Die Judenmadonna

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Die eine stand, mit einer herrlichen Krone auf dem schön gelockten Kopf, einem langen Stab mit dem Christenkreuz und einem Weinkelch in der Hand und schaute triumphierend hinüber zu dem anderen Mädchen auf der gegenüberliegenden Seite, das ebenso schön war. Aber das andere Mädchen blickte traurig zu Boden, das heißt, es hätte zu Boden geblickt, wären die mandelförmigen Augen nicht durch eine dünne Binde geblendet gewesen. Alles hing herab an ihm, das kaum gewellte Haar, der edle Kopf, das Buch in seiner Hand, die zerbrochene Lanze, die es hielt und deren drei Teile jeden Augenblick herabzufallen drohten.

So stand Golda eine ganze Weile, ohne zu bemerken, dass ein Mann sie nahebei mit offenem Mund anstarrte.

»Schön sind sie, nicht wahr?«, sprach plötzlich eine sanfte, dunkle Männerstimme hinter ihr.

Zu Tode erschrocken fuhr Golda herum. Vor ihr stand ein junger Mann. Er war hochgewachsen, hatte kluge, ernst dreinblickende dunkle Augen und braunes, dichtes Haar. Sein Kopf trug ein grünes Barett, und er war vornehm gekleidet in ein schwarzes Wams und leuchtend rote Beinkleider. Verwundert ruhte sein Blick auf ihr, ganz ohne die mit Verachtung gemengte Geilheit, die sie sonst von christlichen Männern und Knaben gewohnt war. Ein leichtes Lächeln ließ seine weißen Zähne sehen. Golda bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper. Allmählich wurde sein Blick ernst.

»Ja«, sagte der Mann nachdenklich und blicke sie so durchdringend an, dass sie spürte, wie ihr das Blut bis unter die Haube stieg, »Schönheit ist selten und kostbar. Glücklich diejenige, die sie hat. Und glücklich ist der, der sie vorfindet. Noch glücklicher kann der Meister sein, der sie abzubilden versteht. Der dort, der hat es gekonnt.«

Golda stand wie gelähmt. Der Fremde löste seinen Blick von ihr und versank ganz in Betrachtung der steinernen Mädchen.

»So berückend sind sie, und dann noch so voller Bedeutsamkeit. Sicher weißt du, schöne Jungfer, was sie darstellen?«

Das Mädchen errötete heftig und schüttelte schüchtern den Kopf. Schöne Jungfer? Sie war schön? Kein Mann hatte jemals so etwas zu ihr gesagt. Was war das hier? Was, wenn er sie nicht in Ruhe ließ? Ihr Herz klopfte so laut wie eine Trommel. Und es setzte einen Sprung aus, als sie verwirrt dachte: Er ist auch schön. Für einen Mann.

Er lächelte.

»Du bist wohl nicht aus Straßburg?«

Golda schüttelte abermals den Kopf.

»Nun, dann will ich es dir gern verraten. Die linke Schöne dort, das ist die Ecclesia, das Sinnbild unserer heiligen Mutter Kirche, lieblich wie die Heilige Jungfrau selbst. Und die rechte gegenüber, das ist die mit Blindheit geschlagene, machtlose Synagoga, zwar ebenso schön, aber eben doch Jüdin … kennst du nicht die Worte aus dem Passionsspiel:

Zum Zeichen, dass Ihr all seid blind

Und dass ihr habt einen falschen Glauben

So tat ich dir verbinden die Augen

Und brach dir dein Banner entzwei.«

Als hätte sie ein Schlag in die Magengrube getroffen, knickte Golda in der Mitte zusammen und stöhnte auf. Hatte der Fremde sie erkannt? Ertappt? Oder war es nur ihr Gewissen, das sie schlagartig daran erinnerte, wer sie war und wohin sie gehörte?

»Was hast du? Ist dir nicht wohl?«, fragte der Fremde und musterte sie besorgt.

»Doch, doch … nein … ich …«, stammelte sie hastig. »Verzeiht, mir ist ein wenig übel, ganz plötzlich.«

»Nun, dann solltest du dich vielleicht lieber setzen«, sagte der fremde Mann und wandte den Kopf suchend nach einem geeigneten Platz über die Schulter.

»Nein, nein, es geht nicht. Ich muss fort!«

Golda drehte sich um und rannte, so schnell sie ihre Beine trugen, zurück zum Markt. Sie hörte ihn noch rufen, als das Marktgedränge sie verschluckte.

Schlettstadt, in der Salzgasse

Die zwei Mönche auf ihren Pferden näherten sich langsam dem Dominikanerkloster, in dessen Mauern sie die Nacht zubringen wollten. Heinrich Kramer überfiel ein Gefühl dumpfer Beklommenheit, wann immer er an den Ort seiner Geburt zurückkehrte. Zu jedem Gässchen, jedem Haus, jeder Kirche hätte er eine Geschichte erzählen können. Es waren Geschichten, die niemand hören wollte. Am wenigsten er selbst.

Als sie durch die Salzgasse auf das Kloster zuritten, brachte Heinrich widerstrebend sein Pferd zum Stehen und zeigte auf ein neues, großes Gebäude, hinter dessen drei hohen Spitzbogenfenstern fernes Stimmengemurmel zu vernehmen war.

»Das ist die Schule, nach der Ihr mich gefragt habt. Die Lateinschule«, sagte er knapp.

Konrad von Dettighofen blinzelte gegen das Sonnenlicht und nickte anerkennend.

»Diese Schule hat, wie man hört, einen hervorragenden Ruf, bis weit über Eure Stadt hinaus. Welch ein Glück für Euch, dass auch Ihr sie besuchen durftet, Bruder Heinrich.«

Heinrich schwieg.

Langsam bereute er die elende Dienstfertigkeit, mit der er dem Schaffhausener Abt seine Hilfe angeboten hatte. Diese Reise in das Antoniterkloster zu Isenheim war wirklich ein Fehler gewesen. Das hatte er nun davon. Dieses Bildnis dort in der Kirche des Spitals hatte ihn schon schlimm genug getroffen. Es hatte ihn an sie erinnert, die schändliche Kreatur, diese Jüdin. Und nun noch dies.

Das letzte Jahr, das er bei den Eltern hatte zubringen müssen, war vor allem von einem geprägt gewesen: Geschrei. Er wachte morgens auf vom Brüllen seines Vaters, und wenn er nach Hause kam, gellte das schrille Gekeife seiner Mutter durch das Haus und immerzu ertönte das Geplärr einer der Säuglinge, die seine Mutter jährlich warf wie eine Zuchtstute. Und oft schlug sein Vater seine Mutter. Er schlug sie zu Recht, denn sie war ein böses Weib, das ihn, wie Heinrich später zu seinem Entsetzen erfahren sollte, vom Tag der Hochzeit an schamlos mit beinahe jedem Kerl betrogen hatte, der ihr in die Schürzen fasste. Und seine Mutter prügelte dafür Heinrich, das einzige Kind, das den Hunger und den Schmutz, der in der dunklen, feuchten Kammer herrschte, überlebt hatte.

In der Lateinschule war es dagegen fast so still gewesen wie in einem Kloster. Es gab den kleinen, reinlichen Schlafsaal für die wenigen Zöglinge, die nicht bei ihren Eltern wohnten. Es gab jeden Morgen Brei oder Suppe und jeden Abend Brot und Fleisch. Und es gab die Nächte, in denen Heinrich von seinem Magister geweckt wurde. Ludwig Dringenberg hatte alle paar Wochen, meist nach Mitternacht, an seinem Bett gestanden und ihm sanft über den braunen Lockenkopf gestreichelt. Dann wusste Heinrich, dass er ihn holen kam.

Wenn er dann hinterher wieder in seinem Bett lag und mit den Schmerzen und mit dem Brechreiz kämpfte, hatte er gelernt, sich abzufinden, dass alles im Leben seinen Preis hat. Wenn dies der Preis war, den er zahlen musste, um dem Elend zu entkommen, dann zahlte er ihn. Der Magister sprach oft davon, ihn Theologie studieren zu lassen, auf seine Kosten, in Freiburg, und ihn danach ebenfalls als Lehrer an die Schule zu holen. Aber Heinrich hatte in seinem kurzen Leben gelernt, dass auf Versprechungen kein Verlass war. Er würde ins Kloster gehen müssen und ein reines, gottgeweihtes Dasein führen, wenn er es jemals schaffen wollte, sich reinzuwaschen von der Ungeheuerlichkeit dieser widernatürlichen Sünden.

Konrad von Dettighofen trieb sein Pferd an und murmelte beim Weiterreiten: »Dieser Magister Dringenberg muss ein bedeutender Mann sein. Von dem, was er mit dieser Institution geschaffen hat, wird nur Gutes für die Christenheit entstehen, davon bin ich überzeugt!«

Heinrich warf den Kopf in den Nacken und blickte Konrad einen Moment lang nachdenklich an. Dann sprach er: »Ich versichere Euch, dass ich wenigstens alles in meiner Macht stehende tun werde, um reichlich dazu beizutragen, Hochwürdigster Herr Abt!«

Straßburg, beim Münster Unserer Lieben Frau

Ihre Füße schlugen auf den Boden wie Trommelstöcke. Leute drängten sich Golda in den Weg, sie stieß mit einem dicken Bauern zusammen, murmelte eine Entschuldigung und rannte blindlings weiter. Sie drehte sich nach allen Richtungen herum, glitt auf Kohlblättern und Schlachtabfällen aus und lief schließlich aufs Geratewohl in ein dunkles Seitengässchen. Dort lehnte sie keuchend an einer Hauswand und versuchte, sich zu besinnen, in welche Richtung sie sich wenden musste, als plötzlich, hoch über ihrem Kopf, eine Magd das Fenster aufriss, »Habt Obacht!« hinausschrie und ohne Weiteres schwungvoll ein Nachtgeschirr in die enge Gasse leerte. Golda sprang mit einem Schrei beiseite, rannte auf das Ende des Gässchens zu und stand plötzlich am Ufer des Flusses. Wenigstens wusste sie jetzt wieder, wo sie war.

Aber wo lag von hier aus nur dieser Rossmarkt? Da fiel es ihr wieder ein: die Strömung. Bei ihrem Eintreffen hatten die Wäscherinnen mit dem Rücken gegen die Strömung gestanden. Das musste ihre Richtung sein. Sie hastete das Ufer entlang. Sie würde so zwar ewig brauchen, aber von hier aus würde sie nie den Weg durch die engen, unbekannten Gassen finden. Gerade dachte sie noch, dass es vielleicht besser wäre, beim Laufen nicht hinunter zu sehen, als plötzlich ein Blitz einschlug und sie zu Boden warf.

Als sie sich mit Mühe aufrichtete, um zu erkennen, worüber sie gestolpert war, blickte sie direkt in das Gesicht Jakob ben Josuas, ihres Vaters. Seine Stirn war rotglühend und schweißüberströmt, und seine Augen funkelten unheilverkündend.

»So treibst du dich also herum, du Metze! Warte, ich werde dich lehren …!«

Zwei gewaltige Maulschellen trafen sie rechts und links, dass ihr Hören und Sehen verging.

Jakob zerrte sie an den Haaren, die unter der verrutschten Haube hervorquollen, hoch und schlug ihr die Faust ins Gesicht. Er hatte nicht sehr stark zugeschlagen, aber dennoch schoss ihr gleich das Blut aus der Nase. Golda schrie vor Schmerz auf. Kinder und Gassenjungen blieben stehen, Fensterluken öffneten sich, Hunde begannen zu kläffen und eine fröhliche Weiberstimme rief: »Komm rasch, Margrit, sieh nur, wie der Jude seine Tochter prügelt!«

 

Jakob, rot und verschwitzt, riss Goldas Bündel auf, zerrte das Mäntelchen mit dem Judenfleck hervor und warf es ihr ins Gesicht. »Da!«, zischte er ihr zu, »schnell, leg es um, bevor es jemand sieht. Und bevor ich dich umbringe!«

Es wurde eine traurige Heimreise.

Jakob hatte die beiden Prachtschimmel für einen sehr guten Preis an den Mann gebracht und überlegte, ob er Frau und Tochter zur Feier des Tages auf dem Hauptmarkt bei dem maurischen Juden, der eine große Auswahl von morgenländischen Köstlichkeiten anbot, etwas von dem teuren, mit Anissamen parfümiertem Zuckerwerk erstehen sollte, als er die Sonne schon im Westen stehen sah und ihm klar wurde, dass seine Tochter längst, ja schon vor einer Ewigkeit hätte zurückkehren müssen. Einer Jüdin konnte in einer fremden Stadt alles passieren.

Schwitzend und keuchend war er den Uferpfad entlang gerannt, als er in der Ferne seine Tochter heranhasten sah. Sie bemerkte den Vater gar nicht und sie lief so schnell, dass sie gegen ihn prallte und unsanft auf den Boden fiel. Die erste Maulschelle hatte er ihr aus purer Erleichterung gegeben, weil sie doch noch lebendig vor ihm stand, doch dann hatte seine Wut überhandgenommen.

Nun trotteten sie auf ihren Eseln schleunigst den Weg nach Rosheim zurück, auf dem sie gekommen waren, beide wortlos, Golda ab und an das Blut hoch schnaubend, das ihr noch immer aus der Nase lief. Stumm reichte Jakob ihr ein Tuch, das er stets einstecken hatte, und gab sich Mühe, nicht in ihr verschwollenes Gesicht zu sehen. Und doch, hatte er nicht das Recht, sie zu strafen? Nun, immerhin war sie tapfer und weinte nicht. Er hätte gern ein Wort mit ihr gesprochen, aber er wusste beim besten Willen nicht, wie er anfangen sollte. Golda war ein kluges Mädchen und in der Regel alles andere als leichtsinnig. Wenn sie halbnackt, mit gelöstem Haar und obendrein gänzlich ohne den gelben Judenring in einer großen Stadt wie Straßburg herumlief, dann musste ihr klar sein, welche Folgen das hätte haben können.

Es war bereits kurz vor Toresschluss, als sie endlich Rosheim erreichten, und Jakob hatte Mühe, die Wächter dazu zu bewegen, sie noch einzulassen.

»Alles deine Schuld«, brummte er wütend. Golda senkte den Blick und schluckte. Sie hätte ihrem Vater so gern gestanden, wie leid ihr ihre Verfehlung tat, oh, wie leid! Aber sie wusste genau, dass sie bei dem ersten Wort in Tränen ausbrechen würde. Nein, lieber wollte sie sterben. Als beide endlich wortkarg und erschöpft im Hof der Schwester eintrafen, warf Lea nur einen Blick auf Bruder und Nichte und ahnte, dass etwas vorgefallen sein musste.

»Goldele, um Himmels Willen! Wie siehst du nur aus? Was ist passiert? Bist du gefallen?«

»Nein, das ist sie nicht!«, knurrte Jakob unwirsch. »Eine Tracht Prügel hat sie bezogen von mir, das ist los.«

»Was? Jakob, du Grobian! Was fällt dir denn ein, dein Kind blutig zu schlagen?«

»Glaub mir, Schwester, wenn du wüsstest, was sie getan hat, hättest du’s auch nicht anders gemacht. Und nun reden wir nicht mehr davon.«

»Aber was um alles in der Welt hat sie denn getan?«

»Vielleicht erzählt sie es dir ja. Ich werde es bestimmt nicht tun. Ich schäme mich viel zu sehr, ein so loses Frauenzimmer zur Tochter zu haben!« Sprach’s und verschwand die Treppe hinauf.

Die Tür knallte hinter ihm zu. Lea schüttelte den Kopf. Da kam Jael herein und stieß einen leisen Schreckenslaut aus, als sie Goldas arg zugerichtetes Gesicht sah.

»Ich hole gleich kaltes Wasser«, sagte sie und verschwand in den Hof.

Die Tante indessen hob Goldas Kinn an und blickte ihr streng ins Gesicht: «Sag, was hast du getan, Mejdele, um deinen Vater so zu erzürnen? Nun?«

Über Goldas Schultern lief ein Zittern, und als sie die Augen zu ihrer Tante hob, standen sie voller Tränen. Augenblicklich schmolz Leas weiches Herz.

»Nun gut. Sag es mir ein andermal. Morgen früh, von mir aus. Wollen mal sehen, dass wir dich fürs erste wieder ein wenig instand setzen. Jael, wo bleibst du denn mit dem Wasser?«

Jael keuchte schon mit einem Eimer Brunnenwasser die Treppe hoch. Lea holte ein Leinentuch, tauchte es in das kalte Wasser und legte es vorsichtig auf ihr geschwollenes Gesicht. Golda stöhnte laut auf. Die Kälte ließ den Schmerz erst richtig auflodern. Sie spürte, wie die Kusine ihr vorsichtig das Blut von Hals und Händen wusch, und sie war dankbar, dass niemand ihr mehr Fragen stellte.

Später, als sie neben Jael im Bett lag, hielt nicht nur ihr dröhnender Schädel sie wach. Unruhig warf sie sich hin und her. Jael, das war zu merken, schlief auch noch nicht. Eine lange, lange Weile lauschte Golda in die Stille hinein, um an Jaels Atem zu prüfen, ob sie schon schlief.

Da hörte sie plötzlich unvermutet Jaels Stimme: »Und?«

»Hast du mich erschreckt! Ich dachte, du schläfst schon längst.«

»Ja, und?«

»Und was?«

»Stell dich nicht so dumm! Was passiert ist, will ich wissen. Mir wirst du es doch sagen, das weiß ich.«

Golda seufzte.

»Also gut. Ich bin ohne den Judenfleck gegangen.«

So bedrückt sie auch war, sie musste plötzlich kichern, denn so etwas wie Stolz auf ihre Tollkühnheit machte sich breit in ihr. Und prompt ließ Jael sich anstecken.

»Scht, leise! Ja, ich bin ohne das Mäntelchen mit dem Fleck über den Markt gegangen, ganz ohne, so dass man ein wenig mehr von der Haut sehen konnte, so wie bei den anderen Mädchen in Straßburg. Glaub mir, viele gehen noch viel weiter ausgeschnitten und sind dennoch achtbare Bürgerinnen.«

»Ja, aber du bist schließlich Jüdin. Ojoj, wenn ich so was gemacht hätte, ich glaube, mein Vater hätte mich totgeschlagen.« Von draußen drang eine Zeitlang nur das Geräusch der zirpenden Grillen zu den beiden hinein.

Dann war Jael wieder zu hören: »Und, wie war es?«

»Ach, es war so herrlich! Sie haben mich behandelt wie ihresgleichen. Ganz so wie jeden anderen auch. Und mich nicht ausgenommen bei jedem Geschäft. Und da war auch …«

Abrupt hielt Golda inne. Nein, sie wollte nichts über den Fremden mit den schönen Augen und der sanften Stimme verraten, der sie angesprochen hatte. Das musste sie als ihr Geheimnis hüten, das spürte sie deutlich. Sie hatte mit einem Christen gesprochen, mit einem fremden Mann, und das war eine schreckliche Sünde. Und das Schlimmste war, dass es sie auf so seltsame Weise selig machte.

Straßburg, in der Laternengasse

»Herrgott, Martin, wo bleibst du denn nur?«

Der aufgebrachte junge Mann, der dort stand und gerade dabei war, zwei muntere Apfelschimmel loszubinden, war rot vor Zorn. Mit dem ansprechenden, bartlosen Knabengesicht und den aufgeworfenen Lippen sah er, Ludwig Schongauer, dem jüngeren Bruder fast zum Verwechseln ähnlich.

»Ich stehe schon eine halbe Ewigkeit hier und warte. Du wolltest doch längst zurück sein. Wenn wir hier für heute Nacht kein vernünftiges Obdach kriegen, bringe ich dich um!«

Der andere, der junge Mann, der vor einer Weile beim Münster Unserer Lieben Frau lange nach der unbekannten Jungfrau gesucht hatte, die er angesprochen und dann eben so schnell wieder aus den Augen verloren hatte, sah seinen Bruder an, als wäre er Luft.

»He, Mensch, wo bist du mit deinen Gedanken?«

»Verzeih Ludwig. Verzeih die Verspätung. Aber wenn du wüsstest, was mir vorhin am Liebfrauenmünster passiert ist …«

»Ist mir gleich, was dir am Münster passiert ist. Alles, was ich will, ist eine Kammer für die Nacht finden, und zwar schnell. Am Markttag! Da muss man rechtzeitig Unterkunft suchen, sag ich dir. Keine Lust, die Nacht im Stall zu verbringen, mit besoffenen Viehhändlern, und womöglich noch ein Messer zwischen die Rippen zu kriegen. Hier, nimm deine Liese.«

Auf der Gasse herrschte ein solches Gedränge, dass sie bald hintereinander gehen mussten. Ludwig, der Ungeduldigere von beiden, sprach schließlich einen Knaben an, der, schon bevor der fremde Mann seine Frage geäußert hatte, auffordernd die Hand für den klingenden Dank ausstreckte.

»Das Gasthaus zum Hahnen? Na, hier immer geradeaus, dann rechts auf die Große Gasse, und dann weiter bis zur Hahnengasse links ab, da ist es.«

Ludwig murmelte einen Dank und ließ eine kleine Münze in die Hand des Jungen fallen, der sie unter seinem Hemd verschwinden ließ und schon Ausschau hielt nach dem nächsten Fremden. »Keinen Dank und kein Vergelt’s Gott!«, schimpfte Ludwig. »Diese Straßburger! Leben könnt ich nie in dieser Stadt. Da lob ich mir Kolmar. Wollte Gott, wir wären schon wieder daheim.«

»Sind wir ja bald wieder, Ludwig.«

»Na, das hoffe ich. Kannst du dir etwa vorstellen, hier zu leben? Oder zu arbeiten?«

Martin zögerte einen Moment. »Leben, vielleicht ja. Aber arbeiten, nein, nie und nimmer. Diese Stadt kommt ja bei Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Und meine Ruhe brauche ich beim Arbeiten, oder es wird nichts draus, wie du weißt.«

Ludwig nickte.

»Oh ja, ich weiß, ich weiß. Na, die werden wir sicher reichlich haben, wenn wir erstmal zusammen am Altar für die Antoniter arbeiten können.« Er brach ab und beobachtete Martin heimlich von der Seite. Er befürchtete ein wenig, dass sein Bruder es bei weitem vorgezogen hätte, diesen Auftrag ohne ihn auszuführen. Aber auf seinem Gesicht zeigte sich keine Regung.

»Und bald natürlich, hoffe ich. Kaum warst du drinnen im Kloster fertig, kam er schon mit dem nächsten Auftrag. Du bist wirklich zu beneiden. Und dieser Klostervorsteher von Isenheim scheint mir ein ungeduldiger Mann zu sein.«

Herrgott, ich bettele um seine Aufmerksamkeit wie ein Kind, das seinen hartherzigen Vater zu bewegen versucht, ihm einen Herzenswunsch zu erfüllen, dachte Ludwig verdrossen.

»Jean d’Orlier? Das ist er. Aber auch einer mit dem Verstand eines Malers und dem Säckel eines Krösus«, antwortete ihm der Bruder schließlich.

Schließlich nahm die Große Gasse von Straßburg ein Ende und sie bogen linkerhand in die bei weitem schmalere Hahnengasse ab und standen vor dem Gasthaus »Zum Hahnen«.

Martin hielt die Pferde, während Ludwig sich drinnen um eine Kammer bemühte. Im Nu war er wieder da.

»Wir haben Glück! Da war noch ein winziges Loch, mit nur einem Bett, aber wenigstens ist es unseres.«

Sie überließen ihre Pferde dem Knecht und trugen ihre Bündel eine schmale Treppe hinauf zu einer Kammer unter dem Dach, wo das Fensterchen der Hitze wegen schon weit offen stand.

Es gab wirklich nur eine Bettstatt, zum Glück nicht allzu schmal, einen dreibeinigen Schemel und einen leeren Tonkrug.

»Na, ich hoffe, du wäschst dich noch ordentlich, bevor du zu mir in die Federn kriechst!«, rief Martin seinem Bruder zu und verpasste ihm einen aufmunternden Stoß zwischen die Rippen.

Noch spät am Abend saßen sie unten in der Gaststube unter Bier trinkenden Bürgern, die aus allen Himmelsrichtungen nach Straßburg zum Markt gekommen waren, und verdauten einen zarten Lammschlegel und ein Gericht Flusskrebse.

»Noch mehr Bier, Frau Wirtin!«, verlangte Martin und hielt seinen Humpen hoch. Die Wirtin, eine fröhliche Straßburgerin mit kugelrunden Brüsten im Mieder, kam herbeigelaufen und schenkte aus einem großen Tonkrug nach.

»Danke. Euer Bier schmeckt köstlich.«

»Dank den jungen Herren. Und unser Mahl, wie hat es Euch geschmeckt?«

»Prächtig, so gute Krebse habe ich noch nie gegessen, bestellt das in der Küche.«

Die Wirtin lächelte und warf kokett den Kopf in den Nacken. Darauf musste Ludwig der Frau wohl ein wenig zu begehrlich auf das Mieder gesehen haben, denn sie beugte sich vor und murmelte: »Na, den jungen Herrn steht der Sinn sicherlich auch noch nach anderen Genüssen, was?«

»Soso, solltest du dich damit meinen?«, antwortete Martin und zwickte ihr aufs Geratewohl irgendwo in die Röcke. Sie kreischte entzückt auf.

»Schämt Euch! Nein, nein, ich dachte nur, falls die Herren sich noch anderweitig vergnügen wollen, so wüsste ich schon für eine Silbermünze den richtigen Ort. Das beste Frauenhaus von Straßburg – eine Blüte schöner und verdorbener als die nächste!«

Die Brüder grinsten sich vielsagend an.

»Und für einen Viertel Gulden«, flüsterte sie, »könntet ihr heute Nacht vielleicht sogar meine Nichte dort haben. Ich werde ein gutes Wort für euch einlegen. Die kümmert sich gern um euch beide gleichzeitig, wenn’s sein soll«, und wies mit dem Kinn in die Ecke, wo ein Mädchen mit langem, schlammbraunem Zopf und engem, blauen Mieder gerade eine Tafel neu deckte.

 

»Schäm dich, du Kupplerin!«, sagte Ludwig und zwinkerte ihr zu, »deine eigene Nichte verkaufst du hier? Nein, sag ich dir, mit solchen Geschäften wollen wir nichts zu tun haben. Bei den Schongauern wird nur anständig gevögelt. Aber hab Dank für den guten Rat. Hier!«

Er warf ihr eine Münze zu.

»Umsonst ist in Straßburg wirklich gar nichts zu haben«, seufzte Martin und genoss einen großen Schluck seines schaumigen Bieres.

»Umsonst ist der Tod, Bruder. Wenn du mich fragst, dann geh ich doch noch auf einen Sprung ins Hurenhaus.«

Martin schüttelte bei dem Gedanken nur unwillig den Kopf. Das sah seinem Bruder ähnlich. Wenn er getrunken hatte, wurde er lüstern.

»Jetzt bei Nacht noch durch die düstereren Gassen, in denen man sich verläuft und wo es vor Dreck und Gelichter und Beutelschneidern wimmelt? Nein, ohne mich. Sag mal, möchtest du denn gar nicht wissen, was mir vorhin beim Liebfrauenmünster begegnet ist?«

»Du erzählst ja nichts.«

»Du fragst ja auch nicht!«

»Was soll dir schon begegnet sein? Eine Hure, natürlich. War sie denn wenigstens gut?«

Martin stöhnte. »Kannst du auch noch an was anderes denken, du geiler Bock? Hör mir doch erstmal zu!«

Ludwig stellte seinen Humpen ab, setzte sich kerzengerade aufrecht, faltete die Hände auf dem Tisch und sagte: »Ich bin bereit, Bruder.«

»Ja, betrunken bist du vor allem. Nein, hör mir zu. Ich sah eine Jungfrau …«

»Wusste ich’s doch!«

»… eine Jungfrau, schön wie die Himmelskönigin. Ach, Ludwig, wenn du sie nur gesehen hättest! Nie hätte ich gedacht, dass es irgendwo solch ein Wesen geben könnte. Diese Maße, und die Proportionen! Sie war wie von Gott geschaffen als Abbild für einen Maler.«

Ludwig schien schlagartig nüchtern zu werden: »War sie groß? Und schlank?«

»Groß! Wirklich groß für ein Mädchen. Und schlank auch. Fast schon ein bisschen zu dünn. Ach, und so schön, einfach vollkommen. Ihre Augen waren groß und dunkel wie Umbra, zarte Haut hatte sie, so weiß wie Elfenbein, und einen ganz entzückenden Mund, wie eine Rosenknospe.«

»Und ihr Haar?«

»Wie geschmolzenes, altes Gold. Und einen herrlichen Körper, vollendet gewachsen, und die zartesten Fingerchen, die ich je gesehen habe. Und eine sehr hohe Stirn. Beinahe herzförmig.«

»Die war bestimmt geschoren.«

»Nein, nein, die war auf keinen Fall geschoren. Das hätte ich doch gesehen, ich stand nah vor ihr. Ihre Stirn war hoch und leicht gewölbt. Ludwig, ich schwöre dir, ich habe noch nie ein so schönes Mädchen gesehen.«

Martin fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und ließ mutlos die Schultern fallen.

»Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen soll, sie zu suchen.«

Ludwig rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Ja, schwierig. Zum Markt kommt immer der halbe Oberrhein nach Straßburg. Sie könnte von überall her sein. Die wirst du wohl nicht wiederfinden.«

Schlettstadt, im Frühjahr des folgenden Jahres

Die Frau verließ, fast über die eigenen Füße stolpernd, den Beichtstuhl. Ihre Schritte schlugen klatschend auf die steinernen Grabplatten auf, leiser und leiser. Manchmal war Bruder Heinrich unendlich müde nach solchen Geständnissen. Er blickte nachdenklich auf seine gefalteten, blassen Hände und seufzte. Da rannte sie nun, kopflos und schluchzend, heulend und zähneklappernd.

Er hörte die Angeln der Kirchentür quietschen, dann fiel sie ins Schloss, und der Knall hallte durch die leere Kirche. Es gab so viele Beichten, die er nie hatte hören wollen, und doch gehörte es zu seinen täglichen Pflichten als Seelsorger, die Schlettstädter Gemeinde zu führen und zu lenken, seinen Schäfchen die Beichte abzunehmen, ihren Sünden zu lauschen und ihnen die Absolution zu erteilen.

Sie hatte ihm mit viel Schlucken und Weinen eine viertel Stunde lang davon berichtet, wie der Ehegatte ihrer Schwester sich mehrfach und auf die abscheulichste Art und Weise an ihr vergangen haben sollte. Gegen ihren Willen, natürlich. Alle diese Weiber behaupteten stets und ständig, es sei gegen ihren Willen gewesen. Heinrich schüttelte den Kopf. Als ob sie irgendeinen Willen gehabt hätten, dem sie hätten gehorchen können. Kurz, sie hatte widerwärtigste Unzucht getrieben mit ihrem Schwager und kam dann heulend zur Beichte gerannt und verlangte Absolution für ihre Sünden. Es ist immer das Gleiche. Sie sind alle wie die Kinder, dachte Heinrich. Erst verschütten sie die Milch, zerbrechen den Krug und lachen dazu, und dann wundern sie sich noch, wenn die Strafe kommt.

»Du hast gegen Gottes sechstes Gebot verstoßen. Was erwartest du? Du bist nichts als eine schwache, elende Kreatur. Ein Stück Fleisch«, hatte Heinrich heiser durch das Gitter gezischt. »Ich habe nichts anzubieten, um dich zu trösten. Zittere vor der Rache des Herrn, denn sie wird über dich kommen! Sei der ewigen Höllenpein gewiss, die dich erwartet für die Sünden, die du in deiner verabscheuungswürdigen Gier auf dich geladen hast.«

Ihr tränenverschmiertes Kindergesicht hatte ihn durch das Gitter angestarrt, mit offenem Mund und großen, blauen Augen. Engelsaugen. Ein Engelsgesicht mit Haaren wie ungebleichtes Leinen und zartester Haut, weiß wie feines Elfenbein. Es gehörte zu den geschickten Schlichen Satans, sein abscheuliches Antlitz unter der Schönheit der Frauen zu verbergen.

Auch er selbst, Heinrich, war dagegen nicht sicher gefeit. Er verfluchte den Tag, an dem er diesem teuflischen Trugbild begegnet war, dass ihn genarrt hatte, dieser Jüdin, die ihn noch immer im Traum verfolgte, und oft genug noch im Wachen.

Im Antoniterkloster zu Isenheim, als er das Bildnis der heiligen Barbara erblickt hatte, hatte er wahrhaftig einen schrecklichen Moment lang geglaubt, er blicke in ihr Gesicht. Aber nein, es war ihr nur vage ähnlich gewesen: die gleiche zarte Blässe der Haut, der Glanz der dunklen Augen, die Fülle der goldenen Haarflechten. Was aber war all der Liebreiz, wenn man unter diese Oberfläche blickte? Äußerlichkeit, nur eine Schale, die dünne Hülle, die Blut, Gekröse und Gestank nach Verwesung überdeckte. Heinrich spürte einen Anflug von Übelkeit.

»Verschwinde endlich!«, fuhr Heinrich das Mädchen an.

Nun, dann sollte sie sich doch gleich in den Fluss stürzen. Es gab durchaus Brüder, auch hier unter den Dominikanern, die in solchen Fällen die Absolution erteilten. Aber sie legten den Sünderinnen strenge Strafen auf, die sich nicht nur in hunderten von Bußgebeten erschöpften, sondern auch in anderen Übungen. Es gab Brüder, die der Überzeugung frönten, die Vergebung sei erst zu erlangen durch die Kasteiung des versuchten Fleisches, vollzogen von der Hand des Beichtvaters. Bruder Heinrich hatte diese Buße nur ein einziges Mal erteilt, vor etlichen Jahren, und seitdem die Finger davon gelassen. Das Klatschen der Rute auf dem weißen, bloßen Hinterteil der Frau dort in der Kammer, die anschwellenden Striemen, das Gezappel und Geheul hatten den jungen Mönch derartig erregt, dass er die Übung letztlich schwer atmend abgebrochen und das Weib zum Teufel gejagt hatte.

Es nützte ja ohnehin nichts. Man hätte sie auch gleich alle totschlagen können.

Ein Weib bleibt immer ein Weib. Alles geschieht aus fleischlicher Begierde, die bei Frauen unersättlich ist, dachte Kramer. Dreierlei ist unersättlich und das vierte, das niemals spricht. Es ist genug, nämlich die Öffnung der Gebärmutter. Darum haben sie auch mit den Dämonen zu schaffen, um ihre Begierden zu stillen. Kein Wunder, wenn von der Ketzerei der Hexer mehr Weiber als Männer besudelt gefunden werden. Gepriesen sei der Höchste, der das männliche Geschlecht vor solcher Schändlichkeit bis heute so wohl bewahrte. Da er in demselben für uns geboren werden konnte und leiden wollte, hat er es deshalb auch so bevorzugt.