Verstehen statt verurteilen

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Bernd Deininger

Bernd Deininger

Das rechte Maß • Matthäus 13,24–30

Das Nachdenken über die Begrenztheit unseres Daseins hat die Menschen schon seit Urzeiten beschäftigt. Dieses Nachdenken ist unmittelbar mit der Frage nach dem Ursprung des Lebens verknüpft. Für viele steht am Ende dieser Frage die Erkenntnis, dass es etwas dem menschlichen Leben Übergeordnetes gibt, das ganz zu Beginn steht. Ob dieser allumfassende Ursprung nun als das Absolute bezeichnet wird oder ob wir dafür den Begriff »Schöpferische Kraft« oder im christlichen Sinn den Namen »Gott« einsetzen, erscheint nicht entscheidend. Wenn über Gott gesprochen wurde, war dies meist nur in Reflexionen möglich, die sich auf Gott bezogen entwickelt haben.

Diese Vorstellungen konnten durchaus logisch und klar durchdacht sein, aber das Numinose, das alles Umfassende, eben das, was wir Gott nennen, nicht verstandesmäßig begreifen. Auch der historische Jesus hat über Gott, den er seinen Vater nannte, gesprochen. Und wie wir aus den Evangelien herauslesen können, tat er dies nicht in Form einer theologischen Reflexion, sondern häufig in Gleichnissen. In gleichnishafter Weise zu reden bedeutete in der Erklärung, was Gott sein könnte und was dessen Wille ist, einen radikalen Verzicht gegenüber jedweder Art von theologischen Meinungen. Jesus hat, wie wir dem Neuen Testament entnehmen können, eben auch deshalb in gleichnishafter Weise geredet, weil es für ihn erst einmal keine rationalen und sachlogischen Erklärungen gab, um Gott in seiner Ganzheit zu verstehen. Das für uns als heutige Menschen Beeindruckende an der Rede Jesu in Gleichnissen ist, dass er einen Versuch macht, den seelischen Strömungen des Menschen nachzugehen und die Fragen seines Gegenübers so aufzugreifen, dass sie sich in dessen eigenem Leben widerspiegeln und verdichten.

Hinter dem Gleichnis vom Unkraut im Weizen steht eine uralte Menschheitsfrage, die sich weder individuell noch allgemein einfach lösen lässt: Wie kann man Gut und Böse voneinander unterscheiden? Was ist falsch und was ist richtig? Wie steht es mit dem offensichtlich Leidvollen in der Welt und warum lässt der allumfassende Schöpfergott dies alles geschehen? Wir Menschen wünschen uns auf diese Fragen eine Antwort, obwohl wir beim Nachdenken spüren, dass es keine allumfassende Antwort geben kann. Dies war zu Zeiten Jesu nicht anders. Auch er, den seine Jünger »Meister« nannten, wurde immer wieder aufgefordert, sich gegen das vermeintlich Böse aufzulehnen, gleiches Recht für alle zu schaffen und gegen die Besatzungsmacht der Römer mit Waffengewalt vorzugehen. Dahinter stand der Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit, so wie wir es auch heute am Beginn des 21. Jahrhunderts an vielen Orten in der Welt beobachten. Bei genauerer Betrachtung und mit Blick auf die menschliche Geschichte wird deutlich, dass jedoch Unfreiheit und Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Leid das menschliche Dasein dominiert haben. Und wie damals die Jünger Jesus bedrängten, so können wir auch heute als Glaubende fragen: Warum greift Gott nicht ein, warum lässt er all das zu? Warum gibt es keinen Sieg des Guten über das Böse?

Das Gleichnis von dem Mann, der Korn aussät und nicht damit gerechnet hat, dass sein Gegner kommt, um mitten in die Saat Unkraut zu streuen, wäre nun zu einfach und der jesuanischen Rede nicht gemäß gedeutet, wenn der Sämann der Menschensohn selbst wäre, sein Gegner das Böse, das Teuflische, der Satan, das Korn die Guten, das Unkraut die Bösen; die Arbeiter, die die Ernte einfahren, wären die Boten Gottes oder die Engel, die das Gute einsammeln, Gott dafür danken und das Böse, das Unkraut, verbrennen und dem Teuflischen überlassen.

Nehmen wir einmal an, dass alles, was uns im Leben begegnet, so einfach aufzuschlüsseln wäre, dass wir wüssten, was gut und was böse ist, was von Gott kommt und was nicht. Nehmen wir weiter an, die ganze menschliche Geschichte würde uns vor Augen gehalten und wir hätten die Fähigkeit zu unterscheiden, was für Menschen gut und was schlecht ist. Was würde daraus folgen? Es wäre möglich – um im Gleichnis zu bleiben –, in das Kornfeld zu gehen, das Unkraut herauszureißen und das Korn stehen zu lassen. Jesus weist in seinem Gleichnis darauf hin, dass genau dies der falsche Weg wäre. Denn mit dem Ausreißen des Unkrauts würde vieles andere ebenfalls zerstört werden. Jesus macht deutlich, dass die menschliche Geschichte sich eben nicht so einfach aufschlüsseln lässt, dass wir irgendetwas abtrennen können und schon ist alles gut. Vielmehr wäre es so, dass das Trennen am Ende nicht Leben bewirkt, sondern eher Zerstörung und Vernichtung.

Es geht also darum, erst einmal beides wachsen zu lassen: das, was man als gut, und das, was man als schlecht empfindet, und somit auszuhalten, dass Entwicklungen längere Zeiträume beanspruchen. Wichtig ist, Geduld zu entwickeln und abzuwarten, was sich gerade in der individuellen Lebensgeschichte tut. Geduld und Abwarten kann vertrauensvolles Hoffen bedeuten, um den Dingen, die wir von Gott kommend bezeichnen, zu überlassen, wie sie sich ausgestalten. Wir sollten uns also davor hüten, uns zum Richter über Leben zu machen. Die klare Entscheidung des Richtens ist bestenfalls unter den Kriterien eines Strafgesetzbuches, das sich in Paragrafen aufschlüsselt, möglich, nicht aber, wenn es um das individuelle Leben eines Menschen geht und um das, was ihm in seinem Leben begegnet. Wenn Menschen beurteilen und richten und den Anspruch erheben, zu wissen, was gut und böse ist, dann verwüsten sie eher alles, als dass etwas wachsen kann.

Wenn wir uns mit dieser Perspektive unserem eigenen Leben zuwenden, wie vieles erscheint uns da als gefährlich oder zu Vernichtendes, nur weil es uns möglicherweise unbekannt ist oder weil wir mit Gefühlen konfrontiert werden, die wir nicht kennen. Im Erleben solcher Situationen können wir gar nicht wissen, was richtig und falsch ist. Und wir können keinen Maßstab dafür entwickeln, was oder wie wir weiterleben sollen, was also »gutes Korn« oder »Unkraut« ist. Wir wissen in der Regel in den Momenten, in denen wir mit der Entscheidung, welchen Weg wir weitergehen sollen, konfrontiert sind, nicht, was das rechte Maß ist. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die ständig an sich herummäkeln, die sich kritisieren, die selten mit dem, was sie leisten, zufrieden sind, und häufig nichts an sich finden, worauf sie stolz sein können. Je deutlicher jedoch Menschen bei sich selbst zu trennen versuchen, was gut und schlecht ist, desto eintöniger und künstlicher wird ihr Leben. Häufig geht dann jede Kreativität, jede Neugier verloren.

Eine knapp 50-jährige Frau erzählte mir einmal, dass sie bei einem Wohnungsumzug ohnmächtig geworden sei. Während sie nach dieser kurzen Ohnmacht über die Gründe dafür nachdachte, war sie plötzlich über sich selbst entsetzt und bekam vor sich selbst Angst. Ihr wurde nämlich klar, dass einer der Angestellten der Umzugsfirma sie durch sein Arbeiten mit freiem Oberkörper so in eine erotische Erregung versetzt hatte, dass sie für einen kurzen Moment den Wunsch hatte, ihn zu verführen. Als sie mir dies erzählte, war spürbar, wie sehr sie sich wegen dieses Wunsches geschämt hatte und sich vor ihren eigenen Trieben und Wünschen fürchtete. Gleichzeitig verurteilte sie sich und hielt sich für eine unmögliche und unmoralische Frau. In dieser Situation brachen wohl unbewusst so viele Schuldgefühle und Ängste in ihr auf, dass sich ihr Bewusstsein für einige Sekunden weigerte, bei ihr zu bleiben.

Was aber war nun die Erkenntnis für sie aus dieser für sie schamhaften Situation? Sollte sie nach ihren moralischen Vorstellungen, die ihr als heranwachsendes Mädchen beigebracht wurden und die sie internalisiert hatte, strenger gegen sich vorgehen und sich alle Triebregungen verweigern? Sollte sie bildhaft mit einem Unkrautbekämpfungsmittel den Garten ihrer Seele betreten und alles, was aus ihrer Sicht triebhaft und unmoralisch ist, ausreißen und vernichten? Sinnvoller wäre es, wenn sie aus dieser Erfahrung lernen könnte, dass sie mehr Geduld mit sich selbst haben sollte und es einfach genießen könnte, dass sie einen attraktiven männlichen Körper begehrenswert findet. Sie könnte vielleicht auch erkennen, dass das Verführerische, das sie in sich trägt, durchaus lebenswert sein kann, dass die eigenen inneren Triebimpulse nicht zu verleumden und zu verleugnen sind, sondern dass sie gerade mit diesen Dingen den nötigen Spielraum zum Leben hat, um es kreativ und interessant zu gestalten. Für sie wäre es wichtig und sinnvoll, diese Lebendigkeit, die sie verspürte, zuzulassen und sich gegen die innere Leere, die das Ergebnis vieler Verdrängungen war, zu wehren. In vielen Fällen ist es nämlich eher so, dass sexuelle oder aggressive Triebimpulse, die zurückgedrängt werden und sich aufstauen, irgendwann ausbrechen und dann großen Schaden anrichten. Je mehr wir zu unterdrücken versuchen, desto mehr werden sich in uns Widerstände regen und desto ohnmächtiger werden wir uns selbst gegenüber sein.

Das, was wir heute Psychotherapie in tiefenpsychologischer Hinsicht nennen, besteht in nichts anderem, als das wachsen zu lassen, zu betrachten, zur Kenntnis zu nehmen und zu verstehen, was in unserem Inneren lebt und sich regt, und zwar mit einem unbedingten Vertrauen, dass das Gute in uns siegen wird. Nur: Woher bekommen wir dieses Vertrauen? Wir Christen erhalten über das Gleichnis eine Antwort: Wir sollten Gott im Ganzen zuversichtlich zumuten, dass er die Welt und uns selbst als einen Teil davon richtig und nicht falsch geschaffen hat. Alles, was in unserer Seele vorhanden ist und sich meldet, hat auch das Recht, gelebt zu werden. Es gibt keine Wunschregung, keine Fantasie, keine Neigung in unserem Inneren, die nicht berechtigt wäre, zur Kenntnis genommen zu werden. Zu fragen ist lediglich, was in der Realität umzusetzen ist und was schöne Fantasie und Wunsch bleiben sollte. Um zu einer reifen Entscheidung zu kommen, ist die Unterscheidung wichtig, ob es sich um eine unreife narzisstische Fantasie handelt oder um eine Fantasie, die aus Angst nicht umgesetzt werden kann. Es ist eine entscheidende Erkenntnis und Lebenskunst, Dinge, die sich in unserem Inneren entfalten, nicht auszurotten und zu bekämpfen, sondern wachsen zu lassen. Auch Fantasien, Regungen und Wünsche, die sehr belastend sein können, zum Beispiel wenn es sich um Mordfantasien oder sexuelle Fantasien handelt, sollten an die Oberfläche gehoben und angeschaut werden. Wenn es sich dann um destruktive Fantasien handelt, die auf den Menschen selbst oder auch auf die Außenwelt gerichtet sind, so ist es wichtig, sich Hilfe zu holen und verstehen zu wollen, wo die Motive liegen.

 

Die Frage, was dann sinnvoll ist, können wir als Individuen nur für uns selbst beurteilen. Immer dann, wenn sich Menschen gegenseitig vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, wenn einer dem anderen sagt, was richtig oder falsch ist, wird er damit nichts Gutes bewirken, sondern vielmehr Widerstände hervorrufen und Unkraut säen.

Wie man nun die Geduld findet, innerlich alles wachsen zu lassen, was vorhanden ist, wie man das rechte Maß findet, das ist die Sehnsucht, deren Erfüllung wir häufig unser ganzes Leben nachjagen. Aber es gibt kaum ein anderes Gleichnis im Neuen Testament, das so viel Vertrauen in das individuelle menschliche Leben setzt, wie dieses, das so therapeutisch mit unserer Angst, mit unserer Unruhe, mit unserem Willen zur Perfektion und mit unseren moralischen Ansprüchen umgeht. Mit Recht wird also in diesem Gleichnis darauf hingewiesen, dass es nicht darum gehen kann, das scheinbare Unkraut auszureißen, sondern dass alles, was sich in unserer menschlichen Seele befindet, wichtig ist, betrachtet zu werden. Das im Menschen Vorhandene verträgt keine Einschränkungen, keine Begrenzung. Es geht vielmehr darum, auch das, was uns bedrohlich erscheint, verstehen zu wollen und ins Bewusstsein zu heben. Es muss nicht mehr entschieden werden, ob etwas gut oder böse ist, sondern es geht darum zu verstehen, ob auch Negatives und vordergründig Belastendes zum eigenen Reifungsprozess einen wichtigen Beitrag leisten kann.

Wenn wir uns als Geschöpfe Gottes verstehen, wäre es einfach, daraus zu schließen, dass Gott offenbar einen lebendigen Austausch von allem wünscht, dass er keine klare Welt, keine reine Ordnung, die nach äußeren Gesetzen funktioniert, geschaffen hat. Es ist wichtig zu sehen, dass wir Menschen Wesen sind, die ständig unterwegs sind: Suchende. Nicht-Wissende. Sich Mühende. Unvollkommene, ständig umhertastend, um herauszufinden, was Irrtum und Wahrheit ist. Das ist jedoch auch das Spannende an unserem Leben. Und gerade heute sehen wir, dass der fanatische Wille der Guten, die menschliche Geschichte und nach Möglichkeit die ganze Natur von allem Negativen, von jedem Schatten, von jedem Unheil zu reinigen, genau das Gegenteil bewirkt. Fundamentalistische religiöse Strömungen in jeder Religion, die von sich behaupten, genau zu wissen, was Gott will, haben am furchtbarsten und grausamsten gewütet. Diesem Willen zum absolut Guten verdanken wir Heilige Kriege, die sogenannte Hexenverbrennung im Mittelalter, die Zerstörungen von Tempeln und religiösen Symbolen überall auf der Welt und durch alle Menschheitszeitalter. Im Namen der Reinheit werden die schlimmsten Säuberungsaktionen vorgenommen, die schlimmsten Verbrechen begangen, nimmt die Unbarmherzigkeit in der Welt zu. Das Schlimmste daran ist jedoch, dass Menschen dies häufig mit bestem Gewissen und aus guten Absichten taten und tun, weil sie glauben, auf der Seite der Wahrheit zu stehen.

Das gilt nicht nur für gesellschaftliche Gruppierungen, sondern findet sich auch im seelischen Erleben einzelner Menschen wieder. Von klein auf hören viele Menschen auch heute noch: Wir müssen das Böse unterdrücken und beherrschen, jeden Tag moralisch einwandfrei leben, alles, was störend ist, niederhalten und verdrängen. Daraus entstehen »Unkraut« und Missgunst. Gott will, dass wir nichts auseinanderreißen, sondern gerade aus der Spannung, aus den Gegensätzen, aus den Widersprüchen reifen, am Leben teilnehmen und daraus das rechte Maß entwickeln.

Das rechte Maß zu finden heißt daher nach diesem Gleichnis: nichts ausreißen und nichts zerstören, was in uns vorgeht. Wir lernen, dass kein menschliches Problem dadurch gelöst wird, sich mit schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch zufriedenzugeben, sondern dass neben dem Positiven auch Negatives da sein darf, dass neben dem Korn auch Unkraut wachsen muss, damit sich das gesellschaftliche, aber auch das individuelle Leben sinnvoll entwickeln kann. Insofern ist es eine Grundaussage: Bei Gott darf alles wachsen. Wenn wir dieses Vertrauen in Gott haben, warum nicht auch in den Menschen, der eine in den anderen? Das Anerkennen, dass in uns und auch im anderen alles wachsen darf, schafft Beziehungen in Ehrlichkeit und Wahrheit, die ein kreatives und lebendiges Leben möglich machen.

Bernd Deininger

Die Mächtigen – als Täter und Opfer • Matthäus 14,1–12 und Markus 6,17–29

Johannes der Täufer gilt als Wegbereiter Jesu und als dessen Lehrer. In den Evangelien bei Markus und Matthäus werden die besonderen Umstände seines Todes mit einem dramatischen Akzent versehen, weshalb diese Geschichte eine starke und anhaltende literarische Verwertung erfuhr. Hier stehen sich große Gegensätze gegenüber: Es geht um Recht und Ordnung gegen Leidenschaft, um Körperlust gegen Tod, um Schönheit und Ästhetik gegen Brutalität und Grausamkeit, um verführerischen Tanz und bedrohlichen Absturz.

Die Figur der Salomé ist in den biblischen Quellen nicht begründet. Sie kommt aber namentlich bei dem bedeutenden Geschichtsschreiber des jüdischen Volkes, Flavius Josephus, vor. Er berichtet von einer Salomé in den »Antiquitates Judaicae«. Salomé bewegt sich innerhalb der komplizierten Beziehungen des Herodes-Hauses, die von Inzest und Mord geprägt sind. Ihre Mutter Herodias hat sich von ihrem ersten Mann Phillippus, einem Bruder des Herodes, getrennt und in zweiter Ehe Herodes geheiratet. Salomé entstammt ihrer ersten Ehe, der im biblischen Text beschriebene Herodes Antipas ist also nicht ihr leiblicher Vater, sondern ihr Stiefvater und Onkel. Herodes hat wegen der leidenschaftlichen Liebe zu Herodias seine erste Frau verlassen und seinen Bruder (eigentlich Halbbruder) verstoßen. An diese Genealogie des Herodes-Hauses, die von Flavius Josephus niedergelegt ist, knüpfen die Evangelisten an, verbinden die historische Salomé-Figur mit der Geschichte von Johannes dem Täufer und bringen sie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dessen Enthauptung.

In der Erzählung werden zwei Grundmotive deutlich. Das erste ist der Konflikt zwischen Herodes und Johannes: der eine lebt im Luxus, der andere nimmt freiwillig Entbehrungen auf sich und wird so zum Propheten und Vorbild für viele Menschen. Das zweite und destruktivere Motiv ist die Feindschaft der Herodias gegenüber Johannes, die es dem Propheten verübelt, dass er auf den doppelten Ehebruch des Königspaares hinweist. Die biblische Erzählung geht zudem auf eine frühere Erzählung aus dem antiken Rom zurück. Der römische Schriftsteller Livius berichtete nach einer Anklageschrift des Cato, dass der Konsul Flaminius etwa 192 v. Chr. während des Krieges gegen die Gallier bei einem Mahl einen Gefangenen erschlug, um seinen Lustknaben das Schauspiel einer Enthauptung zu bieten. Das wurde in die Erzählung des Johannes auf die geeignete Konstellation in Judäa übertragen. Die weibliche Rolle in der biblischen Geschichte wurde auf zwei Personen verteilt: die intrigante Mutter und die bestrickende Tochter.

Den Kirchenvätern war Salomé ein Dorn im Auge. Ihr Tanz wurde als Warnung vor dem den Frauen zugeschriebenen Verführungspotenzial gedeutet. Johannes Chrysostomos beispielsweise wies darauf hin, dass Gott den Menschen die Füße nicht zum Tanz gegeben habe, sondern um damit auf dem rechten Weg zu wandeln. Augustinus gestaltete den Märtyrertod des Johannes aus. Herodias wurde zur bösen treibenden Kraft, die Tochter wurde dann in der späteren Dichtung mit einer grellen Leidenschaftlichkeit gezeichnet.

Ganz anders ausgedeutet wurde das Motiv in Oscar Wildes Tragödie »Salomé«: Das Schöne stellt sich im Bösen dar. In diesem Werk vollendet Wilde die Emanzipierung der Salomé-Figur zur existenziellen Außenseiterin und stellt sie an die Seite anderer jüdischer Schicksalsschwestern wie Judith und Dalila. Bei Wilde ist Salomé weder die Erfüllungsgehilfin ihrer Mutter noch Spielball der stiefväterlichen Launen. Wilde zeigt die Bestrickung des Herodes durch Salomés Tanz. Tanz und Bitte geschehen also nicht auf Wunsch der Mutter, obgleich Herodias glaubt, dass Salomé ihr zuliebe die Forderung stellt, sondern Salomé tanzt in eigener Sache, um sich an Johannes, der sie abgewiesen hat, zu rächen.

Wer war nun dieser Johannes aus den Evangelien, dieser »größte aller Propheten«, wie Jesus ihn nannte? Er setzte sich mit verzehrender Leidenschaft für Recht und Ordnung ein und taucht in der Bibel im Habitus der altisraelitischen Propheten auf: einfach gekleidet, ohne den geringsten Luxus, ernährte er sich von Heuschrecken und Honigwasser. Er zog durch die Dörfer und Landschaften und wies die Menschen, die ihm begegneten, auf ihre Schuld vor Gott hin. Es ist zu vermuten, dass auch Jesus diesen Propheten traf, ihm gefolgt ist und ihn wohl anfangs als seinen Lehrer akzeptierte. In Johannes sprach ein Mensch authentisch davon, wie ein gottgefälliges Leben aussehen könnte. Er konnte glaubhaft vermitteln, dass Gott durch ihn spricht und in ihm in seiner menschlichen Gestalt lebendig wird. Der Hinweis auf die Schuld des Menschen spielte bei Johannes eine wichtige und tragende Rolle. Dies hat ihm letztendlich, wie oben erwähnt, auch die Feindschaft von Herodes und Herodias eingebracht.

Wir können uns Johannes und Jesus als Brüder vorstellen, die beide vom Geist Gottes erfüllt waren, die aber auch deutlich menschliche Züge in der Beziehung zu Gott, ihrem Vater, hatten. Das schärft den Blick für die psychische Seite des Johannes: Als er Jesus im Jordan taufte, öffnete sich der Himmel und die Stimme des Vaters sagte zu Jesus: »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe«. Was mag in diesem Moment in Johannes, in diesem Fall dem psychologisch gesehen älteren Bruder, vor sich gegangen sein? Gab es Neidgefühle dem Jüngeren gegenüber, der vom Vater in dieser Weise bevorzugt wurde? Hat er aufkeimende Neidgefühle umgewandelt, indem er Buße und Schuld predigte, um so in ganz besonderer Weise dem Vater imponieren zu können und von ihm ein ähnliches Lob zu erhalten? Dann könnte dies auch als eine Abwehr eigener negativer Gefühle gedeutet werden, die aber zu ganz normalen seelischen Vorgängen gehören, wie sie bei jedem Menschen ablaufen.

Johannes sah große Teile der Gesellschaft, in der er sich bewegte, auf eine Katastrophe zutreiben. Er versuchte durch die Taufe Menschen aufzuwecken und zu einem neuen, von Gott geprägten Leben zu bringen. Er stellte sich den Messias wohl auch als einen unnachgiebigen Richter vor, der zwischen gut und böse, Heil und Verlorensein, zwischen krank und gesund unterscheidet. Aber der neue Messias, Jesus, setzt sich gegen die Moral des Täufers ab. Er steigert die Drohungen seines Lehrers nicht weiter, macht sich nicht zum Richter, sondern er stellt Barmherzigkeit und Liebe in den Vordergrund. Die unerhörte Größe Jesu, die über die drohende Gestalt des Täufers hinausführt, zeigt den göttlichen Willen als Arzt und als Heiler, nicht als einen Richter. Dennoch ist festzuhalten, dass das Wirken Jesu ohne den aufrüttelnden Johannes wohl nicht so verlaufen wäre. Insofern kann Johannes tatsächlich als der psychologisch gesehen ältere Bruder Jesu bezeichnet werden.

In der Passionsgeschichte des Johannes geht es im Kern um Recht und Unrecht. Zu dem Mächtigen, dem König Herodes, spricht er: »Du hast kein Recht, die Frau deines Bruders zu deiner Frau zu machen!« Da kommt vieles zusammen: Ehebruch, sozialer Inzest, Verletzung des Gesetzes, Unterdrückung von Menschen. Für einen Mann wie Johannes, der für Recht und Ordnung eintritt, darf es nicht sein, dass er, wenn es für ihn gefährlich werden könnte, zurückschreckt. Er müsste sich sonst den Vorwurf gefallen lassen, dass er den kleinen Leuten Moral predigt, doch nicht die Kraft und den Mut besitzt, seinen Worten auch bei den Großen und Mächtigen Geltung zu verschaffen.

Aber welcher Mächtige lässt es sich gefallen, dass er auf Unrecht, das er begangen hat, hingewiesen wird? Wann wären je die Herrschenden imstande gewesen, Fehler zuzugeben, womöglich noch in ihrem eigenen privaten Bereich? Wie wir es auch heute in unserer Zeit sehen, gelingt das nicht. Dabei spielt es keine Rolle, welche Art von Macht jemand besitzt. Es kann die Macht über ein politisches Amt sein, aber auch die des Geldes oder eines Wirtschaftskonzerns. Letztendlich gilt das für alle. Wir sehen es immer wieder: Wenn sich zeigt und an die Öffentlichkeit kommt, dass Menschen oder Unternehmen korrupt sind, vertuschen und verdrängen, bleiben die Möglichkeiten, zurückzutreten oder ins Nichts, ins Namenlose gestoßen zu werden. Eine dritte Möglichkeit ist, alles zu leugnen und um den Erhalt der Macht zu kämpfen. Viele beschreiten dann diesen Weg. Die Mächtigen werden so lange lügen, wie sie können, sie werden so lange intrigieren, wie sie müssen, und immer mehr mit ihren eigenen Taten verschmelzen. Die biblische Geschichte bildet also in vielerlei Hinsicht die aktuelle Situation in weiten Bereichen der Welt ab.

 

Herodes ist als Herrscher eigentlich willens, Johannes umbringen zu lassen, hat aber Angst vor seinem Volk, Angst, gegen den Willen der Mehrheit öffentlich eine Handlung zu vollziehen, die ihn in Misskredit bringen kann. Was die Menge denkt, hat offensichtlich auf die Machthaber einen entscheidenden Einfluss. Häufig wird deshalb die Macht überschätzt, die Menschen sich selbst zuschreiben, wenn man nicht versteht, wie abhängig gerade die Herrschenden vom Urteil der Masse sind. In König Herodes verdichtet sich eher die Schwäche als die vermeintliche Stärke der Macht. Daneben erscheint Herodias in der Erzählung als die wirkliche Antreiberin, als die eigentliche Verführerin. Die Hinrichtung wird von ihr berechnend mit einer skrupellosen Zielstrebigkeit in Szene gesetzt.

Was kann für diese Frau aber ein tieferliegendes, psychologisch erklärbares Motiv gewesen sein? Wäre es zum Beispiel denkbar, dass diese Frau in ihrem tiefsten Inneren von einer leidenschaftlichen Liebe zu ihrem jetzigen Mann und Partner getrieben wurde? Wenn dies so wäre, dann müsste man eine Vorgeschichte zu ihrem Ehebruch denken. Könnte es so gewesen sein, dass sie in einer jahrelang unglücklichen Ehe gelebt hat, einen Mann wählen musste, den sie nicht liebte, weil man ihn ihr aufzwang, sie in dieser Ehe immer mehr verkümmerte und merkte, dass sie innerlich zu sterben begann? Als sie dann ihre Leidenschaft dem Halbbruder gegenüber spürte, hat sie vielleicht einen Entschluss gefasst, alle alten Bindungen hinter sich zu lassen und sich in ein Abenteuer zu stürzen, wie sie es bislang nicht kannte. Wenn dies so wäre, dann hätten wir eine Frau vor uns, die es in ihrer Verzweiflung gewagt hat, alles auf eine Karte zu setzen; sie wäre dann nicht hinterhältig oder verbrecherisch, sondern eher mutig und entschlossen.

Aber jetzt, wo sie alles erreicht hat, wofür sie gekämpft und viel riskiert hat, fühlt sie sich vom Täufer bedroht und ihrer neuen Existenz beraubt. Was hat denn dieser Moral predigende Mann für ein Recht, in den Zentren der Macht zu agieren und das Volk zum Widerstand aufzuhetzen? Wie kommt er dazu, sich in ihr Privatleben einzumischen und sie moralisch zu verdammen, wo er doch keine Ahnung von ihrer Vorgeschichte hat? Da drängt sich jemand in eine Sphäre, in die er nicht hineingehört, in der er nichts verloren hat. Wenn man die Figur der Herodias so betrachtet, würde alles etwas verständlicher. Weil er ihre Liebe bedroht, hasst Herodias den Täufer. Sein radikaler Moralismus gefährdet ihr mühsam aufgebautes Lebensglück. Um die Empfindungen, die Triebe und Affekte noch besser zu verstehen, muss man hinzufügen, dass Herodias durchaus weiß, dass sie gegen Ordnung und moralische Vorgaben verstoßen hat und eigentlich spürt, dass Johannes mit seiner Kritik richtig liegt.

Was passiert aber, wenn es nicht wahr sein darf, was geschehen ist, wenn der Betroffene mit diesen Wahrheiten überhaupt nicht leben kann? Wenn er, um weiterleben zu können, die Gefühle von Schuld und Vorwurf zur Seite schieben muss? Wie geht es Menschen, die in ein wirkliches Leben, in dem sie eine Chance haben, glücklich zu werden, nur um den Preis der Schuld eintreten können und hinter ihre Entscheidung dazu weder zurück wollen noch zurück können? Und dann stehen sie einem Menschen gegenüber, der nicht aufhört zu sagen: »Ehe sich diese Tatsache in deinem Leben nicht ändert, kann nichts in Ordnung kommen. Du kannst so nicht weiterleben, du musst wieder zurück«. Es gibt aber kein Zurück. Das versteht dieser Mensch mit seiner Moral und seiner Rechthaberei jedoch nicht. Was weiß er schon von der Liebe und den Gefühlen einer vernachlässigten und unglücklichen Frau? Er kennt keine tiefergehende Beziehung zu einem anderen Menschen, weil er asketisch lebt und nur Moral und Ordnung gelten lässt.

Es gibt auch noch weitere Tatmotive, zum Beispiel bei Herodes selbst. Er wollte eine Frau, mit der er eine leidenschaftliche Liebe leben kann. Warum also sollte er diese Frau öffentlich beleidigen lassen? Diesem Mächtigen fällt es jedoch schwer, sich mit der Schuld auseinanderzusetzen, die er auf sich geladen hat, als er die Frau seines Bruders zur Geliebten und Gattin nahm. Er versteckt sich hinter den Frauen, schiebt die Entscheidung Herodias und ihrer Tochter zu.

An dieser Stelle kommt dann die junge Frau in die Geschichte. Sie fordert den König zu einem Verbrechen auf, an dem sie selbst eigentlich kaum ein Interesse hat. Sie ist lediglich gehorsam ihrer Mutter gegenüber und fordert den Kopf des Täufers aus der Treue eines Kindes zu seiner Mutter. Aber es geht auch um mehr. Die Kulturgeschichte hat gezeigt, dass in Dichtung, Musik und Malerei der Tanz der Salomé in seiner morbiden Laszivität aufgegriffen und entsprechend dem Zeitgeschmack interpretiert worden ist. Die Tochter der Herodias wurde zum Inbegriff der tödlichen Macht weiblicher Verführung. Die Angst vor der kastrierenden Frau und die Sehnsucht nach der Kindfrau verschmelzen hier zu einem faszinierend-gruseligen Albtraum. Der weibliche Eros, der in Salomé Gestalt gewinnt, mobilisiert die männliche Lust zur Zerstörung, die Grausamkeit des Begehrens und den tödlichen Wunsch, zu besitzen.

Salomé bleibt die mächtige Verführerin, die ihrer Mutter zeigt, dass der lüsterne Stiefvater eigentlich lieber zu ihr ins Bett steigen würde als zu seiner alternden Gattin. Unter dem Mantel der Treue des Kindes zu seiner Mutter zeigt sich die Rivalität zwischen Frauen, die gnadenlos mit ihrer erotischen Kraft versuchen, sich gegenseitig auszustechen. Dieser ödipale Konflikt wird über den biblischen Text hinaus insbesondere in Oscar Wildes Tragödie dargestellt.

Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf die gesamte Motivkette der Akteure dieses biblischen Dramas: Am Anfang steht die Schonung des Täufers aus der Angst des Königs vor der Meinung der Masse. Dann gibt es den Mut zum Ehebruch aus einer nicht erfüllten Liebe, entwickelt sich Hass auf den Menschen, der die Moral einklagt, um ein Leben zu schützen, das nie mehr in Ordnung kommen kann. Ein Eid wird geschworen, der wie ein Zwang wirkt, am Ende das zu tun, was man versprochen hat, und daraus entsteht eine Geschichte, in deren Mitte Menschen stehen, die vieles eigentlich nicht wollten, was sich so dramatisch ereignet hat. Sie sind sowohl Opfer als auch Täter, Getriebene ebenso wie Treibende.

Wie können wir nun in einer Welt zusammenleben, in der es Menschen gibt wie Herodes, Herodias, Salomé und all die anderen, die exemplarisch für unsere heutige Zeit stehen? Ein Weg wäre die Haltung Jesu, die uns eine andere Sichtweise ermöglicht. Stellen wir uns vor, es gäbe keine Vorwürfe mehr, nicht länger das Drohen mit erhobener Faust, sondern wir würden die Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, über eine längere Zeit begleiten. Herodias zum Beispiel müsste lernen, wie sie ihr Glück in der Liebe finden kann, sodass es für sie innerlich stimmt. Sie müsste Spielräume für ihre Gefühle zulassen, damit sie spürt, mit sich im Einklang ist und in Verhältnisse hineinfindet, die sie wirklich leben lassen. Ist es so einfach, dass wir sagen: Ehebruch ist Ehebruch und Wiederheirat ist Sünde? Kann man so urteilen, ohne irgendetwas aus der Vorgeschichte der jeweiligen zu wissen? Was geht in einer solchen Frau vor? Wenn man danach nicht fragt, versteht man weder den Menschen noch das, was Gott im Umgang mit Menschen meint.

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