Drei Schwestern

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Drei Schwestern
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LUNATA

Drei Schwestern

Drei Schwestern

Drama

© 1901 Anton Tschechow

Originaltitel Tri sestry

Aus dem Russischen von August Scholz

Umschlagbild: George Theodore Berthon

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Personen

Erster Akt

Zweiter Akt

Dritter Akt

Vierter Akt

Über den Autor

Personen

Andrej Sergejewitsch Prosorow

Olga

Mascha

Irina

seine Schwestern

Fedor Iljitsch Kulygin, Maschas Gatte

Natascha, Andrejs Braut, später seine Gattin

Alexander Ignatjewitsch Werschinin, Oberstleutnant und Batteriechef

Iwan Romanowitsch Tschebutykin, Militärarzt.

Baron Tusenbach

Soljony

Rode

Fedolik

Offiziere

Anfissa, eine alte Kinderfrau

Ferapont, ein Diener

Offiziere

Dienerschaft

Zeit: Gegenwart

Ort der Handlung: Eine größere Garnisonstadt im Osten Russlands

Erster Akt

Im Hause der Prosorows. Gastzimmer, das durch Säulen vom Saal geschieden ist; draußen ist es heiter, sonnig. Man sieht, wie im Saal der Frühstückstisch gedeckt wird.

1. Auftritt

Olga (im blauen Uniformkleid einer Lehrerin am Mädchengymnasium); Mascha (im schwarzen Kleide, den Hut auf den Knien, sitzt und liest in einem Buche); Irina (im weißen Kleide, steht sinnend da.)

Olga. Heut' vor einem Jahr ist der Vater gestorben – gerade an Deinem Namenstag, Irina, am fünften Mai. Es war sehr kalt an dem Tage – es schneite sogar. Ich glaubte nicht, daß ich's überleben würde, – Du lagst ohnmächtig da, wie tot. Und nun ist kaum ein Jahr vergangen – und wir reden davon so gleichgültig, Du hast schon Dein weißes Kleid an, und Dein Gesicht strahlt. (Die Uhr schlägt zwölf.) Auch damals schlug gerade die Uhr. (Pause.) Ich erinnere mich noch – wie sie den Vater hinaustrugen, spielte die Militärkapelle, und auf dem Friedhof wurde geschossen. Merkwürdig übrigens: Er war doch General und Brigadekommandeur, und doch waren nur wenig Leute am Grabe. Allerdings fiel an dem Tage ein starker Regen – Regen und Schnee …

Irina. Wozu die Erinnerung auffrischen!

2. Auftritt

Olga, Mascha, Irina; an der Tafel im Saale erscheinen Baron Tusenbach, Tschebutykin und Soljony.

Olga. Heut' ist's warm, man kann die Fenster weit aufmachen – und doch haben die Birken noch nicht ausgeschlagen. Genau elf Jahre ist's her, daß der Vater die Brigade bekam und wir von Moskau abreisten. Ich hab's noch ganz frisch im Gedächtnis.: Es war Anfang Mai, und in Moskau prangte schon alles in schönster Blüte. So warm war's, alles von Sonnenschein übergossen. Elf Jahre sind seither vergangen – und ich erinnere mich noch an alles so genau, als ob wir erst gestern abgereist wären. Du mein Gott! Wie ich heut' morgen erwachte und die hereinflutende Lichtmasse und den Frühling draußen sah – da ward meine Seele von Freude erfüllt, und ich empfand eine heiße Sehnsucht nach der Heimat.

Tschebutykin. (im Saal). Nein, so'n Teufelskerl!

Tusenbach. Ist natürlich alles Unsinn!

Mascha (nachdenklich über das Buch gebeugt, pfeift leise eine Melodie).

Olga. Pfeif' nicht, Mascha. Wie kann man nur … (Pause.) Dieser Dienst im Gymnasium, dieses Stundengeben bis zum späten Abend verursacht mir ewig Kopfschmerzen. Ich glaube wirklich, ich werde schon alt. Während der vier Jahre, seit ich angestellt bin, ist mir's immer, als ob meine Kraft und meine Jugend Tag für Tag tropfenweise hinschwänden. Und nur ein Gedanke wächst und erstarrt in mir beständig …

Irina. Nach Moskau zurückzukehren. Das Haus verkaufen, alles hier aufgeben – und dann nach Moskau …

Olga. Ja – so bald wie möglich! Nach Moskau! (Tschebutykin und Tusenbach lachen.)

Irina. Unser Bruder wird wahrscheinlich bald Professor werden – denn der darf doch auf keinen Fall hier versauern! Bleibt nur die arme Mascha übrig.

Olga. Mascha kommt jedes Jahr zu uns nach Moskau, für den ganzen Sommer.

Mascha (pfeift leise eine Melodie).

Irina. Mit Gottes Hilfe wird sich schon alles ordnen lassen. (Schaut zum Fenster hinaus.) Ein Prachtwetter ist das heut'. Ich weiß nicht, warum ich so froh gestimmt bin! Heut' morgen fiel mir ein, daß mein Namenstag ist, und mit einem Mal empfand ich eine solche Freude, und ich gedachte meiner Kinderjahre, da Mama noch lebte. Was für wunderbare Gedanken gingen mir durch den Kopf – was für Gedanken!

Olga. Du strahlst heut übers ganze Gesicht, ausnahmsweise hübsch bist du. Auch Mascha ist hübsch, und Andrej wäre ein schöner Mann, wenn er nicht so stark geworden wäre. Das steht ihm gar nicht zu Gesichte. Und ich – ich bin alt geworden, und so abgemagert bin ich, jedenfalls vom Ärger mit den Mädchen im Gymnasium. Heut' bin ich frei und kann zu Hause bleiben – da hab' ich auch gleich keine Kopfschmerzen und fühle mich jünger als gestern. Achtundzwanzig Jahre bin ich nun alt … Alles ist schließlich gut, alles kommt von Gott – ich glaube aber: wenn ich verheiratet wäre und den ganzen Tag in meinem Heim zubringen könnte, – ich würde mich wohler dabei fühlen. (Pause.) Ich würde meinen Mann lieben.

Tusenbach (zu Soljony). Sie reden einen Unsinn zusammen – 's wird einem über, Ihnen zuzuhören. (Tritt in das Gastzimmer ein.) Ich hab' ja ganz vergessen: unser Batterie-Chef Werschinin wird Ihnen heut' seine Visite machen. (Setzt sich ans Klavier.)

Olga. Ah, sehr angenehm.

Irina. Ist er alt?

Tusenbach. Nein, in den besten Jahren. Höchstens vierzig, fünfundvierzig Jahre. (Klimpert leise.) Scheint ein famoser Kerl. Nicht dumm – das ist sicher. Nur spricht er etwas viel.

Irina. Ist er interessant?

Tusenbach. Es macht sich. Etwas stark verehelicht ist er: Frau, Schwiegermutter und zwei Töchter. Übrigens ist er schon zum zweiten Mal verheiratet. Überall, wo er Besuch macht, erzählt er, daß er eine Frau und zwei Töchter hat. Auch hier wird er's erzählen. Die Frau ist halb verrückt, trägt einen langen Zopf, wie ein Mädchen, spricht lauter hochtrabendes Zeug, philosophiert und macht jeden Augenblick einen Selbstmordversuch, jedenfalls, um ihren Mann zu ärgern. Ich wäre längst fortgelaufen von einer solchen Frau, er aber trägt es und beklagt sich nur darüber.

Soljony (tritt mit Tschebutykin aus dem Saal ins Gastzimmer). Mit einer Hand heb' ich nur anderthalb Pud, mit zweien dagegen fünf, ja sogar sechs Pud. Daraus schließe ich, daß zwei Menschen nicht nur doppelt, sondern sogar dreimal so stark sind als einer, oder vielleicht noch stärker…

Tschebutykin. (liest im Gehen die Zeitung »Swjet«). Gegen Ausfallen der Haare … zwei Drittel Lot Naphtalin auf ein halbes Quart Spiritus … aufzulösen und täglich zu gebrauchen … (Macht sich Notizen in ein Taschenbuch; zu Soljony.) Ich sag' Ihnen also: das Fläschchen wird gut zugekorkt, und durch den Korken wird ein Glasröhrchen gesteckt … und dann nehmen Sie ein kleines Quantum ganz gewöhnlichen Alaun …

Irina. Iwan Romanytsch! Lieber Iwan Romanytsch!

Tschebutykin. Was denn, mein Kindchen, mein liebes, gutes Herzchen?

Irina. Sagen Sie mal – warum bin ich heut' so glücklich? Als wenn ich auf dem Meer dahinsegelte: über mir dehnt sich der weite blaue Himmel, und große weiße Vögel schweben durch die Lüfte. Warum ist das nur so? Warum?

Tschebutykin. (küßt ihr zärtlich beide Hände). Mein weißer Vogel!

Irina. Wie ich heut' früh erwachte, aufstand und mich wusch, da war's mir mit einem Mal, als wäre mir alles auf dieser Welt hier klar, als wüßte ich, wie man leben soll. Ich weiß jetzt alles, lieber Iwan Romanytsch. Der Mensch soll sich beschäftigen, soll arbeiten im Schweiße seines Angesichts, wer er auch sei, und darin allein liegt der Sinn und das Ziel seines Lebens, sein Glück, sein Triumph. Wie schön ist es doch, ein Arbeiter zu sein, der mit Tagesanbruch aufsteht und auf der Straße Steine klopft, oder ein Hirt, oder ein Lehrer, der Kinder unterrichtet, oder ein Lokomotivführer. Ja es ist, bei Gott, besser, ein Ochse zu sein oder ein ganz gewöhnliches Lastpferd, das doch seine Arbeit tut, als eine junge Dame, die mittags um zwölf Uhr aufsteht, im Bett ihren Kaffee trinkt, dann sich zwei Stunden lang anzieht … o, wie schrecklich ist das! Ich dürste förmlich nach Arbeit – wie man bei großer Hitze nach einem Schluck Wasser dürstet. Und wenn ich von jetzt ab nicht früh aufstehen und arbeiten werde, – dann dürfen Sie mir Ihre Freundschaft kündigen, Iwan Romanytsch!

 

Tschebutykin. (zärtlich). Gewiß, gewiß, ich werde sie Ihnen kündigen …

Olga. Der Vater hat uns daran gewöhnt, um sieben Uhr aufzustehen. Jetzt erwacht Irina um sieben Uhr, liegt aber wenigstens bis neun Uhr im Bett und simuliert über irgend etwas. Und so ein ernstes Gesicht macht sie dabei!

Irina. Du hast Dich eben daran gewöhnt, mich als kleines Mädchen zu betrachten, und wunderst Dich, wenn ich ein ernstes Gesicht mache! Ich bin doch zwanzig Jahre alt!

Tusenbach. Sehnsucht nach der Arbeit! O mein Gott, wie kann ich dieses Gefühl begreifen! Ich habe nie im Leben gearbeitet! Ich bin in dem kalten, trägen Petersburg geboren, in einer Familie, die niemals Arbeit oder irgend welche Sorgen gekannt hat. Ich erinnere mich noch, wie ich aus dem Kadetten-Corps nach Hause kam: der Lakai zog mir die Stiefel aus, ich quälte alle Welt mit meinen Launen, und meine Mutter sah mit förmlicher Ehrfurcht zu mir auf und war höchst erstaunt, wenn andere nicht dasselbe taten. Man suchte mich auf jede Weise vor Arbeit zu bewahren. Aber auf die Dauer ist's doch nicht gelungen. – Diese Zeiten sind vorüber, und ein reinigender, kräftiger Sturm bereitet sich vor, der von unserer Gesellschaft die Trägheit, die Gleichgültigkeit, das Vorurteil gegen die Arbeit, die faule Langeweile hinwegblasen wird. Ich für meinen Teil werde arbeiten, und in fünfundzwanzig bis dreißig Jahren wird jeder Mensch arbeiten. Jeder!

Tschebutykin. Ich werde nicht arbeiten.

Tusenbach. Sie kommen nicht in Betracht.

Soljony. In fünfundzwanzig Jahren werden Sie, Gott sei Dank, nicht mehr auf der Welt sein. Sie gehen entweder in zwei, drei Jahren an Ihrem Spleen zu Grunde, oder ich werde mal wütend und schiess' Ihnen eine Kugel durch den Kopf.

Tschebutykin (lacht). Und ich habe tatsächlich nie in meinem Leben 'was getan. Seit ich von der Universität fort bin, hab' ich nicht 'nen Finger gerührt, nicht ein Buch angesehen – höchstens die Zeitungen hab' ich gelesen. (Zieht eine Nummer des »Nowoje Wremja« aus der Tasche.) Ich weiß alles aus den Zeitungen – z. B., daß es einen Schriftsteller Dobroljubow gegeben hat; aber was er geschrieben hat – davon hab' ich keine Ahnung … Der liebe Gott mag's wissen … Mein Lebtag hab' ich nichts getan, und doch hab' ich nie zu etwas Zeit gehabt … (Von der unteren Etage aus wird gegen den Fußboden geklopft.) Da, sehen Sie … man ruft mich unten schon wieder – wahrscheinlich ist jemand zu Besuch da. Ich komm' gleich zurück … warten Sie … (Eilt hastig davon, kämmt sich dabei den Bart.)

3. Auftritt

Olga, Mascha, Irina, Tusenbach, Soljony.

Irina. Er hat wieder irgend 'was ausgeheckt.

Tusenbach. Ja. Er ging mit so feierlicher Miene fort – jedenfalls wird er Ihnen gleich irgend ein Präsent bringen.

Irina. Ach … wie unangenehm!

Olga. Ja, es ist schrecklich. Er macht immer Dummheiten.

Mascha. (Erhebt sich und singt leise.) »Ein Eichbaum grünt am Meeresstrande, ein goldnes Kettlein hängt daran … ein goldnes Kettlein hängt daran …«

Olga. Du bist heut' in schlechter Stimmung, Mascha!

Mascha (Singt leise vor sich hin, setzt sich den Hut auf).

Olga. Wohin willst Du denn?

Mascha. Nach Hause.

Irina. Du bist doch sonderbar!

Tusenbach. Wie können Sie schon gehen – heut' am Namenstag!

Mascha. Das macht doch nichts! … Ich komm' übrigens am Abend wieder. Adieu, mein schönes Schwesterchen! (Sie küßt Irina.) Ich wünsch' Dir noch einmal: bleib' gesund und werde glücklich! Früher, wie Papa noch lebte, kamen immer dreißig, vierzig Offiziere, wenn bei uns Namenstag war, und 's ging fidel zu. Heut' – sind kaum anderthalb Mann da, und still ist's, wie in einer Wüste … ich geh' … Bin heute nicht bei Stimmung, hab' meinen melancholischen Tag – nimm's mir nicht übel. (Lacht unter Tränen.) Abends wollen wir plaudern – jetzt leb' wohl, meine Liebe. Ich will fort … irgend wohin …

Irina (unzufrieden). Nein, Du bist wirklich …

Olga (unter Tränen). Ich verstehe Dich, Mascha.

Soljony. Wenn ein Mann philosophiert, kommt manchmal schon recht nettes Zeug zum Vorschein; wenn aber eine Frau oder aber gar zwei Frauen philosophieren – na, da kann man gleich auf die Bäume klettern!

Mascha. Was wollen Sie damit sagen, Sie ganz abscheulicher Mensch?

Soljony. Nichts weiter. »Kaum hatte er noch ach! gesagt, als ihn der Bär am Halse packt.« (Pause.)

Mascha (zu Olga, ärgerlich). So flenne doch nicht! (Anfissa und Ferapont kommen mit einer Torte herein.)

4. Auftritt

Olga, Mascha, Irina, Tusenbach, Soljony, Anfissa, Ferapont.

Anfissa. Hier herein, mein Lieber! Geh' nur 'rein, hast ja saubre Stiefel. (Zu Irina.) Aus dem Landschaftsamt, von Michail Iwanytsch Protopopow … eine Pastete.

Irina. Ach, wie liebenswürdig! Sag', ich lasse schön danken! (Nimmt die Torte in Empfang.)

Ferapont. Was?

Irina (lauter). Ich lasse schön danken.

Olga (zu Anfissa). Altchen, gib ihm doch ein Stück Pastete! Geh' mit, Ferapont, Du bekommst Pastete!

Ferapont. Was?

Anfissa. Komm', Väterchen Ferapont Spiridonitsch. Komm'! (Ab mit Ferapont.)

Mascha. Ich kann Protopopow nicht leiden – diesen Michail Potapitsch oder Iwanytsch. Ihr hättet ihn nicht einladen sollen.

Irina. Ich hab' ihn auch nicht eingeladen.

Mascha. Das war recht. (Tschebutykin tritt ein, in Begleitung eines Soldaten, der einen silbernen Samowar trägt; allgemeines Erstaunen und Unzufriedenheit.)

5. Auftritt

Olga, Mascha, Irina, Tusenbach, Soljony, Tschebutykin, später Anfissa.

Olga (bedeckt ihr Gesicht mit den Händen). Seinen Samowar! Es ist unglaublich! (Geht an den Tisch im Saal.)

Irina. Aber liebster Iwan Romanytsch – was machen Sie denn da?

Tusenbach (lachend.) Ich sagte es Ihnen ja!

Mascha. Iwan Romanytsch, Sie besitzen einfach keine Scham.

Tschebutykin. Meine Lieben, meine Schönen – Sie sind doch für mich das Einzige, das Teuerste, was ich auf der Welt noch habe! Ich bin nun bald sechzig, bin ein alter Mann, ein armseliger, verlassener Greis … Nichts Gutes gibt's an mir, außer dieser Liebe zu Ihnen – wenn Sie nicht wären, würde ich längst nicht mehr auf der Welt sein … (Sieht sich um.) Was soll mir dieser Kram? Was soll er mir? (Zu Irina.) Mein liebes, gutes Kind, ich habe Sie gekannt vom Tage Ihrer Geburt an … ich habe Sie auf meinen Armen getragen … ich hab' Ihre verstorbene Mama so gern gehabt …

Irina. Aber warum denn solche kostbaren Geschenke?

Tschebutykin (ärgerlich, unter Tränen). Kostbare Geschenke … Geh'n Sie mir doch weg! (Zu dem Burschen, in den Saal zeigend.) Trag' den Samowar dort hinein … (Spricht ihr spöttisch nach.) Kostbare Geschenke … (Der Bursche trägt den Samowar in den Saal. Anfissa tritt in das Gastzimmer ein.)

Anfissa. Meine Lieben, ein fremder Oberst ist da! Er hat schon den Paletot abgelegt, Kinderchen, und kommt hier herein! (Zu Irina.) Sei nur recht freundlich, recht, Arinuschka! … (Ab; im Abgehen.) 's ist auch Zeit zum Frühstücken … o Gott …

Tusenbach. Jedenfalls Werschinin … (Werschinin tritt ein.)

6. Auftritt

Olga, Mascha, Irina, Tusenbach, Soljony, Tschebutykin, Werschinin.

Tusenbach. Oberstleutnant Werschinin!

Werschinin (zu Mascha und Irina). Habe die Ehre, mich Ihnen vorzustellen: Werschinin. Bin in der Tat sehr erfreut, daß ich Ihnen endlich meine Aufwartung machen kann. Was aus Ihnen geworden ist – ei, ei!

Irina. Nehmen Sie gefälligst Platz. Es ist uns sehr angenehm …

Werschinin. Wie ich mich freue, wie ich mich freue! Aber Sie sind doch drei Schwestern – ganz recht, ich erinnere mich! Dreier kleiner Mädchen erinnere ich mich. Die Gesichter sind mir nicht mehr gegenwärtig, aber daß Ihr Vater, Oberst Prosorow, drei kleine Töchterchen hatte – das schwebt mir ganz deutlich vor, aus eigenster Anschauung. Wie die Zeit vergeht – ach, ach, wie die Zeit vergeht!

Tusenbach. Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau hierher gekommen.

Irina. Ah, aus Moskau?!

Werschinin. Ganz recht, aus Moskau. Ihr verstorbener Papa war dort Batteriechef und ich war dort Offizier in derselben Brigade. (zu Mascha.) Ihres Gesichts kann ich mich, glaub' ich, dunkel entsinnen …

Mascha. Und ich kann mich Ihrer nicht mehr entsinnen.

Irina. Olja! Olja! (Schreit in den Saal hinein.) Olja, so komm' doch her!

Olga (kommt aus dem Saal in das Gastzimmer).

Irina. Denk' Dir nur: es hat sich herausgestellt, daß Oberstleutnant Werschinin aus Moskau ist!

Werschinin (zu Olga). Sie müssen Olga Sergejewna sein, die Älteste … und Sie Maria … und Sie Irina, die Jüngste …

Olga. Sind Sie geborener Moskauer?

Werschinin. Ich habe in Moskau die Schule besucht, bin dort Soldat geworden und habe lange Jahre da gedient. Jetzt hab ich eine Batterie bekommen – und bin, wie Sie sehen, hierher versetzt worden. Persönlich erinnere ich mich Ihrer nicht mehr, nur daß Sie drei Schwestern waren, weiß ich. Ihren Vater dagegen seh' ich noch leibhaftig vor mir – ganz genau hab' ich sein Bild im Gedächtnis. Ich hab' in Moskau in Ihrem Hause verkehrt …

Olga. Wirklich? Ich glaubte doch immer, ich hätte mir alle gemerkt – und mit einem Mal …

Werschinin. Man nannte mich Alexander Ignatjewitsch …

Irina. Alexander Ignatjewitsch … daß Sie aus Moskau sind, ist wirklich eine angenehme Überraschung für uns!

Olga. Wir sind nämlich auf dem Sprunge, wieder dahin zu ziehen!

Irina. Zum Herbst denken wir schon dort zu sein. Es ist ja unsere Heimatstadt, wir sind da geboren … In der Staraja-Bassmannaja-Straße … (Beide lachen vor Freude.)

Mascha. Ganz unerwartet sehen wir einen Landsmann wieder. (Lebhaft.) Jetzt erinnere ich mich! Weißt Du noch, Olja – bei uns sagten sie immer der »verliebte Major«. Sie waren damals Leutnant und in irgend jemanden verliebt, und man nannte Sie scherzweise den Major …

Werschinin (lacht). Ganz recht … der »verliebte Major«, das stimmt ganz genau …

Mascha. Sie hatten damals nur einen Schnurrbart … O, wie alt sind Sie geworden! (Unter Tränen.) Wie alt sind Sie geworden!

Werschinin. Ja, damals, als man mich den »verliebten Major« nannte, war ich noch jung, und wirklich sehr verliebt. Jetzt ist's damit vorbei.

Olga. Aber Sie haben doch noch kein einziges graues Haar! Sie sind gealtert, aber noch nicht alt.

Werschinin. Nun, ich bin doch schon im Dreiundvierzigsten. Sind Sie schon lange von Moskau fort?

Olga. Elf Jahre ist's her. Aber warum weinst Du denn, Mascha? Was ist Dir denn? (Unter Tränen.) Sieh' – auch ich fang' an zu weinen …

Mascha. Nichts ist mir. In welcher Straße haben Sie dort gewohnt?

Werschinin. In der Staraja Bassmannaja. Und eine Zeit lang wohnte ich in der Deutschen Straße.

Olga. Das liegt nicht weit ab.

Werschinin. Von der Deutschen Straße ging ich immer nach der roten Kaserne. Man kommt dort über eine einsame Brücke – so düster ist's da – das Wasser rauscht … wenn man dort allein vorübergeht, wird einem ganz traurig ums Herz. (Pause.) Und hier haben Sie einen so prächtigen, wasserreichen Strom! Ein wunderbarer Strom!

Olga. Ja, aber es ist kalt hier. Kalt ist's … und dann haben wir die Mückenplage …

Werschinin. Ich bitte Sie! Hier ist ein so gesundes, treffliches, echt slawisches Klima! Der Strom, der Wald … auch Birken haben Sie hier, die ich mehr liebe als alle anderen Bäume. Hier muß sich's wirklich gut leben. Nur eins ist sonderbar: daß der Bahnhof zwanzig Werst von der Stadt entfernt ist … Und kein Mensch weiß, warum das so ist …

 

Soljony. Ich weiß, warum das so ist. (Alle sehen nach ihm hin.) Wenn er näher läge, dann wär' er nicht so weit, und weil er so weit ist, darum liegt er eben nicht nahe. (Peinliches Schweigen.)

Tusenbach. Sie sind ein Spaßvogel, Wassili Wassiljewitsch.

Olga (zu Werschinin). Jetzt besinn' auch ich mich auf Sie. Ganz deutlich.

Werschinin. Ich habe Ihre Mutter gekannt.

Tschebutykin. Eine schöne Frau war's, Gott habe sie selig …

Irina. Mama ist in Moskau begraben.

Olga. Auf dem neuen Marien-Friedhof.

Mascha. Denken Sie nur, ich fange schon an, ihr Gesicht zu vergessen! So wird's auch uns mal ergehen – man wird uns vergessen.

Werschinin. Ja. Man wird uns vergessen. Das ist mal so unser Schicksal, dagegen läßt sich nichts tun. Was uns jetzt wichtig und bedeutungsvoll vorkommt, wird mit der Zeit vergessen werden oder uns unwichtig erscheinen. (Pause.) Und es ist interessant, daß wir jetzt gar nicht sagen können, was eigentlich später als wichtig und bedeutungsvoll und was als unbedeutend und lächerlich gelten wird. Hat man nicht die Idee des Kopernikus oder die Pläne des Kolumbus in der ersten Zeit unnütz und lächerlich gefunden, während irgend ein läppischer Unsinn als Wahrheit galt? Und ebenso ist's möglich, daß unsere heutigen Zustände, mit denen wir so zufrieden sind, späteren Geschlechtern höchst seltsam, unvernünftig, unlauter, ja vielleicht sogar sündhaft erscheinen werden …

Tusenbach. Wer kann's wissen? Vielleicht wird man unsere Zeit einmal sogar eine große Zeit nennen und ihr Anerkennung zollen. Wir haben keine Folter mehr, keine Todesstrafe, keine Einfälle wilder Völker. Allerdings haben wir trotz alledem noch Elend genug.

Soljony (mit feiner Stimme). Zip, zip, zip … Unser Baron macht sich nichts aus Grütze – der wird schon vom Philosophieren satt!

Tusenbach. Wassili Wassilitsch, ich bitte Sie – lassen Sie mich in Ruhe … (Setzt sich auf einen andern Platz.) Das wird auf die Dauer langweilig.

Soljony (mit feiner Stimme). Zip, zip, zip …

Tusenbach (zu Werschinin). Es gibt so viele Leiden, unter denen die Menschen heut' seufzen – und doch heißt es, daß unsere gesellschaftlichen Zustände in sittlicher Beziehung entschieden fortgeschritten sind.

Werschinin. Gewiß, gewiß, allerdings.

Tschebutykin. Sie sagten eben, Baron, man werde unsere Zeit 'mal eine große Zeit nennen; darum bleiben die Menschen aber doch klein! … (Erhebt sich von seinem Platz.) Sehen Sie, was für ein kleiner Kerl ich zum Beispiel bin! Na, wenigstens hab' ich jetzt einen Trost: bin ich klein, so ist meine Zeit doch groß.

(Hinter der Szene Geigenspiel.)

Mascha. Das ist unser Bruder Andrej, der da spielt.

Irina. Er hat studiert und wird jedenfalls Professor werden. Der Vater war Soldat – der Sohn hat die wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen.

Mascha. Es war Papas Wunsch.

Olga. Wir haben ihn heut' ein bisschen geärgert. Er scheint nämlich ein klein wenig verliebt …

Irina. In eine hiesige junge Dame. Sie wird heut' bei uns sein, aller Wahrscheinlichkeit nach.

Mascha. Sie kleidet sich ganz entsetzlich. Als Moskauer werden Sie mich begreifen; ich kann's nicht ansehen, wie sie sich hier tragen; sie beleidigen mich geradezu, diese hiesigen Modedamen. Nicht bloß geschmacklos und unmodern – nein, geradezu kläglich kleiden sie sich. Diese sonderbaren, grellen, gelben Röcke, mit den abgeschmackten Fransen dran, und dazu die knallroten Jäckchen. Und die Backen so glatt angeseift, so glänzend! Andrej ist gar nicht verliebt – ich kann's nicht glauben, er hat doch Geschmack. Er spaßt nur mit uns, will uns ärgern. Ich hörte übrigens gestern, daß sie Herrn Protopopow heiratet, den Vorsitzenden des hiesigen Landschaftsamts. Das wäre nett … (Ruft nach der Seitentür hin.) Andrej, komm' doch her! Nur auf 'nen Augenblick, mein Lieber! (Andrej kommt herein.)

7. Auftritt

Olga, Mascha, Irina, Tusenbach, Soljony, Tschebutykin, Werschinin, Andrej.

Olga (stellt vor). Mein Bruder, Andrej Sergejewitsch.

Werschinin. Werschinin …

Andrej. Prosorow … (Wischt sich den Schweiß von der Stirn.) Sie sind als Batteriechef zu uns versetzt?

Olga. Denk' Dir, Alexander Ignatjewitsch kommt aus Moskau!

Andrej. Ach! Da gratulier' ich Ihnen – meine lieben Schwestern werden Ihnen schön zusetzen!

Werschinin. Ihre Schwestern sind meiner jetzt schon überdrüssig!

Irina. Sehen Sie doch, was für einen hübschen Portätrahmen mir heut Andrej geschenkt hat! (Zeigt den Rahmen.) Das hat er selbst gemacht.

Werschinin (betrachtet den Rahmen und weiß nicht, was er sagen soll). Ja … sehr nett …

Irina. Auch den Rahmen dort über dem Piano hat er gemacht.

Andrej (macht eine abweisende Handbewegung und geht auf die Seite).

Olga. Er ist nicht nur unser kleiner Gelehrter, sondern spielt auch die Geige und macht allerhand hübsche Sägearbeiten – mit einem Wort: ein Meister in allen Künsten. Andrej, so bleib doch da! Er hat nämlich die Gewohnheit, immer wegzulaufen, wenn Gesellschaft da ist. Komm' doch her! (Mascha und Irina fassen ihn unter die Arme und führen ihn lachend zurück.)

Mascha. Komm', komm'!

Andrej. Laßt mich, bitte!

Mascha. Wie komisch Du doch bist! Alexander Ignatjewitsch wurde früher immer der »verliebte Major« genannt, und er hat sich gar nicht darüber geärgert.

Werschinin. Nicht im geringsten!

Mascha. Und Dich will ich jetzt immer den »verliebten Geiger« nennen.

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