Die Judenmadonna

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Die Judenmadonna
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Inhalt





Cover







Antje Sievers – Die Judenmadonna







Prolog







Teil 1







Teil 2







Teil 3







Teil 4







Epilog







Nachbemerkung







Glossar







Textquellen der Zitate







Dank







Die Autorin







Impressum







Prolog



2019, Universität Bremen, Wintersemester



Ein voller Hörsaal sieht anders aus. Professor Michael Behnrath, Dozent für den Fachbereich spätmittelalterliche Kunst und Renaissancemalerei, ließ seinen Blick über die zwölf Studentinnen gleiten, die hier ihr Pflichtfach absaßen, um sich danach so schnell wie möglich Frida Kahlo und Paula Modersohn-Becker zuwenden zu können. Er unterdrückte ein Seufzen. Im Gegensatz zu seiner eigenen Studentenzeit, die mittlerweile über dreißig Jahre zurücklag, waren die Mädchen heute bedeutend hübscher. Leider auch bedeutend blöder. Mit einer Kommilitonin bei Freunden aufzukreuzen, die Taktik mit einem doppelten ck schrieb und nicht genau wusste, in welchem Jahrhundert der Erste Weltkrieg stattgefunden hatte, so was hätte er als Student nicht fertig gebracht.



Eine leider nicht ganz scharfe Wiedergabe der »Madonna im Rosenhag« wurde von dem Beamer an die Wand geworfen: ein Mädchen mit langem blondem Haar in einem blutroten Gewand vor Rosenhecken, in deren Zweigen Singvögel saßen. Goldauflage im Hintergrund, wie in der russischen Ikonenmalerei, Blumen überall, um sie und das Kind auf ihrem Schoß herum, neben ihr auf dem Rasen und zu ihren Füßen.



»Was sie hier sehen, ist eins der wenigen Ölgemälde von Martin Schongauer, das noch erhalten ist. Viele seiner Werke sind verschollen und, da es sich überwiegend um sakrale Motive gehandelt haben wird, sicher auch in dem Bildersturm während der Reformation zerstört worden. Dieses wird ihm zweifelsfrei zugeordnet und auch die Jahreszahl seiner Entstehung scheint festzustehen, 1473. Sehen Sie sich das Bild mal eine Minute in Ruhe an und sagen Sie dann, was Ihnen auffällt.«



»Weiß man denn, wen er da gemalt hat?«, fragte eine pausbäckige Blondine.



»Nun, die fahlweiße Haut, die Feinheit der Züge, die aristokratische Nase, das alles lässt auf eine Dame aus besserer Gesellschaft schließen, sehen Sie hier, das pelzgefütterte Gewand war aus Samt und Seide gefertigt. So etwas konnten sich damals nur die Frauen der sehr Begüterten leisten. Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um eine Adlige aus einem Geschlecht am Oberrhein gehandelt haben könnte, oder die Tochter eines elsässischen Patriziers. So ähnlich wie bei Botticelli und der blonden Florentiner Schönheit Simonetta Vespucci, die er so oft gemalt haben soll.«



»Sie könnte doch aber vielleicht auch seine Frau gewesen sein!«, bemerkte die Schwarzhaarige, die links außen am Rand des Saales saß.



Behnrath lachte kurz und trocken auf. Seit er vor fast fünfundzwanzig Jahren seine Doktorarbeit über dieses Marienbild geschrieben hatte, galt er international als der führende Schongauer-Experte. Er reiste zu Fachtagungen und Museen, hielt Vorträge, in denen Begriffe wie »Impasto« und »Polyptychon« vorkamen. Vor einem Jahr hatte er in der Vierteljahrsschrift »artium« einen mehrseitigen, schlüssigen Beweis dafür erbracht, dass der Künstler für sein »Porträt einer jungen Frau im Goldschmuck« ein anderes Modell als bei der »Madonna im Rosenhag« gemalt haben musste, auch wenn es genügend Fachleute gab, die genau dies hartnäckig bestritten.



»Nein, es ist nichts darüber bekannt, dass Schongauer jemals verheiratet gewesen ist. Meiner Meinung spricht eher vieles dafür, dass der Maler homosexuell gewesen sein könnte, etwa wie Caravaggio. Da das damals als eine sehr schwere Sünde galt, haben die Betreffenden so was natürlich streng geheim gehalten. Es gibt daher so manches Unerklärliche und viele Ungereimtheiten in seinem Werk. Zum Beispiel das hier.«



Er wechselte zum nächsten Bild mit zwei nebeneinander angeordneten Kupferstichen – einer klugen und einer törichten Jungfrau.



»Was fällt Ihnen hier auf? Es ist ganz einfach, wie auf der Rätselseite: Finden Sie den Unterschied!«



»Er hat die Signatur geändert«, sagte eine Studentin. »Das M ist auf dem rechten Bild gerade und auf dem linken schräg.«



»Genau. Martin Schongauer war der erste Künstler, der seine Werke markant signiert hat, wie sie sehen. Aber so ab 1475 hat er plötzlich eine andere Signatur. Auch sein Œuvre veränderte sich stark, verlor plötzlich viel an Farbigkeit und Heiterkeit, wie man besonders an seiner Wandmalerei des Jüngsten Gerichts in Breisach sehen kann.«



Eine Studentin, die die letzten zehn Minuten ausschließlich auf ihr Handy gestarrt hatte, fragte mit ungeahntem Interesse: »Und warum war das so?«



Behnraths Hand hob sich vom Tisch und wedelte einmal vage durch die Luft. »Leider sagt uns die Forschung dazu gar nichts. Nach meiner Theorie kann es durchaus mit seiner persönlichen Lebenssituation als gesellschaftlicher Außenseiter zu tun haben, vielleicht spielte auch eine Erkrankung eine Rolle. Man kann darüber wirklich nur Spekulationen anstellen, was manche Kunsthistoriker auch schon getan haben, aber wissen kann es leider niemand.«





Teil 1



November 1471, in den Auen des Oberrheins



Der Mann im Sattel, ein Tuchhändler aus Freiburg, war auf seinem ruhig und zuverlässig dahinschreitenden Braunen kurz eingenickt. Sein Kinn klappte herunter, die Zähne schlugen ihm schmerzhaft aufeinander, und augenblicklich war er wieder wach. Es dämmerte bereits. Ein Jüngling, sein Sohn, ritt neben ihm her und wirkte ganz und gar nicht, als wäre er die halbe Nacht durchgeritten. Der Tuchhändler zog fröstelnd die Schultern zusammen, gähnte laut und murmelte: »Dank dem Himmel, dass wir bald angekommen sind! Und diese elende Feuchtigkeit hier. Ich spüre kaum noch einen Knochen im Leibe nach diesem fürchterlichen Ritt.«



Der Junge antwortete ihm nicht. Er starrte schon seit geraumer Zeit angestrengt über den schmalen Weg hinweg zu einer Wiese hinüber, die sich bis zu den Stämmen des lichten Laubwaldes zog, der hier in den Rieden des Rheins vorherrschte.



»Vater!«, rief der Junge plötzlich, »sieh mal, dort drüben! Siehst du das?«



Der Mann kniff die unzuverlässig gewordenen Augen zusammen und gab sich Mühe, in der Richtung, die sein Sohn ihm mit der Hand wies, etwas Besonderes auszumachen.



»Wo denn, Stefan? Was meinst du?«



Der Junge lenkte sein Pferd kurzerhand auf die Wiese und ließ es in leichten Trab fallen. Dann sah der Vater ihn abrupt anhalten. Er stieg vom Pferd und bückte sich nach dem Boden.



»Stefan! Hörst du denn nicht!«



Einen Moment zögerte der Mann, dann ritt er widerwillig hinterher. »Also, was ist nun, Junge? Wir müssen weiter, wir haben wirklich nicht die geringste Zeit, uns mit irgendwelchen … Allmächtiger Gott!«



Das hübsche, von hellen Knabenlocken eingerahmte Gesicht war weiß wie Kreide geworden. Die beiden bekreuzigten sich mehrmals rasch hintereinander. Der Vater saß ab und näherte sich dem Fund des Jungen mit schreckgeweiteten Augen: Ein nackter Leib, der Körper einer jungen Frau mit langem blonden Haar war es, der mit merkwürdig verrenkten Gliedern, das Gesicht nach unten, dort im noch halbgefrorenen Gras lag. Sie war von Kopf bis Fuß mit Wunden bedeckt, der Leib wie überzogen mit dem eigenen Blut, und dort, wo ihre Schenkel endeten und ihre Scham begann, musste sie wahre Sturzbäche davon verloren haben.



»Oh, Jesus Christus!«, stammelte der Mann.



Er stieg beherzt über sie hinweg und drehte sie auf den Rücken, ihr rechter Arm fiel auf den Boden und ihr zerrissenes, blutiges Gewand klaffte auf über dem bloßen Körper. Ein sehr junges Mädchen war es, kaum mehr als vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Einen Augenblick starrte er nachdenklich auf das zerrissene blaue Wolltuch auf ihrem Leib, eine sehr gute, sorgsam gefärbte und gewalkte Qualität, wie der Tuchhändler erkannte. Die Dominikanerinnen im nahen Kloster ließen sich ihn liefern, um daraus ihre warmen, blauen Kukullen für den Winter zu verfertigen.



»Sieh her, Stefan! An einer unschuldigen Klosterfrau haben sie sich vergriffen. Was in Gottes Namen sind das nur für wilde Tiere, die so etwas Abscheuliches tun?«



Sein Sohn streckte ihm die Hand entgegen.



»Hier, Vater. Das lag dahinten.«



Der Kaufmann starrte einen Moment verblüfft auf den Fund, der auf den ersten Blick wie ein zerrissener Korb aussah. Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Plötzlich ließ er ihn mit einem Schrei des Abscheus zu Boden fallen. Und da sah er es: Der Kopf des Mädchens war zur Seite gefallen.

 



»Stefan!«, rief er schließlich, »ich glaube wahrhaftig, sie lebt noch! Der Herr stehe uns bei, sie atmet!«



Der Junge blickte unbehaglich auf den nackten Leib und stammelte leise: »Und was sollen wir jetzt tun? Wir müssen doch irgendwas tun!«



Der Mann kniete nieder, bedeckte mit dem zerrissenen Stoff, so gut es ging, ihre Blöße und rief seinem Sohn zu: »Komm schon, hilf mir. Wir müssen sie von hier fortbringen, so schnell wie möglich. Nun mach schon.«



Sein Sohn sprang vom Pferd und näherte sich zögerlich.



»Nun sei nicht so zimperlich, Junge. Los nimm ihre Füße und hilf mir, sie auf dein Pferd zu heben.«



Erst, als die Bewusstlose bäuchlings wie ein nasser Sack auf der braunroten Stute lag, fragte Stefan den Vater: »Wo wollen wir sie denn hinbringen? Etwa mitnehmen? Es ist doch kaum noch Leben in ihr.«



»Wir können sie doch nicht einfach hier im Wald krepieren lassen wie ein Vieh. Wir werden sie nach Gemar bringen. Dort soll es in der Nähe ein Kloster geben. Das ist doch das Mindeste, was wir tun können.«



»Aber Vater, das werden wir nicht schaffen. Niemals. Sie wird sterben, noch bevor wir da sind.«



Der Tuchhändler warf einen Blick auf das Mädchen und sprach: »Wenn sie stirbt, so ist es Gottes Wille. Wir haben es nicht in der Hand. Aber wenigstens können wir dafür sorgen, dass sie im Kreise ihrer Schwestern zur ewigen Ruhe gebettet wird. Tun wir unsere Christenpflicht.«



Der Kaufmann fasste die Zügel seines Pferdes und lenkte das Tier vorsichtig zurück zum Fußpfad. Er spuckte kräftig aus, murmelte »Pfui Teufel!« und bekreuzigte sich nochmals.



Stefan stieg auf sein Pferd und ritt im Schritttempo hinter dem Vater her.



»Warum hast du denn auf den Korb gespuckt, Vater?«



»Korb? Das war kein Korb, du Einfaltspinsel. Das war ein Judenhut.«



Bergheim, im Jahr zuvor



Dort, wo die dunkelgrünen Gipfel der Vogesen in sanften, von Burgen gekrönten Hängen zum Rhein hin auslaufen, wo sich die Weinberge mit Weiden, Wiesen und üppig tragenden Obstgärten mischen und kühle Bäche das Wasser aus den roten Sandsteinfelsen in das Tal führen, liegt das Städtchen Bergheim.



In der Morgensonne stieß ein Mädchen den schweren Fensterladen beiseite, dessen Aufschwingen von einem grellen Quietschen begleitet wurde. Das Fenster ging auf den Gemüsegarten des Hauses hinaus, Gräser, Veilchen und Akeleien wuchsen bis ins Fenster hinein. Das Geißblatt, das sich an der gesamten Rückseite des Hauses emporwand, summte trotz der frühen Stunde schon von Bienen. Die Luft roch nach Blüten, Staub und dem Mist, den die Bauern vor Wochen auf die noch gefrorenen Äcker gestreut hatten. Der Duft des Frühlings.



Das Mädchen lehnte sich auf das Fensterbrett, gähnte herzhaft und folgte mit Augen, aus denen der Schlaf noch nicht ganz gewichen war, einer großen Weinbergschnecke, die auf ihrer silbrigen Spur über den mit Steinen ausgelegten Steig glitt. Ihr Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln, als sie das feine, zweifache Fühlerpaar und die Vollkommenheit des spiraligen Hauses betrachtete. Die Bauern und gerade die Armen verzehrten sie in Mengen mit wildem Knoblauch und sammelten sie, wo immer sie sie fanden. Aber auch, wenn Schnecken geschmeckt hätten wie mit Safran, Mandeln und Feigen gefüllte Täubchen, hätte das Mädchen keinen Bissen hinunterbekommen, denn ihrem Volk waren manche Sorten Fleisch und Getier zum Genuss verboten, seit die Kinder Israels vor vielen tausend Jahren von Ägypten in das verheißene Land gezogen waren, wo Milch und Honig flossen.



Golda, gelegentlich Goldele, hatten die Eltern sie wegen ihres schönen blonden Haars genannt, dem Schmuck der Frauen, das sie schon bei ihrer Geburt besessen hatte. Sie streckte sich und gähnte, bevor sie mit raschen Bewegungen das Bett ordnete, um dann kurz nach Sonnenaufgang, wie jeden Morgen, in der Küche einen Becher warme Ziegenmilch in Empfang zu nehmen. Rahel, ihre Stiefmutter, stand schon beim Ofen in der niedrigen Küche, die erste Morgensonne schien durch die Fenster hinein und wärmte den großen, mit Steinplatten ausgelegten Raum, der die gesamte Breite des hinteren Hauses einnahm.



»Guten Morgen, meine Kleine. Hast du gut geschlafen?«



Rahel stieß mit dem Fuß den Schemel beiseite, um Platz zu machen, und stellte eine Schale mit heißer Milch und ein Bündel mit Ziegenkäse, harten Gerstenfladen und runzligen Äpfeln aus der Ernte des letzten Herbstes auf den Tisch.



»Wo ist Vater?«



»Trink erst und sprich dann! Dein Vater ist schon längst auf, zur Weide bei Rohrsweiler, um die zwei Schimmel zu holen.«



Golda erschrak. Der Jähzorn ihres Vaters war nicht nur in ihrer kleinen Familie bekannt.



»Ist er böse, weil ich so lange geschlafen habe?«



»Ist er nicht, wenn du dich jetzt beeilst. Es ist gut, dass du lang geschlafen hast, schließlich habt ihr einen weiten Weg.«



Golda schlürfte den Rest Milch aus der Tonschale. Fast schnurrte sie vor Behaglichkeit, so wie Grauchen, die Katze, die ihr unterm Tisch um die nackten Beine strich. Die Milch war heiß und gut und Rahels mit Asche bereiteter und in Weinblätter geschlagener Käse würde auf dem langen Weg köstlich genug schmecken. Schon hörte man vor der Tür das Getrappel von Hufen und die Stimme Jakob ben Josuas: »Goldele! Komm! Es wird Zeit!«



Sie sprang auf und griff nach dem Bündel und dem wollenen Tuch, in das sie ihren Proviant geknotet hatte.



»Hast du auch alles, Kind? Sieh dich vor, hörst du? Nimm abends das Tuch um und lass in den Gassen dein Haar nicht sehen. Und vergiss nicht die Besorgungen. Und grüße die Familie. Und pass auf, dass du dich in der Sonne nicht zu sehr erhitzt.«



»Ja, Mutter! Nein, Mutter!«, antwortete Golda und schmunzelte. Sie beugte sich zu Rahel herab und küsste sie auf beide Wangen, als mit einem Ruck die Tür aufgerissen wurde und der Vater zornrot hereingestürmt kam.



»Wo bleibst du, Mejdele? Zum Teufel, Weiber können nie beizeiten fertig werden.«



»Ist schon gut, Jakob«, murmelte Rahel beschwichtigend, »Es ist alles bereit, sie ist längst fertig. Hier sind auch noch ein paar Nüsse für euch.« Rahel legte ein kleines Beutelchen auf den Tisch.



»Was soll das? Bin ich ein Eichhörnchen?«, knurrte Jakob und zog die buschigen Augenbrauen hoch. Golda nahm es grinsend in Empfang.



Anfang des nächsten Monats Siwan war es dreizehn Jahre her, dass ihre leibliche Mutter, Rebekka bath Levi, die erste Frau von Jakob ben Josua, dem Rosshändler, das Kind unter drei Tage fortdauernden, schweren Qualen geboren hatte und am fünften Tag nach der Niederkunft am Kindbettfieber gestorben war.



Im Jahr darauf hatte er seine zweite Frau geheiratet, Rahel, die dritte Tochter des Josel von Türkheim. Sie war äußerlich von keinem großen Reiz, aber voll Klugheit und mütterlichem Verstand, als sie, fünfzehnjährig, dem um zwanzig Jahre älteren Gatten nach Bergheim folgte und sich gleich um sein Töchterchen kümmerte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Golda wuchs heran und hatte keine andere Mutter als Rahel gekannt und Jakob hätte auch glücklich mit ihr werden können, wenn sie ihm nur endlich einen Sohn geschenkt hätte. Aber Rahel, mit ihren dicken, glänzenden Locken, den kräftigen Gliedern und der tiefen Stimme ein Abbild von Leben und Gesundheit, hatte sich bisher als unfähig erwiesen, eine Leibesfrucht auszutragen.



Die Kinder, wie zu Jakobs Hohn allesamt Knaben, die sie mit der Hilfe von Rivka, der Frau des Nachbarn Abraham, alle zwei Jahre zur Welt brachte, überlebten immer nur wenige Stunden, sofern sie nicht gleich tot zur Welt kamen.



»Hab ein Einsehen mit Deiner Frau, Jakob«, hatte Abrahams Frau ihn nach der letzten Geburt eines dieser lebensunfähigen Geschöpfe angefleht. »Ich fürchte allmählich, ein weiteres könnte sie nicht überleben.« Und Jakob hatte ein Einsehen. Es fiel ihm nicht schwer, denn er war ein alter Mann von bald fünfzig Jahren, aber dennoch − gab es denn einen größeren Fluch für eine Jüdin als Kinderlosigkeit?



Jakob stampfte mit dem Fuß auf, und schon drückte das Mädchen der Mutter einen hastigen Abschiedskuss auf die Wange, warf das kurze Leinenmäntelchen mit dem Judenfleck über die Schultern, ergriff das Bündel und zog die Tür hinter sich zu.



»Hier, nimm!«, herrschte der Vater sie an und drückte ihr die Zügel der Eselin in die Hand.



Und hinaus ging es aus der Judengasse, hin zur breiten Mittelgasse, die einmal der Länge nach durch das kleine Bauernstädtchen führte, und durch das Untertor. Die Bergheimer Bürger, die sich zu dieser frühen Morgenstunde sehen ließen, beachteten den Juden und seine Tochter nicht weiter, ja, so mancher entbot ihm sogar einen Gruß.



Jakob stülpte den spitzen Strohhut erst auf, als sie die Mauern der Stadt hinter sich gelassen hatten. In Bergheim selbst scherte es niemanden, ob die jüdischen Männer das alberne Ding auf dem Kopf trugen, aber das konnte außerhalb der Stadtmauern schon etwas anderes sein.



Bald überquerten sie den Bergenbach und schlugen den Weg nach Norden auf der alten Römerstraße ein. Kurz vor Schlettstadt näherte sich auf einem kleinen Esel eine Gestalt, an deren Hut schon von weitem ein Jude auszumachen war.



»Simeon!«, rief Jakob erfreut. »Das ist Simeon von Rufach.«



Der Jude auf dem Esel blinzelte kurzsichtig. Erst als Vater und Tochter auf seiner Höhe angeritten kamen, glitt der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht.



»Schalom alejchem, Simeon. Wohin geht’s denn?«



»Schalom, Jakob ben Josua! Wieder zurück nach Rufach. Ich habe in Schlettstadt zwei Wechsel eingelöst und mit einem weiteren will ich es in Rappoltsweiler versuchen, wenn ich kann. Zwei schöne Schimmel hast du da.«



»Oh ja, und viel Geld haben sie mich gekostet. Meine Tochter und ich, wir ziehen nach Rosheim. Und morgen geht es auf den Rossmarkt nach Straßburg, wo ich hoffentlich einen besseren Preis erziele als hier in der Gegend.«



»Könnte schon sein«, brummte Simeon. Sein Blick fiel auf Golda und er wiegte missmutig den Kopf.



»Du nimmst noch immer deine Tochter mit? Ist sie nicht langsam zu alt dafür? Sie ist doch längst eine heiratsfähige Jungfrau, wie ich sehe. Hat deine Frau dir noch immer keinen Sohn geboren?«



»Das liegt allein in der Hand des Erschaffenden, Simeon. Nun, ich kann es ja nicht ändern. Das Mädchen macht mir so viel Freude! Rechnen kann sie zweimal schneller als ich, und lesen und schreiben in Deutsch und Hebräisch, ja sogar ein wenig Latein. Ohne ihre Hilfe wäre längst nicht jedes Geschäft so vorteilhaft geworden, wie’s am Ende geworden ist.«



Golda strahlte ihren Vater an und genoss dessen Stolz. Dabei war er damals sehr erzürnt gewesen, als er Rahel dabei erwischt hatte, wie sie das kleine Mädchen das Lesen in der Weiberschrift lehrte, einer einfachen hebräischen Schrift, die ein kluger Rabbiner, Shlomo ben Jizchak, ersonnen hatte, um den Frauen das Lesen und Schreiben zu erleichtern.



Bald schon hatte er seine Freude an der klugen Tochter gehabt, und wann immer sie laut die Worte las »Gott sprach zu Israel in den Träumen: Jakob! Jakob!«, rief der Vater in die Stube: »Hier bin ich!«, ganz so wie Jakob in der Tora. Oft hatte er ihre Fortschritte dann selbst überwacht und gedacht, dass sie eigentlich die Klugheit eines Sohnes hatte, den der Lenker der Welt ihm nun einmal verweigert hatte.



»Zeiten sind das, wo man den Frauen erlaubt, klüger als ein Mann zu sein und auch noch bei den Geschäften zugegen«, schimpfte Simeon, »stell dir vor, Jakob, in Straßburg, beim Ratsherren Reuchlin, geht seit neuem eine jüdische Geldwechslerin aus und ein, Sarah bath Maimon von Gugenheim heißt sie, und mit Perlen und Edelsteinen handelt sie obendrein. Eine Sünde ist das, gegen die weibliche Natur und ganz gegen jede menschliche Ordnung.«



»Sei nicht so streng, Simeon«, erwiderte Jakob, »wie man hört, ist diese Sarah eine anständige Frau und obendrein Mutter von drei prächtigen Söhnen, von denen der jüngste sie immer begleitet, wenn sie in Geschäften unterwegs ist. Es mag gegen die weibliche Natur sein, aber Schaden hat sie ihrer Familie bisher nicht gebracht. Sie ist Witwe und …«



»Eben!«, unterbrach ihn Simeon aufgebracht. »Sie ist Witwe, und eine Witwe sollte sich wiederverheiraten, an einen guten Mann, und dem die Geschäfte überlassen. Das sollte sie! Jetzt fangen schon die welschen Christen damit an, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Wann hat man so was je gehört? Wovon soll unsereiner dann noch leben, wenn das so weitergeht?«

 



Jakob schmunzelte.



»Ach Simeon, wir leben doch in so ruhigen Zeiten, Baruch Ha Schem, und wir leben nicht schlecht. Reg dich nicht auf über das Gerede eines alten Viehhändlers, sondern sag mir lieber, wie die Straßen nach Straßburg beschaffen sind.«



Der alte Jude nahm kurz den Hut ab, wischte sich über seine glänzende Stirn und antwortete: »Auf einer Meile bei Lingelsheim bleibt man fast stecken, und es stehen Pfützen dort, so groß, dass Enten drauf schwimmen und sich Schweine drin suhlen. Haltet euch auf den Äckern, dann kommt ihr besser durch, rate ich euch. Nichts für ungut, Jakob, aber ich muss weiter, wenn ich es noch zwei Stunden vor Sonnenuntergang durch die Tore von Rappoltsweiler schaffen will. Gute Weiterreise!«



Jakob sah dem Wechsler noch eine Weile hinterher, dann aber ermahnte er seine Tochter zur Eile: »Los, los weiter! Zu Mittag sollten wir das längste Stück geschafft haben. Bevor wir nicht hinter Barr sind, wird auf keinen Fall gerastet.«



Im Antoniterkloster zu Isenheim



Der Sandsteinbau der Klosterkirche, von außen bescheiden, ließ nicht vermuten, was für Schätze er in seinem Inneren barg: Kaum verblasste Wandmalereien, prächtig geschnitzte und vergoldete Altäre, meisterliche Bildnisse des Sankt Antonius, zu seinen Füßen das Schweinchen mit dem goldenen Glöckchen im Ohr, auf denen der Heilige von Dämonen und Ungeheuern geplagt wurde, Bilder der Mutter Gottes in jeder Nische mit hunderten von brennenden Lichtern davor. Es waren Herrlichkeiten, die im Laufe der Jahrhunderte durch die Gaben von Tausenden von Pilgern und Kranken angeschafft wurden, die sich hier die Heilung vom Antoniusfeuer erhofft hatten, das Ende von Lähmungen und Raserei, von brennenden Schmerzen und faulenden Gliedern.



Staunend sah Konrad von Dettighofen, der Abt des Benediktinerklosters zu Schaffhausen, sich um. Schließlich nickte er. Sein stummer Begleiter, ein magerer Mann in den Vierzigern, hielt den Blick seiner hellen, starren Augen zu Boden gerichtet. Die schwarze Kutte und die groben Sandalen an den nackten Füßen wiesen ihn als Bruder des Dominikanerordens aus.



Jean d’Orlier, der Generalpräzeptor der Antoniter zu Isenheim, redete schon seit geraumer Zeit wie ein Buch auf seine beiden Gäste ein. Das Spital von Isenheim und seine nicht unbeachtlichen Heilungserfolge hatten inzwischen einen hervorragenden Ruf, der wohl nicht zuletzt der Leidenschaft seines Vorstehers zu danken war.



»Ihr nehmt also als Grundlage für unseren bewährten Sankt Antonius-Balsam 4 Pfund Talg, 4 Pfund Schmalz, 4 Pfund Weißpech, dann 4 Unzen gelbes Wachs, 4 Unzen Terpentin und noch 2 Unzen Grünspan«, sprach Jean d’Orlier mit seinem weichen, fränkischen Akzent, »und dann natürlich die Kräuter, die sind das Wichtigste. Getrocknet und fein gestoßen, also Kohlblätter, Nussblätter, Erdbeerspinat, Lattich, Wegerich, beide Arten davon, Holunder, Löwenfuß, Huflattich … Oh, da wären wir!«



Jäh unterbrach Jean seinen Redefluss. Die drei Männer betraten die kleine Kapelle und standen einen Moment lang schweigend vor dem mit einigen Kerzen beschienenen Altarbild.



Schließlich lächelte Konrad zufrieden und sprach: »Nun, man hat mir nicht zu viel versprochen von Eurer Kirche. Es sind in der Tat wunderbare Werke, die ihr euer Eigen nennen dürft.«



Der Generalpräzeptor führte den Gast dicht an einen Altar mit einem großen Bildnis heran. Der Mönch mit den goldbraunen Fransen um seine Tonsur spitzte die Lippen wie ein Mädchen, hob die Brauen über seinen erstaunt blickenden Kinderaugen und wies stumm auf die heilige Barbara.



»Also, das ist das Gemälde, von dem ihr so geschwärmt habt in Euren Briefen? Wer, sagtet ihr, ist dieser Meister?«, fragte Konrad.



»Schongauer ist der Name, Martin Schongauer, aus Kolmar. Gewissermaßen ist es nicht nur sein Werk, sondern auch das seines Bruders. Sie führen ihre Werkstatt gemeinsam, und sie arbeiten auch zusammen. Ich spiele zurzeit mit dem Gedanken, einen Verkündigungsaltar bei ihnen in Auftrag zu geben.«



Der Abt strich sich über sein Kinn und sagte bedächtig: »Hm. Begabt, sehr begabt. Aber auch etwas … nun, ich möchte sagen, gewagt, nicht wahr?«



Die beiden Mönche musterten die vollendeten Körperformen mit den lockenden Brüsten, die deutlich unter dem zarten Stoff des Gewandes hervortraten, die sinnlichen Lippen, die verspielt lächelten, und die goldblonden Haarfluten, die so sehr nach dem Leben geschaffen waren, dass man meinte, bei ihrer Berührung würden die Finger nicht auf Ölfarben und Holz, sondern auf seidige Flechten treffen.



Konrad von Dettighofen räusperte sich: »Nun, diese Heilige Barbara scheint mir ein wenig, nun ja, ein wenig zu sehr Frau und zu wenig Märtyrerin zu sein … ihr Liebreiz, möchte ich sagen, ist fast schon ein wenig zu ausgeprägt für meinen Geschmack. Sagt, der Meister, der sie gemalt hat, ist noch recht jung, wie mir scheint?«



Jean d’Orlier schmunzelte.



»Das ist richtig, lieber Bruder, Martin Schongauer mag wohl erst wenig mehr als zwanzig Jahre alt sein. Und damit kann man ihm wohl verzeihen, meine ich, wenn er ein Weib, auch wenn es eine Heilige ist, recht liebreizend darstellen will.«



Konrad senkte nachdenklich den Kopf. Was den Liebreiz der Frauen anging, so war er für seine Person schon seit vielen Jahren über alle Zweifel und Versuchungen hinweg. Aber einem jungen Novizen mochte so ein ungehörig sinnliches Bildnis wohl schon eher zusetzen. Er wandte sich um zu seinem Begleiter und fragte: »Nun, was ist Eure Meinung, Bruder Heinrich?«



Der so Angeredete, Heinrich Kramer, wandte ihm das Gesicht zu, auf dessen bleicher Stirn sich kleine Schweißperlen gebildet hatten, und sagte betont gleichgültig: »Ich denke, meine Meinung ist in diesem Fall kaum ausschlaggebend, Bruder Konrad. Ich habe mich nur erboten, Euch hierher zu begleiten. Ihr habt schließlich diese Wahl zu treffen, nicht ich.«



Heinrich drehte sich abrupt um und schien in Betrachtung einer schweren goldenen und mit zahllosen bunten Edelsteinen besetzten Monstranz zu versinken, die auf der gegenüberliegenden Seite der kleinen Kapelle aufgestellt war. Es schien fast, als spüre er das Lächeln der Frau auf dem Bildnis wie durchdringende Hitze auf seinem nackten Hals. Sein für einen Mann seines Alters von zu vielen und zu tiefen Furchen durchzogenes Gesicht war fahl geworden.



Barr, am Nachmittag



Die Landschaft wurde flacher und die Straßen stiller, als Jakob und Golda sich an einem Bach unter einer großen Eiche niederließen und das Bündel öffneten, das Rahel ihnen gefüllt hatte. Eine halbe Stunde ruhten sie nach dem Mahl noch im kühlen Schatten des Baumes, um dann den Rest der Tagesetappe in Angriff zu nehmen. Das letzte Stück war schon gekommen, sie trotteten den staubigen Trampelpfad um die Bischofsheimer Mauern herum und langten endlich an den Mauern von Rosheim an.



Es war schon kurz vor der Wachablösung, als der Jude und sein hübsches Töchterchen auf ihren Eseln mit den zwei Schimmeln am Halfter auf das Tor zuritten. Plötzlich wurden die beiden muskulösen Hellebardiere hellwach. Klirrend versperrten ihre gekreuzten Waffen den Weg, als Jakob an die hölzerne Zugbrücke trat und höflich seinen Gruß entbot.



»Wohin willst du, Jude?«



»In die Judengasse, Herr, zu meiner Schwester und den ihren, nur für die eine Übernachtung.«



»Soso, für die eine Übernachtung. Und wie heißt sie, deine Schwester?«



»Lea, Herr. Lea bath Josua. Sie ist die Ehefrau des Pfandleihers Samuel von Speyer.«



Der rechte der nach zwei Wochen altem Schweiß stinkenden Kerle trat auf Golda zu und fasste nach ihrem Kinn. Es gab leider nichts, was Jakob dagegen hätte tun können, wenn ihm sein Leben lieb war.



»Sieh mal einer an, was haben wir denn hier für ein Vögelchen?«



Der andere hatte Jakob inzwischen barsch angewiesen, das Torgeld zu bezahlen. Der Wächter warf dem ersten die Münzen zu, der sie rasch durchzählte und dann in seinem Beutel verschwinden ließ. Er grinste und zischte Golda heiser zu: »Na, dann lauft mal! Ab in die Judengasse, zu dem fetten Pfandleiher. Wenn du von dem Judenpfennig was wiederhaben willst, Mädchen, dann weißt du ja, wo du mich finden kannst. Deinen Arsch würde ich mir schon was kosten lassen.« Jakob und die blutrot angelaufene Golda gaben sich die größte Mühe, das schallende Gelächter der beiden mit Würde zu überhören. Die lange Gasse, die das Städtchen von