Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Winterzeit, Sommerzeit, zuviel Zeit

Eine Irritation

Ich lag in meinem Bett, das auf kabbeliger See in den Wellen trieb. Die Wasser fluteten über das floßgroße Bett, ich hatte nur ein einziges Paddel zur Verfügung, um mein Gefährt auf Kurs zu halten. Eine große, schnittige Segelyacht zischte heran, sie hieß »Redaktion«. Von der Reling winkte mir ein gutes Dutzend weißgekleideter Menschen zu. Eine schnatzige Blondine griff zu einer Flüstertüte und rief launig: »Nicht nachlassen. Immer schön liefern...!«

Die Yacht machte gute Fahrt, während mein Bettfloß von den Wellen hin und her getost wurde. Von Ferne hörte ich die Schiffsglocke läuten; seltsamerweise wurde sie immer lauter, je weiter sich die Yacht entfernte. Das Geläut dröhnte mir in den Ohren, als ich erwachte. Es war Sonntagvormittag, die Kirchenglocken hämmerten.

Ich sah auf die Uhr. Die Christen bimmelten später als gewöhnlich. Hatten sie endlich ein bisschen Einsehen? Nein, das verspätete Läuten verdankte sich einzig dem Umstand der Umstellung öffentlicher Uhren auf die Win­terzeit. Die Christen missverstanden Religionsfreiheit weiterhin als Einladung zur Belästigung anderer; das ist ja auch die tragende Säule ihres Glaubens seit dessen Anbeginn.

Ich aber hatte eine Stunde Zeit gewonnen, die ich nicht erbeten hatte. Es gibt kein größeres Übel als ein Übermaß von Zeit zur persönlichen Verfügung; dabei ist noch niemals etwas Gutes herausgekommen. »Ich hatte leider Zeit«, heißt es bei Joachim Ringelnatz. Mir wurde unwohl; eine Stunde Zeit pro Tag extra, was war das denn wieder für ein Unfug?

Wenn ich diese Zeit, spann ich den Faden weiter, ein Jahr lang ansparte, ergäben sich daraus bei 365 Tagen mehr als 15 Tage. Das warf bedrückende Fragen auf: Was würde ich mit dieser Zeit anfangen müssen? Und vor allem: Wie war das Wort »ansparen« in meinen Kopf gekommen?

Mir fiel wieder ein, wie ich tags zuvor einen Freund gefragt hatte: »Wenn morgen die Uhren auf Winterzeit umgeschaltet werden, dreht man die Zeiger dann eine Stunde vor oder eine zurück?« Er hatte mich angesehen, als sei ich ein Dreikäsehoch: »Natürlich stellt man sie vor! Es muss ja morgens früher hell sein. Also ist im Winter acht, was im Sommer sieben ist.«

Ich hing, nach guter Auskunft dürstend, an seinen Lippen, doch wurde ich gewahr, wie sein Geist ins Schlingern und Taumeln geriet auf strunkeligem Terrain. »Nein, Quatsch«, korrigierte er sich, »es ist ja ganz anders. Also man stellt die Uhr nicht vor, sondern zurück, damit es abends länger dunkel ist. Damit sieben quasi acht ist oder vier fünf...« Er brach den Satz ab und begann, mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand die Finger seiner rechten abzuzählen, während ich ihm zusah und stumm mitzählte. Ich war sehr froh, dass seine beiden Kinder uns nicht so sehen konnten.

Auch am folgenden Tag stellte die Umstellung der Uhren mein Leben auf eine harte Probe. Es war eine Probe mit der Band, angesetzt für 9 Uhr 30 am Montagmorgen. Hätte sie in der Sommerzeit erst ab 10 Uhr 30 stattgefunden oder schon ab 8 Uhr 30? Wieso wollte ich das wissen? Und warum probten Musiker überhaupt am Morgen? Wurde man nicht Musiker, um ein Leben im Lotterbett und in Saus und Braus zu führen? Oder war das eine geradezu verspießert antiquierte Vorstellung?

Ich schaltete das Radio ein; das Kulturradio gibt Antworten auf Fragen, die ausschließlich sogenannte und selbstempfindende »Kulturmenschen« plagen. Ein Sprecher sagte, die Umstellung der Uhrzeit würde durch eine »Atomuhr« gesteuert; er sagte tatsächlich »Atomuhr«. Was ist eine »Atomuhr«? So etwas wie ein »Atombusen«, nur eben als Uhr? Eine Uhr mit Leuchtzifferblatt? Eine radioaktive Armbanduhr? Meine Armbanduhr leuch­tet nicht, sie hat nur einen Minuten- und einen Stundenzeiger und kann sonst nichts, kein Datum anzeigen oder die Wassertiefe messen oder was die dicken Zwiebeln sonst noch so auf der Pfanne haben.

Meine Armbanduhr ist analog und flach und unauffällig; sie hat ein Lederarmband, das manchmal, vor allem im Sommer, wenn man etwas mehr schwitzt, ziemlich stinkt. Wenn man mit der Uhrhand in Nasennähe kommt, riecht das etwas eklig, aber man schnuffelt trotzdem am Armband herum, um den Uhrarmbandgeruch einzusaugen und abzuspeichern. Der Uhrarmbandgeruch ist bei jedem Menschen anders, er ist quasi sein ihm wesenseigener olfaktorischer Fußabdruck; manche sagen auch, er mache einsam. Wenn man starken Uhrarmbandgeruch hat, weiß man, dass die Uhren auf Sommerzeit gestellt sind, bei schwachem oder ganz verschwundenem Uhrarmbandgeruch herrscht Winterzeit; dies nur zur groben Orientierung.

Erhellende Kulturradioantworten hin oder her: Ich würde nie eine Atomuhr tragen, das käme mir affig vor und protzig. Es gibt aber Staatenlenker, Wirtschaftskapitäne, Fußballvereinsvorstandsvorsitzende Klammer auf Rummenigge Klammer zu und Dickdenker, die eine möglichst teure Atomuhr am linken Handgelenk tragen, mit einem Armband aus Platin oder Titan, damit es nicht stinkt und sie keinen Uhrarmbandgeruch haben, denn dann wäre es schnell Essig und aus und vorbei mit dem Top- und Spitzenleben als Staatenlenker, Wirtschaftskapitän, Fußballvereinsvorstandsvorsitzender Klammer auf Rummenigge Klammer zu oder Dickdenker. Bei schlicht strukturierten Konkurrenten löst die Atomuhr am Handgelenk Neid aus und lautstark vierjähriges »Haben will, auch haben will!« Der Präsident des Iran, ein Simpel vor dem Herrn wie zuletzt vor ihm nur George Bush, möchte auch eine Atomuhr spazieren tragen wie die anderen wichtigen Kinder, die ihn aber nicht dabeihaben wollen. Der iranische Präsident darf nicht mitspielen, nicht mal als Torwart, und von sowas hat man am Ende noch einen Weltkrieg an der Backe.

Wenn diese Fittis eine einfache Uhr ohne Atom, aber dafür mit Uhrarmbandgeruch trügen, an der sie versonnen herumzuschnobern wüssten, dann sähe diese Welt anders aus. Aber sowas von.

Der Teufel steckt im Paket

Wer Deutschen etwas unterjubeln will, der verkauft es ihnen »im Paket«. Paket, das klingt doch wie Weihnachten, nach einem Geschenk oder zumindest nach einer schon sehnlich erwarteten Sendung.

Auch von der Bank und der Versicherung bekommt der Deutsche alles »im Paket«, denn »im Paket« ist »kompakt«, was immer mit »kompakt« gemeint sei; doch nicht etwa der Kompakt mit dem Teufel? Aber nein, »kompakt« hört sich »griffig« und »robust« zugleich an und hat auch die Anmutung von Rabatt beziehungsweise sogar von »Extras«. Im kompakten Paket, scheint es, hat man alles beisammen, »im Paket« ist auch praktischer und günstiger als in einzelnen Teilen; kurz: »im Paket« ist »die perfekte Lösung«, die »kompakte Paketlösung« eben.

Tatsächlich bekommt man »im Paket« mehr angedreht als einem lieb sein kann; »im Paket« ist wie »All you can eat«, alles was reingeht, auch wenn es wehtut. Im Paket ist wie »all inclusive« und schließt eben auch all das ein, was man auf gar keinen Fall haben oder erleben möchte. Wer etwas »im Paket« bekommt, kann sich des Unerwünschten, Unerbetenen gewiss sein; ob das, was er eigentlich bestellte, »im Paket« dann überhaupt noch vorhanden ist, fällt eher in den Bereich des Fakultativen. »Im Paket« bedeutet »Friss oder stirb« und ist also, mit einem anderen Haudraufundschlusswort gesagt, ganz und gar »alternativlos«.

Die Steigerung von »im Paket« heißt »im Doppelpack«; Doppelpack bedeutet zwei Pakete in einem, man bekommt also doppelt soviel bei gleichzeitiger doppelter Ersparnis, aber Ersparnis von was? Wer darüber einmal nachdenkt, und zwar kompakt, dem schwirrt schon bald der Kapet-, nein: der Paketkopf: Doppelpack schlägt sich, Doppelpack verträgt sich.

Paket ist ein anderes Wort für Mogelpackung: »im Paket« bekommt man zehn Dinge angedreht, von denen man mindestens neun gar nicht will oder braucht. Das gilt im – gepriesen sei das Wort »online Bestell-Shop« – eben­so wie im Bankwesen oder in der Politik. Pakethändler sind Trickbetrüger, und ein Anlageberater oder Finanzminister, der Ihnen etwas »im Paket« serviert, hat eine große Karriere als Hütchenspieler entweder schon hinter oder noch vor sich.

Pakete sind ein gutes Geschäft für den, der nichts zu bieten hat, aber jede Menge Schruuz und Schrapel loswerden muss. Sie haben kleine Kinder, die hin und wieder anderswo gern etwas zerdeppern oder Sie sind selbst ungeschickt und klumsig und möchten deshalb eine Haftpflichtversicherung abschließen? Im Paket geht das doch viel besser, und ehe Sie sich’s versehen, sind Sie gegen alles versichert, das Ihnen außerhalb eines Versicherungsbüros niemals zustoßen kann. Auch der Kindermund weiß ein Lied davon zu singen und schuf eine Pa­ro­die auf die Reklameparole eines großen Versicherungskonzerns: »Hoffentlich am Schwanz versichert«. Aber im Paket, bitte.

Wer die Welt »im Paket« anbietet, betrachtet auch ihre Bewohner paketweise, als Herde und Abmelkmasse, die nicht en detail, sondern en gros Gewinn abwirft, eben »im Paket«. Denn die Geschäftsordnung besteht: Wer nicht allein zugrunde geht, der geht zusammen, im Paket.

Super sagen

Alle sagen »super«, und das schon lange. Mindestens seit Beginn der Neunzehnhundertneunziger Jahre ist alles »super«, auf Österreichisch »ßuupá!«, auf Schweizerdeutsch »ßuuprr!«. Auch die beinahe schon verzweifelt deutliche Parodierung durch »Supi! Supi! Supi!«, die ich dem »Super«-Geschrei im Jahr 1993 entgegenwarf, richtete selbstverständlich nichts aus gegen die Inflation des »super« beziehungsweise sogar »das ist ja suuper!«

»Super« passt perfekt zur allgemein perfekten Superlativitis, in der nichts mehr »geht so«, »so lala«, »och ja, ganz gut« oder französisch »ça va« sein darf, denn das wäre dann schon »suboptimal«, also das Gegenteil von »super«. Die McKinseyisierung der Welt schafft eine eigene, mckinseyisierte Sprache, in der jeder Kosteneinsatz »minimiert«, jeder Gewinn »maximiert« und somit alles »optimiert« wird, zumindest theoretisch, und der einzige Laden, der garantiert immer verdient, heißt McKinsey. In Brechts Gedicht »Ein Fisch mit Namen Fasch« sind Funktion und Nutzen der McKinsey-Sorte Existenz treffend beschrieben. Niemals ist oder wäre die McKinseysprache das, was manche Leute als »rassistisch« oder »sexistisch« bezeichnen, wenn Geschlecht und Hautfarbe eines Menschen genannt werden; die McKinseysprache ist ganz neutral menschenfeindlich, sie kennt nur noch »Personen«, die man entlassen beziehungsweise »freisetzen« oder »freistellen« kann, und das ist unbedingt ein Fortschritt.

 

Ungemein tröstlich aber ist, dass es einen Ort gibt, an dem man ohne Bedenken »Super« sagen kann. Es handelt sich dabei um eine Tankstelle.

Entspannte Kommunikation

Der Mann am Nebentisch sieht aus wie Til Schweiger mit diesen Gesichtsflusen, über die man in ein paar Jahren sagen wird, sie seien in besonders peinlichen Zeiten Mode gewesen. Er trägt halblange schwarze Hosen und spricht mit ausladenden Handbewegungen. Ohne neugierig zu sein, erfährt man, dass sein »Projekt« gut läuft und »Perspektive hat« und alles »ganz entspannt« ist. Auch seine Freizeitgestaltung ist »der Hammer« und »total entspannt«, sagt er, ruckelt mit dem Kopf und rudert mit den Armen herum.

Seine Zuhörerin ist deutlich jünger als er, sie hat langes, dunkles Haar, leuchtend dunkle Augen und sagt nichts. Das wäre auch schwierig, denn er spricht ohne Unterlass über sein eines Thema: Wie er doch so großartig und alles so entspannt ist. Dabei starrt er sie aus engen Spermaaugen an, schenkt Wein nach, den er »echt super« findet und das auch mitteilt, sonst wüsste man es ja nicht, und dann wäre das Leben an den Nebentischen des großen Mannes inhaltslos und leer.

Sein Telefon klingelt, er spricht kurz hinein, »ja, alles klar, machen wir so, ganz entspannt«, und dann berichtet er der Dunkelhaarigen, dass auch »das nächste Ding total easy« sein wird. Irgendwann schweigt er tatsächlich mehrere Nanosekunden am Stück; ob er sich eine Zungenzerrung zugezogen hat? Die Dunkelhaarige nutzt die Gelegenheit und spricht. »Mein Freund«, hebt sie an, das ist deutlich, er unterbricht sie und fragt: »Wie läuft es denn so mit euch beiden, alles ganz entspannt?«

Sie spricht weiter, er verlegt sich aufs Interesseheucheln, sagt »Aaah ja«, nickt beständig und lässt seinen ejakulatfarbenen Blick auf ihr liegen, sie klammert sich an die Schutzworte »mein Freund«, und dann passiert das Malheur: Der Samen tritt ihm zwischen den Lidern aus, und sie reicht ihm ein Papiertaschentuch.

Männer, die »...und meine Wenigkeit« sagen

»Weniger wäre mehr gewesen«, lautet ein nicht selten zutreffendes Urteil. Manchmal will weniger aber auch nur mehr sein: Wenn jemand sich selbst »meine Wenigkeit« nennt, dann ist dieses Wenige weit mehr an Eitelkeit, als man sonst geboten bekommt.

»Meine Wenigkeit« klingt verdruckst und protzig zugleich und platzt schier vor geheuchelter Bescheidenheit. Wer »meine Wenigkeit« sagt, spricht von sich selbst in der dritten Person und ist schon gut fortgeschritten auf dem Weg in den Cäsarenwahn. Der hört sich im Endstadium dann so an: »Das hat ein Lothar Matthäus nicht nötig«, oder: »Der Papa geht jetzt mal in den Laden und dann kommt der Papa aber auch gleich wieder raus.« Es sind die Würstchen, die den Napoleon-Komplex kultivieren. Würstchen erkennt man daran, dass sie zu allem ihren Senf dazugeben müssen. Oder daran, dass sie »meine Wenigkeit« sagen.

Niemals hörte ich eine Frau sich selbst »Meine Wenigkeit« nennen. Keine Frau, und mag sie noch so mit sich hadern, bringt das über sich. »Meine Wenigkeit« ist männlich, eine Mischung aus Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung. Man bläst sich auf, man macht sich runter, und dazwischen ist nichts. Beziehungsweise eben »Meine Wenigkeit«.

Welches Kind hätte »Mein Urgroßvater und ich« von James Krüss gelesen, wenn das Buch »Mein Urgroßvater und meine Wenigkeit« hieße? Robert Gernhardts Roman »Ich Ich Ich« dürfte unter dem Titel »Meine Wenigkeit Meine Wenigkeit Meine Wenigkeit« kaum einen Leser gefunden haben, und Arthur Rimbaud wäre mit dem Satz »Meine Wenigkeit ist ein anderer« allenfalls als prätentiöser Selbstspreizer aufgefallen.

Vieles schon ist gegen den nicht sehr originellen und genau deshalb aber auch so gern genommenen und gehörten Satz »Ich liebe dich« vorgebracht worden. Verglichen mit »Meine Wenigkeit liebt dich« aber leuchtet er geradezu arsch- und sternenhimmelklar.

Blasenexperten

»China, also die ganze chinesische Wirtschaft, das ist doch nur eine einzige gigantische Blase. Und wenn die platzt ...«

Der ältere Herr am Nebentisch spricht in dramatischem Ton auf ein vergleichsweise etwas jüngeres Gegenüber ein, einen Mann Mitte 50, der die Bedeutsamkeitsbeschallung offensichtlich nicht als übermäßig beglückend empfindet, aber in einer Art Höflichkeitsstarre verharrt. Bevor er erfahren muss, was passieren wird, wenn die riesige chinesische Blase platzt, klingelt sein Telefon, das er, erleichterten Antlitzes, aus seiner Tasche zerrt. Sehend, wer ihn anruft, maskiert er sich mit einem Lächeln und flüstert über den Tisch: »Pardon, das ist meine Frau, ich muss da rangehn.«

Das fahle, gleichsam käsfußene Gesicht des Experten für das chinesische Blasenplatzen zeigt den unfrohen Ausdruck eines Mannes beim Interruptus. Die Worte des Welterklärers stehen im Gefühlsstau und hupen. Sie wollen ans Ziel und dürfen nicht; das sorgt für sichtlichen Unmut.

Kaum hat der Beschwallempfänger das eheliche Telefonat beendet, da schießt der Blasenmann schon wieder vor. Redundanz ist für ihn kein Kriterium, also auch kein Hinderungsgrund. »Also wenn diese ganze gigantische chinesische Wirtschaftsblase platzt«, hebt er erneut an, als das Telefon seines Zwangszuhörers abermals klingelt. »Nochmal meine Frau«, flüstert er wieder, hebt das Telefon ans Ohr und dreht sich seitlich weg.

Dem Blasenspezialisten hängt ein halber Satz aus dem Mund, auf der anderen Hälfte kaut er herum, sie quillt ihm geradezu aus den Augen. Er wendet sich mir zu; an wen er seine Expertise loswird, scheint ihm mittlerweile egal zu sein, Hauptsache, er bringt sie an den Mann.

Eine Zeitung kann Leben retten und Frieden spenden. Ich hebe sie vom Tisch hoch, schlage sie auf und bringe sie ins Gesichtsfeld zwischen den Blasenkopf und mich. Wenn Blasen platzen, wird es für gewöhnlich sehr nass, und es riecht dann auch nicht gut. Mich aber wird keine platzende chinesische Blase bespluddern und benetzen, und kein urinaler Dunst wird meine Nase schänden.

Eine ältere Dame tritt an den Nebentisch, an dem der Ehemann sich offenbar entschlossen hat, das Telefonat mit seiner Frau noch ein wenig auszudehnen. »Komm, Manfred«, sagt die Dame zu dem Mann mit der halben Blase im Mund, »wir müssen jetzt wirklich zum Geburtstag.«

Endlich verstehe ich: Blase ist ein anderes Wort für Familie. Wenn man sagt, dass die ganze Blase zu Besuch kommt, ist damit die Verwandtschaft gemeint. Hat der Mann chinesische Verwandte, und fürchtet er, auf der Familienfeier, die in einer Wirtschaft stattfindet, könne irgendjemandem aus der ganzen Blase der Kragen platzen, wie das bei Familienfeiern ja vorkommt? So wird es sein; und ist es nicht schön, wie die Sprache als solche uns immer wieder auf die Sprünge hilft?

Ich luge über den Zeitungsrand; der Blasentheoretiker ist rhetorisch nicht zu Potte gekommen und sieht entsprechend unbefriedigt aus. Seiner Frau muss er nicht mehr sagen, was auf die Welt zukommt, wenn die ganze chinesische Blase erst geplatzt ist, denn seine Frau kann das garantiert auswendig aufsagen, was sie aber, gepriesen sei sie, nicht tut.

Sie ziehen von dannen, ich winke dem Kellner, denn mir ist die geheimnisvolle Botschaft wieder eingefallen, die an Tankstellen zu lesen ist: Blasenfrei zapfen.

Rahmen skizzieren

Einmal, als Gott noch auf der Erde wandelte, machte er sich selbstständig und verkleidete sich als Fotograf. Er verstand sich auf seine Sache gut und erwarb sich bald Rang und Namen. Durch seine Bilder von den »schwarzen Löchern« wurde er weltberühmt, aber das bedeutete ihm nicht viel.

Lieber fotografierte er Geschöpfe wie Gänse und Seehunde und Menschen, und weil Gott nicht altmodisch war, stellte er seine Arbeit ins Internet, damit alle Menschen Freude an ihr haben könnten, so sie das denn überhaupt wöllten. Er hatte auf irgendeinem Empfang einmal etwas vom »freien Willen« reden hören, das entsprechend »hochinteressant« gefunden und sich dann fix an die Bar verdrückt.

Durch das Internet wurde ein reiches Paar auf ihn aufmerksam, das sich nachts stark miteinander langweilte und deshalb gern »surfte«, wie man so sagte. Das Duo wollte eine »Ereignishochzeit« begehen und ihn dafür als Hausfotografen anheuern. Die beteiligte Dame schickte Gott eine Elektropost: ob er das zum Termin tun könne und was er denn dafür »aufrufen« werde.

In seiner Zeit auf Erden hatte Gott das Wort Kostenvoranschlag ebenso erlernt wie die Fähigkeit, sich darüber zu freuen. Es war ein Synonym dafür, beispielsweise ein Honorar von einer Million Moppen verbindlich zu vereinbaren und später acht Milliarden zu fordern.

Aber weil er sich aus anderem Lehm geknetet und aus härterem Holz geschnitzt hatte, schickte er einen fairen Honorarvorschlag; auch seinen Assistenten, dessen pittoreske Wundmale immer gut ankamen bei der Kundschaft, stellte er trotz grassierender Inflation nicht höher als mit den üblichen 30 Silberlingen in Rechnung.

Zügig erhielt er elektronische Antwort. Die Dame teilte ihm mit: »Ich konnte zwischenzeitlich mit meinem Mann sprechen und dabei feststellen, dass der skizzierte Rahmen für diesen ganz privaten kleinen Event wohl doch etwas zu groß ist ...«

Gott freute sich ein Loch in den Bauch. Von allem, das er je erschaffen hatte, war ihm die menschliche Spezies am trefflichsten gelungen. An ihrer Sprache erkannte man ihre Vertreter immer und zuverlässig. Der »skizzierte Rahmen« war schon ganz große Kunst, auch der »ganz private kleine Event« stand nicht dahinter zurück, aber die Formulierung »ich konnte zwischenzeitlich mit meinem Mann sprechen« war einfach nicht zu schlagen.

Kein Wunder, dass ich Adam und Eva damals vor die Tür gesetzt habe, schoss es ihm durch den Kopf. Und zwar achtkantig, dachte er noch und lächelte zufrieden.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?