annely rauchte er nur noch sporadisch, meistens nur um einfach mal eine kurze Zeit für sich zu sein. Am letzten Sonntag jedoch, als sie im Kreise der Familie Annelys fünften Geburtstage feierten, durfte er sich einen nicht enden wollenden Vortrag seiner Tochter anhören, in dem sie ihn ausführlich über das bestehende Gesundheitsrisiko beim Rauchen aufklärte, wobei sie ihn mit Wörtern wie Thrombose und Lungenkrebs bombardierte. Als seine hilfesuchenden Blicke auch Marie nicht erweichen ließen ihn zu verteidigen, gab er sich schließlich geschlagen und versprach hoch und heilig, sein Laster zukünftig aufzugeben.

Den Ausblick über die Klippen genießend, zündet Ben sich seine letzte Zigarette an und entspannt sich angesichts der einsamen Weite. Seine Gedanken kreisen wieder um ihren kürzlich vollendeten Liebesakt und noch immer spürt er Maries warme Hände, die gierig nach seinem Körper greifen, als ein starker Windstoß ihn erfasst und taumeln lässt. Erschrocken sieht er sich um. Täuschte er sich oder war dort gerade eine Gestalt zu sehen? Unwillig wirft er die Zigarette ins Gras und geht vorsichtig Richtung Schuppen.

Da, wieder huscht ein Schatten über die Schuppenwand. Ben sprintet zum Schuppen und schiebt sich langsam um die Ecke, als etwas seinen Arm streift. Erschrocken springt er zurück, doch dann lacht er befreit auf. Die nassen Laken hatten ihm doch tatsächlich einen Streich gespielt. Er dreht sich um und geht zurück zum Haus. Er würde gleich seine Frau bitten, die nassen Dinger herein zu holen.

Ben ist noch nicht bei der Haustür angekommen, als ein lauter, nicht enden wollender Schrei die Stille durchbricht. So hell und furchteinflößend, dass ihm unweigerlich ein Schauer über den Rücken läuft und sich seine Nackenhaare aufstellen. Starr vor Schreck bleibt er beim Schuppen stehen, unfähig zu begreifen, dass der Schrei aus dem Haus ertönt und die Stimme seiner Frau gehört. Abrupt endet der Schrei und die plötzliche Stille reißt Ben aus seiner Starre. Eilig rennt er durch den Regen Richtung Haustür. Doch als er sie aufstoßen will, ist sie verschlossen. Er rüttelt und zerrt, doch sie gibt nicht nach. Drinnen ist alles ruhig und das schwache Licht, das noch immer so gemütlich durch die kleinen Fenster nach draußen dringt, scheint Ben verhöhnen zu wollen. Panisch sieht er sich um. Irgendwie muss er ins Haus kommen.

Er hastet zur Rückseite, doch auch hier sind wegen des Unwetters alle Fenster fest verschlossen. Fluchend schlägt Ben gegen eines der Fensterkreuze. Es muss doch irgendwie möglich sein, ins Haus zu kommen! Der Schuppen! Eilig wendet er sich ab und rennt zurück. Regen rinnt ihm von seinen wirr in die Stirn hängenden Haare in die Augen. Der Weg erscheint ihm endlos. Immer wieder schlingen sich Gras und wilde Brombeerranken um seine Füße als wollten sie ihn daran hindern, an sein Ziel zu gelangen. Endlich erreicht er die verwitterte Schuppentür. Er reißt sie auf und tastet hastig nach dem Lichtschalter neben der Tür. Als er ihn schließlich findet und den Kippschalter betätigt passiert jedoch nichts. Fieberhaft schaltet er ihn mehrmals ein und aus, doch das Ergebnis bleibt das gleiche: nur schwarze Finsternis liegt vor ihm. Kurz überkommt ihn Panik. Entschlossen ringt er sie jedoch nieder und versucht, einen klaren Kopf zu behalten. Er brauchte geeignetes Werkzeug, um ins Haus zu gelangen. Seine Axt! Ben rennt blind in den Schuppen hinein und stößt mit dem Knie an eine harte Kante. Er flucht, ignoriert jedoch den Schmerz. Seine Gedanken drehen sich nur noch um die Axt. Letztens hatte er sie doch noch in der Hand. Während Ben wild um sich greift, fällt es ihm wieder ein, er hatte sie seinem Bruder Felix geliehen, der damit das neue Gartenspielhaus für seine beiden Töchter zimmern wollte. Dann musste eben etwas anderes herhalten.

Draußen stürmt es immer stärker und die Schuppentür schwingt mit einem lauten Krachen in den Rahmen. Erschrocken fährt Ben herum. Er kann die Panik nicht länger unterdrücken, hastet zur Tür und stolpert. Gerade eben kann er sich noch an der Wand festhalten. Was war das? Nervös ertastet er einen Holzscheit. Er greift nach dem Klotz und rennt durch den Regen zurück zum Haus.

 

Die Stille darin macht ihn fast wahnsinnig. Was um Himmels Willen ging dort drinnen nur vor sich? Ben verharrt plötzlich mitten im Lauf. Irgendetwas war anders. Was war es nur, das ihn jetzt so irritierte?

Das Licht ist aus! Eben waren beide Stubenfenster doch noch hell erleuchtet! Jetzt herrscht Dunkelheit im ganzen Haus. Stolpernd hastet Ben weiter. Er erreicht die Tür und will sich gerade nach rechts wenden, um eins der Fenster einzuschlagen, da lässt ein leises Geräusch ihn innehalten.

War das ein leises Wimmern? Vorsichtig lehnt er sich an die Tür, um zu lauschen. Da geschieht es – die Tür gibt mit einem leisen Quietschen nach. Wie ist das möglich? Eben war sie doch noch fest verschlossen! Ben wischt alle Bedenken beiseite, jetzt zählt nur eins, nämlich schnellstmöglich herauszufinden, ob mit Marie alles in Ordnung ist. Nach kurzem Zögern wirft er den Klotz zurück in den Garten – er würde ihm im Haus nur hinderlich sein.

Vorsichtig öffnet er die Haustür. Nichts ist zu hören. Fahrig tastet er nach seinem Feuerzeug in der Hosentasche und lässt die Flamme aufleuchten. Auf den ersten Blick sieht alles normal aus. Neben ihm auf der Fensterbank steht der alte Kerzenständer mit einer halb abgebrannten Wachskerze. Schnell geht er hinüber und zündet sie an, verbrennt sich an dem heißen Feuerzeug und schüttelt es kräftig aus. Mit der Kerze in der rechten Hand beleuchtet er die Küche, in der sie vor wenigen Minuten noch zusammen zu Abend gegessen hatten. Bens Blick huscht über das Wasser in der Spüle und einige bereits abgewaschene Teller, die ordentlich auf der Anrichte stehen. Von seiner Frau jedoch ist nichts zu sehen.

Er späht ins anliegende Wohnzimmer. Auch hier ist alles ruhig. Vorsichtig und mit der linken Hand die Flamme schützend, geht er vorwärts. Nur langsam durchbricht der schwache Schein der Kerze das Dunkel. Schemenhaft erkennt er die Couch und den davor stehenden Sessel. Sollte Marie sich hinter dem Sessel versteckt haben? Was für ein irrwitziger Gedanke. Trotzdem beschließt er, nachzusehen. Vielleicht sollte er einfach nach ihr rufen, aber die Angst schnürt ihm die Kehle zu und er hat das Gefühl, keinen Ton herauszubekommen.

Langsam geht Ben auf den Sessel zu, als er hinter sich einen Luftzug spürt. Gerade will er sich umdrehen, als ihn ein dumpfer Schlag auf den Hinterkopf trifft. Ben versucht noch, sich auf dem Sessel abzustützen und die Kerze nicht fallenzulassen, als alles um ihn herum schwarz wird. Er spürt noch, wie ihm die Kerze entgleitet, bevor er hart auf dem Holzfußboden aufschlägt.

2. Kapitel

Samstag, 29. Oktober, 21:53 Uhr

Sein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit einem Schraubstock bearbeitet worden. Langsam öffnet Ben die Augen und versucht sich zu orientieren. Er liegt noch immer auf dem Holzfußboden, von der Wärme am Abend ist nichts mehr zu spüren. Kälte steigt in ihm auf. Er versucht, den Kopf zu drehen und berührt dabei mit seiner rechten Hand etwas Metallisches. Der Kerzenständer. Was war passiert? Noch immer ist alles dunkel und Ben versucht, sich zu erinnern. Erst einmal langsam wieder auf die Beine kommen. Er winkelt Arme und Beine an und versucht sich vorsichtig am Sessel aufzurichten. Sein Kopf schmerzt wie verrückt, doch langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Schemenhaft erkennt er die Umrisse des vertrauten Wohnzimmers. Als es ihm endlich gelingt, sich vollständig am Sessel hochzuziehen, scheint sein Kopf kurz vorm Platzen zu sein. Dieser wahnsinnige Schmerz. Vorsichtig tastet Ben mit der Hand seinen Hinterkopf ab. Er hat zwar eine gewaltige Beule, aber immerhin ist kein Blut zu ertasten. Langsam und auf wackeligen Beinen geht er zurück in die Küche. Er braucht unbedingt einen Schluck kaltes Wasser.

Ben streckt sich und nimmt blind ein Glas aus dem Küchenschrank über sich. Sofort bereut er es, sich nicht einfach ein dreckiges von der Spüle genommen zu haben. Sein Kopf dröhnt und der Schmerz zieht sich sogleich durch seinen gesamten Körper. Aus dem Wasserhahn lässt er erst ein wenig Wasser in die Spüle laufen, um sich dann eiskaltes in sein Glas zu füllen. Seine Kehle ist völlig ausgetrocknet und es kommt ihm vor, als hätte er seit ewigen Zeiten nichts mehr getrunken. Hastig führt er das Glas an seine Lippen und verschluckt sich fast dabei.

Da plötzlich hört er ein leises Scharren direkt über sich. Ben merkt, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken bis hoch in die Haarspitzen kriecht. Wenn es nur nicht so kalt wäre. Bei seinem erschrockenen stoßweisen Atmen bilden sich kleine weiße Wölkchen vor seinem Mund. Zittrig stellt er das Glas zurück auf die Spüle und geht vorsichtig tastend Richtung Flur. Hier führt eine schmale Holztreppe hinauf in das Dachgeschoss. Vorsichtig setzt er den Fuß auf die erste Stufe. Beim leisen Knarzen des Holzes fährt er zusammen. Weiter, denkt er, Marie braucht meine Hilfe.

In den vergangenen Monaten hatte Marie den Treppenaufgang mit vielen kleinen Familienfotos geschmückt, um Annelys Entwicklung festzuhalten. Am unteren Ende der Treppe hängen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Ben gleich nach ihrer Geburt geschossen hatte. Marie weigerte sich damals vehement, so kurz nach der Entbindung Fotos von sich machen zu lassen, weil sie, wie sie sich ausdrückte, wie eine schwangere Auster aussehe. Ben sah das ganz anders, er fand Marie wundervoll, auch wenn ihre durchgeschwitzten Haare wirr im Gesicht klebten und ihr Nachthemd mit Blut und Babyschmiere durchtränkt war. Gerade dafür und ganz besonders in diesem Augenblick liebte er sie mehr denn je. Und in jenem einzigartigen Moment im Kreißsaal wurde ihm auch bewusst, dass die Menschheit längst ausgestorben wäre, wenn die männliche Bevölkerung für das Kinderkriegen zuständig wäre.

Es folgen Bilder von einem gemeinsamen Zoobesuch. Annely mit ihren zwei Jahren noch in der Karre, im Hintergrund ein afrikanischer Elefant, der seinen langen Rüssel nach ihr ausstreckt, um ein paar Erdnüsse zu ergattern. Annely beim Faschingsfest, verkleidet als Marienkäfer und ein Foto aus dem letzten Sommer, wo er gemeinsam mit Annely das Auto waschen wollte, was schließlich in einer wilden Schaumschlacht endete.

Ben liebt diesen schmalen Treppenaufgang, der ihn immer wieder aufs Neue an fröhliche Familienzeiten erinnert. So manches Mal war er stehen geblieben, schwelgte in Erinnerungen und vergaß dabei, was er eigentlich gerade tun wollte.

Aber jetzt hat er keine Zeit dafür. Marie ist verschwunden und irgendjemand hat ihn niedergeschlagen.

Endlich ist er am oberen Treppenabsatz angekommen. Hätte er doch nur den Kerzenständer mitgenommen. Nun steht er hier mit leeren Händen und weiß nicht, was ihn erwartet.

In einer kleinen Nische neben der Tür zum Dachgeschoss findet Ben die dünne Eisenstange, mit der sich die ausklappbare Luke für die Treppe zum Dachboden öffnen lässt. Er nimmt die Stange und atmet noch einmal tief durch, bevor er die Tür zum Dachgeschoss öffnet. Oben befinden sich die Schlafräume, rechts Annelys Zimmer, links das Elternschlafzimmer.

Links oder rechts – links oder rechts? Panisch zucken seine Augen zwischen beiden Türen hin und her. Inzwischen ist kein Laut mehr zu hören. Er entscheidet sich für die Tür zum gemeinsamen Schlafzimmer. Kurzentschlossen legt er seine Hand auf den Türknauf und drückt diesen vorsichtig nach unten. – Nichts passiert. – Die Tür ist verschlossen. Plötzlich ist alle Vorsicht vergessen. Panisch rüttelt Ben an dem Knauf und ruft laut Maries Namen.

„Marie, Marie, bist du da drin?“ Seine Stimme überschlägt sich, wütend schlägt und tritt er auf die Tür ein und endlich gibt das Schloss nach. Mit einem lauten Krachen schlägt sie an die Innenseite der Schlafzimmerwand.

Ben stürzt ins Zimmer, stolpert dabei über seine eigenen Füße und landet krachend mit seiner linken Seite auf dem Fußboden. Ein stechender Schmerz zieht sich durch seine Schulter und auch die Beule am Kopf macht sich pochend wieder bemerkbar, aber er rappelt sich auf, sieht sich im Zimmer um und ruft erneut „Marie, bist du hier?“.

Nichts.

Durch das Fenster kommt ein wenig Mondlicht, ansonsten ist alles dunkel. In seiner Verzweiflung reißt er die Schranktür zum Kleiderschrank auf, schiebt sämtliche Kleiderbügel zur Seite, so dass Hemden und Hosen zu Boden fallen. Panisch zieht er die ordentlich zusammengelegten Handtücher und Pullover aus den Regalen, die sogleich einen kniehohen Kleiderhaufen vor seinen Füßen bilden.

Erneut greift Ben zu der Eisenstange und stürzt stolpernd auf die Tür zum anliegenden Bad zu. Mit letzter Kraft reißt er sie auf und zuckt zusammen. Im Raum ist es eiskalt. Das kleine Fenster ist offen und die Jalousien klappern im Wind. Erschöpft fällt Ben auf die Knie und die Eisenstange rollt ihm aus der Hand. Was um Himmels Willen ist nur geschehen? Kurz ist er versucht, sich einfach auf dem Boden zusammenzurollen und darauf zu warten, dass dieser Albtraum vorbeigeht. Aber die Angst um Marie ist stärker. Wo ist sie und warum antwortet sie nicht? Mühsam steht er auf und geht zum Fenster.

Im fahlen Mondlicht erkennt er die Umrisse des Schuppens und des angrenzenden Waldes. Von Marie keine Spur. Was soll er tun? Wo soll er noch suchen?

Verzweifelt taumelt Ben durch das Schlafzimmer über den schmalen Flur und reißt die Tür zum Kinderzimmer auf. Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung. Alle Spielsachen liegen fein säuberlich in Kisten, das Bett ist ordentlich gemacht, bedeckt mit einer selbst gefertigten Tagesdecke, die Marie Abend für Abend vor dem Kamin aus kleinen verschiedenfarbigen Vierecken zusammengenäht hat. Annelys Zimmer ist tadellos aufgeräumt. Kein verstreutes Lego, das unter seinen Schuhen knackt und keine alten Kaugummireste, die ihm an der Sohle kleben bleiben. Eindringlich hatte Marie ihrer Tochter beigebracht, dass es sich gerade für kleine Prinzessinnen gehört, das Zimmer immer ordentlich zu hinterlassen, wenn man für einige Tage verreist.

Mutlos lässt Ben die Hände sinken. Marie ist verschwunden. Wankend geht er die Treppe hinab in die Küche. Im vorderen Schrank sind die Kopfschmerztabletten. Vielleicht würde er wieder klarer denken können, wenn erst dieser wahnsinnige Schmerz nachließe. Mit zittrigen Händen drückt er sich drei Schmerztabletten aus der Packung und spült diese mit dem letzten Rest des kalten Wassers aus seinem Glas hinunter. Dabei streift sein Blick das Küchenfenster. War da nicht eben eine Bewegung? Mit zusammengekniffenen Augen starrt er angestrengt ins Dunkel, rennt im nächsten Augenblick zur Haustür und reißt sie auf.

Es stürmt noch immer, trotzdem läuft er den Weg durch den Regen bis zur Gartenpforte.

„Mariiiie“ schreit er in die kalte Nacht hinein und reckt dabei sein Gesicht Richtung Himmel, so dass der Regen ihn mitten im Gesicht trifft und er schon bald völlig durchnässt ist. „Mariiie“.

Fast scheint es, als ob der Regen seine Worte verschlingt. Ich muss Hilfe holen. Als würde er von irgendwoher noch auf eine Bestätigung warten, bleibt er weiter in Gedanken im Regen stehen. Tropfen bilden sich auf seiner Nase und holen ihn zurück in die Gegenwart. Schnell wischt er sie mit dem Ärmel weg, rennt zurück zum Haus und überlegt, wen er jetzt bloß anrufen soll.

Die Polizei? Ehe die aus dem nächsten Ort da wäre, würde viel zu viel Zeit vergehen. Und würden sie ihm die Geschichte überhaupt abnehmen? Er kann es ja selbst kaum glauben. Je länger er darüber nachdenkt, desto unwahrscheinlicher erscheint es ihm. Erschrocken zuckt er zusammen als direkt über ihm ein gewaltiges Donnergrollen ertönt. Sollte das ein Zeichen sein?

Ben entschließt sich, seinen Bruder anrufen. Felix würde wissen, was zu tun ist. Entschlossen greift er zum Hörer und wählt die Kurzwahltaste. Doch kein Signal ertönt. Genervt stöhnt er auf. Natürlich, ohne Strom kann auch das Telefon nicht funktionieren. Aber irgendwo muss doch noch sein Handy liegen. Hektisch sieht er sich um. Wo hatte er es nur zum letzten Mal gesehen?

Ben hastet zum Sekretär, dort hatte er es vor dem Abendessen hingelegt. Mit beiden Händen fegt er den Stapel der noch zu zahlenden Rechnungen vom Schreibtisch und sucht wild nach seinem Handy. Endlich findet er es. Schnell drückt er die Menü- und Sternchentaste, um es freizuschalten. Kurzwahltaste von Felix? Die Drei. Er hält die Taste gedrückt und wartet auf das Freizeichen. Doch nichts passiert. Er sieht auf das Display und muss erneut feststellen, dass er keinen Empfang hat. Er dreht sich um und sieht durch den Raum zum Fenster. Nach wie vor wütet der Sturm. „Verfluchter Sturm“ schreit er laut in den Raum hinein und wirft das Handy zu Boden. „Was ist hier eigentlich los?“, brüllt er gegen die Stille an. „Marie, wo bist du? Komm raus und zeig dich. Ich kann nicht mehr.“

 

Zitternd und völlig erschöpft schleppt er sich zurück in das Dachgeschoss. Erst einmal muss er aus den nassen Sachen raus. Durch die Kälte kann er seine Gelenke schon nicht mehr bewegen und kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Im Schlafzimmer angekommen beginnt er, sich durch den Kleiderhaufen zu wühlen, den er vorhin achtlos hinterlassen hat. Endlich findet er eine trockene Hose und einen dicken Wollpullover. Doch gerade als er den Pullover aus dem Kleiderhaufen herausziehen will, entdeckt er einen Zettel, der aus einer von Maries Hosen herauslugt. Vorsichtig zieht er ihn heraus und betrachte ihn ungläubig.

Es ist ein Bewirtungsbeleg über zwei Bier und zwei Gläser Wein. Er sucht nach dem Datum und stutzt. Letzten Freitag? Angestrengt denkt er nach, bis ihm einfällt, dass Marie am Freitag letzter Woche in die Stadt fahren wollte, um die letzten Einkäufe für Annelys fünften Geburtstag am Sonntag zu erledigen. Er hat noch genau ihre Worte im Ohr: „Es soll doch ein besonderer Geburtstag werden. Wenn ich nur runter ins Dorf fahre, kann ich höchstens einen Möhrenkuchen backen und ihr ein selbstgebasteltes Windspiel schenken.“

Da muss es gewesen sein. Als Marie später als erwartet zurückkam und er sie fragte, wo sie denn solange gewesen sei, wich sie seiner Frage genervt aus, indem sie ihn ungehalten fragte, ob sie ihm jetzt schon über alles informieren müsse, nur weil sie mal ein bisschen später nach Hause käme. Bevor Ben darauf reagieren konnte, war sie auch schon auf dem Weg nach oben, woraufhin er kurze Zeit später das Laufen des Wassers aus der Dusche hörte. Weil Ben keinen Streit vom Zaun brechen wollte, sprach er sie später auch nicht noch einmal darauf an und am nächsten Morgen war Maries Laune deutlich besser, so dass er sich keine weiteren Gedanken darüber machte. Aber jetzt hält er eine Quittung in den Händen, die genau dieses Datum wiedergibt. Vielleicht war sie nach den Einkäufen tatsächlich einfach so erschöpft, dass sie sich anschließend eine Pause gönnte. Aber zwei Gläser Wein und zwei Bier? Vielleicht hatte sie jemanden getroffen. Aber wieso hatte sie ihm dann nichts davon erzählt? Noch einmal betrachtet er eingehend den Zettel. Am oberen Rand ist das Logo einer bekannten Biermarke abgedruckt, sonst nichts. Missmutig legt er die Quittung auf seinen Nachttisch. Es sah Marie so gar nicht ähnlich, in einer Bar abzusteigen. Wenn es ein Café gewesen wäre. Die Bar aber ergibt für Ben überhaupt keinen Sinn und hinterlässt ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend. Jeder wusste doch, was für zwielichtige Gestalten sich in den schummrigen Bars dieser Gegend aufhalten konnten. Grimmig entschließt er sich, es einfach auf gut Glück zu versuchen und die einzige Bar in der kleinen Stadt aufzusuchen, die ihm in der näheren Umgebung in den Sinn kommt. Vielleicht würde sich jemand an Marie erinnern und ihm einen Tipp zu der zweiten Person geben können. Inzwischen ist er verzweifelt sicher, dass nur diese die Erklärung für die Vorkommnisse in dieser Nacht sein kann.

Er sieht auf seine Uhr: zweiundzwanzig Uhr zehn. Oh Gott! Er hatte sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie lange er ohne Bewusstsein auf dem Fußboden im Erdgeschoss gelegen hatte, nachdem er niedergeschlagen wurde. Gegen achtzehn Uhr hatten sie zu Abend gegessen, jetzt war es kurz nach zehn. Es war also gut möglich, dass er zwei bis drei Stunden dort gelegen hatte. In dieser Zeit konnte alles Mögliche passiert sein. Viertel nach zehn! Sollte er versuchen, jetzt noch in die Stadt zu fahren und sich dort nach Marie zu erkundigen?

Entschuldigen Sie, aber können Sie sich vielleicht daran erinnern, dass meine Frau vorletzte Woche bei Ihnen einen Drink genommen hat? Etwas genauer sollte es schon sein. Er braucht ein Foto von Marie. Ben geht hinunter ins Erdgeschoss und nimmt das Bild aus dem Rahmen, welches Marie in ihrem wunderschönen Sommerkleid am Strand von Acapulco zeigt, ihrer gemeinsamen Hochzeitsreise vor sieben Jahren.

In Gedanken versunken steht er da und betrachtet das Bild im schummrigen Licht. Marie ist eine wirklich wunderschöne Frau. In den sieben Jahren ihrer Ehe ist sie kaum gealtert. Ihr Lachen ist ansteckend und das Lächeln auf dem Foto scheint ihn aus dem Bild heraus zu wärmen. Wer sollte ihr etwas antun wollen? Schnell reißt er sich los. Wenn er weiter hier stehen und das Bild anstarren würde, würde er es nie erfahren. Entschlossen reißt er sich von dem Foto los und steckt es sorgfältig in die hintere Tasche seiner Jeans. Im Flur greift er sich im Vorbeigehen seine gefütterte Winterjacke, in der er auch seine Autoschlüssel findet.