Verstehen statt verurteilen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Bernd Deininger

Schwer zu verstehen • Matthäus 13,1–23

Kann man Menschen, die in ihren Ängsten gefangen sind, erreichen? Wie viele Menschen gibt es, die die Augen vor ihrer eigenen Lebensgeschichte verschließen, weil sie Angst haben, dort mit Wahrheiten und Tatsachen konfrontiert zu werden, mit denen sie glauben, nicht umgehen zu können? Das wären zwei wichtige Fragen, auf die das Gleichnis vom Sämann, das Jesus erzählt, zu antworten versucht.

In dem Gleichnis vom Sämann soll dargestellt werden, wie Menschen in Verzweiflung und Resignation hineingeraten und dann dazu neigen, ihr Leben völlig infrage zu stellen und aufzugeben. Gerade jene, die an einer depressiven Erkrankung leiden, sind mit den oben genannten Symptomen konfrontiert. Für viele Menschen genügt es allerdings schon, wenn sie in eine Krisensituation hineingeraten, dass sich daraus eine depressive Episode entwickelt, die das Leben über lange Zeit begleitet und zu einer melancholischen und lebensverneinenden Haltung führt. Das Beeindruckende ist, dass in den Bildern des Gleichnisses vom Sämann diese depressiven Symptome zur Sprache kommen, die sich sonst nur schwer beschreiben lassen.

Wenn wir mit Menschen zu tun haben, die unter einer Depression oder einer depressiven Entwicklung leiden, versuchen wir häufig, sie zu trösten. Allerdings besteht der Trost oft darin, den anderen aufzufordern, sich zusammenzureißen und den Kopf nicht hängen zu lassen. Auch neigen wir dazu, an frühere Zeiten zu erinnern, in denen die Depression noch nicht spürbar war, an schöne Dinge, die der andere erlebt hat, an Fähigkeiten und positive Charaktereigenschaften, die bei dem betreffenden Menschen vorhanden, doch jetzt scheinbar verloren sind. Die Erfahrung zeigt aber, dass gerade diese Art des Trostes wenig ausrichtet, im Gegenteil: der betreffende Mensch fühlt sich unter Druck und eigentlich wird dadurch alles nur schlimmer: Der Verzweifelte fühlt sich zudem noch unverstanden.

Im Gleichnis wird der Sämann in seinem Zorn und seiner Angst dargestellt, denn er sieht sich außerstande, den Schwarm der Vögel, die ihm seine Körner wegfressen, zu verjagen. Er weiß, dass er hilflos ist und dass die Vögel täglich wiederkommen. Zudem gibt es viele Steine im Acker, und sooft er den Boden auch umpflügt: Sie werden immer vorhanden sein.

Es gibt viele Lebenssituationen, in denen wir mit Enttäuschungen und dem Gefühl von Resignation konfrontiert sind, weil wir Dinge nicht ändern können. Zum Beispiel im Bereich unserer Beziehungen: dass wir enttäuscht werden vom anderen und wir erstaunt feststellen, dass wir Anteile am anderen, die wir als negativ empfinden, so noch nicht gesehen haben. Oder im Bereich gesellschaftlicher und politischer Entscheidungen: dass wir damit nicht einverstanden sind und nicht klarkommen. Das kann dann durchaus dazu führen, dass die Welt sich einengt und der Blick auf das, was verloren ist, was kaputtgemacht wurde und erstickt ist, überhandnimmt. Dann ist es tatsächlich zum Verzweifeln. Auch in dem Gleichnis wirkt es so, als ob diese Sicht auf die Dinge, die so ausführlich geschildert wird, durchaus ihre Berechtigung hätte. Der Grund ist aber, dass es zunächst darum geht, ein Gefühl in Gang zu bringen, es also durchaus in Ordnung ist, wenn der Einzelne Gründe findet beziehungsweise ihm seine Lebenserfahrung zeigt, dass er für Traurigkeit und Resignation durchaus Verständnis erwarten darf.

Ein Beispiel: Ein 45-jähriger Mann kam in meine Praxis, weil er unter Panikanfällen und morgendlichen depressiven Verstimmungen litt. Er erzählte mir, dass er unerwünscht gewesen war als Kind und seine Mutter eigentlich eine Abtreibung vornehmen lassen wollte, weil sein biologischer Vater sie verlassen hatte, als die Mutter ihm sagte, dass sie schwanger geworden war. Die Oma, von der er das erfahren hatte, überredete ihre Tochter, das Kind zu behalten und sagte ihr, sie würde sich schon darum kümmern. Nach seiner Geburt ging die Mutter nach einigen Wochen wieder zur Arbeit, da sie für ihn und für sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen musste. In der ersten Zeit wuchs er also bei der Großmutter auf. Als er zwei Jahre alt war, fand die Mutter einen neuen Partner gefunden, den sie heiratete. Die Mutter nahm den Jungen dann zu sich. Schon von Anfang an entwertete ihn der Stiefvater, er hat es ihm nie recht machen können, es gab keine Liebe und Anerkennung. Schon sehr früh spürte er viel Neid und Hass vonseiten des Stiefvaters, da er ihn wohl mit seinem Leben und seiner Existenz daran erinnerte, dass bereits ein anderer Mann seine Frau geschwängert hatte, was er nur schwer verarbeiten konnte. Die Mutter unterwarf sich dem Stiefvater völlig und schien dankbar zu sein, dass er sie mit einem Kind noch als Partnerin genommen hatte. Gegenüber ihrem Mann nahm sie ihren Sohn nie in Schutz und behandelte ihn letztendlich wie einen Fremdkörper. Sie war hilflos, arbeitete viel, um es auch ihrem Mann recht zu machen, und bekam mit ihm zwei Kinder. Seine Halbschwestern wurden ihm in allen Bereichen vorgezogen.

Er erinnerte sich daran, dass er nie altersgemäß spielen durfte. Die Halbschwestern waren vier und sechs Jahre jünger als er, und es war für ihn eine Pflicht, sich um die jüngeren Geschwister zu kümmern und auf sie aufzupassen. Das Spielen mit Gleichaltrigen wurde ihm immer wieder verwehrt. Schon im Grundschulalter musste er Tätigkeiten verrichten, die eigentlich in den Aufgabenbereich eines Erwachsenen fallen. Er ging zum Einkaufen, hielt die Wohnung in Ordnung und verzichtete völlig auf eigene Wünsche und Bedürfnisse.

Nach einer Auseinandersetzung zwischen der Oma und dem Stiefvater, bei der die Großmutter darauf hinwies, dass er vernachlässigt würde, verbot der Stiefvater den Kontakt mit der Oma, sodass für meinen Patienten eine wichtige Stütze und der einzige Mensch, der ihm etwas Liebe gegeben hatte, wegfiel.

Er erinnert sich noch an die ersten Jahre in der Grundschule, wo er häufig träumte, dass er es einmal zu etwas bringen, den Stiefvater in allen Bereichen überbieten und großes Ansehen erlangen würde. Mit diesen Träumen im Kopf und der Hilfe eines Pfarrers schaffte er es, gute Noten zu bekommen, sodass er auf Druck des Pfarrers das Gymnasium besuchte. Er war immer ehrgeizig und fleißig, hatte das Gymnasium mit guten Leistungen durchlaufen und danach ein Maschinenbaustudium aufgenommen. Er wurde tatsächlich ein erfolgreicher Ingenieur. An seinem Arbeitsplatz war er immer einer der eifrigsten und fleißigsten Mitarbeiter, ließ sich alle schwierigen Arbeiten aufladen, passte sich immer an und vermied Konflikte. Im Privatleben fand er eine Frau, die er verwöhnte und der er ein luxuriöses Leben ermöglichte, der er sich aber völlig unterordnete. Zudem hatte er viele Freunde, mit denen er luxuriöse Urlaube verbrachte und illustre Partys feierte.

Dann geriet das Unternehmen in eine wirtschaftliche Krise, er verlor seinen Arbeitsplatz, die Branche, in der er tätig war, war nicht mehr gefragt, er lebte finanziell am Limit. Nach einigen Monaten verließ ihn seine Frau, da er ihr materiell nichts mehr bieten konnte, und zog zu einem erfolgreichen Arzt. Die Freunde, mit denen er vorher viel gefeiert hatte, hatten das Interesse an ihm verloren. Vertrauensvolle Beziehungen hatte er ohnehin keine, sodass er völlig einsam und ohne Perspektive zurückblieb. In dieser Situation entwickelten sich die Depression und die Panikattacken, die ihn zu mir führten.

Seine Geschichte war wie das Bild in dem Gleichnis: »Da fiel ein Same, der an sich gut ist, auf felsigen Grund, schoss gleich auf, aber konnte nicht haften, hatte nie die Möglichkeit, Wurzeln zu schlagen, um in sich ruhig zu werden und Nahrung zu gewinnen aus dem eigenen Standort«. Er war hin- und hergerissen in seinem Leben, auf der Suche nach Anerkennung und Liebe. An Anstrengung, gutem Willen, Initiative und richtigen Entscheidungen hatte es nie gefehlt, aber am Ende scheiterte er doch. Der Mann, der vor mir saß, war ausgelaugt und ausgezehrt, müde und kraftlos. Es war sofort klar, dass es in diesem seelischen Zustand, in dem er sich befand, kein vernünftiges Argument gab, um ihn da herauszuholen. Für einen solchen Menschen ist es nicht möglich zu sehen, dass das Leben auch schön sein kann. Das Einzige, das hilft, ist, ihm zu gestatten, dass er sich krank, müde, ausgezehrt und von Ängsten überflutet fühlt. Er lebte bislang in einem Zustand, in dem er nicht wusste, was er selbst eigentlich will und wer er ist. Er wusste nur, dass er sich und den anderen (insbesondere der Mutter und dem Stiefvater) beweisen wollte, dass er erfolgreich sein kann. Das führte aber dazu, dass er nicht seinen eigenen Vorstellungen gemäß lebte, sondern sich von außen bestimmen ließ. Auch die Erwartungen, die er an sich selbst hatte, waren nicht seine eigenen, sondern die, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten.

Er hatte den Glauben, dass er sein Leben wieder in den Griff bekommen, dass es ihm wieder gutgehen könnte, völlig verloren. Es gab für ihn keine Perspektive, das Leben hatte keinen Sinn mehr. Er hatte den Glauben an sich selbst, seine Leistungsfähigkeit und an alles, was für ihn bislang wichtig gewesen war, verloren. Wie oben gesagt, ist gerade in einer solchen Situation jeder Rat von außen, auch wenn er noch so gut gemeint ist, sinnlos und eher kontraproduktiv. Die üblichen Tröstungen haben keinerlei Aussicht auf Erfolg.

Entscheidend ist, alles, was auf das Leben dieses Mannes eingewirkt hatte, aufzugreifen, alle Demütigungen und Zurückweisungen mit ihm noch einmal durchzugehen und ihn die Trauer und Einsamkeit spüren zu lassen. Gerade indem noch einmal verdichtet wird, was dunkel und bedrohlich ist, kann sich ein Lichtstrahl zeigen. Die Umwandlung der grenzenlosen Dunkelheit und Resignation kann nur dadurch erreicht werden, dass der Mensch vertrauensvoll begleitet wird und spürt, dass ein anderer mit ihm diese Dunkelheit aushält. Letztendlich geht es darum, dass derjenige, dem alle Hoffnungen zerbrochen sind, in seinem Inneren und in der Dunkelheit spürt und weiß, was er eigentlich sein könnte und wozu er berufen ist.

 

Im therapeutischen Geschehen geht es darum, durch die Verzweiflung hindurchzugehen, indem man all die Gründe für diese Verzweiflung aufspürt. Aus der Ablehnung und dem Mangel an Liebe, die dieser Mann erfahren hat, aus allem Negativen also kann er dann etwas für ihn Wertvolles formen und erspüren. Er kann wahrnehmen, dass ihm eine innere Kraft gegeben wurde, trotz der Mängel, die er erlebt hat, durchzuhalten und etwas zu erreichen. Er kann spüren, dass er stolz auf das sein kann, was er unter den Startbedingungen ins Leben erreicht hat. Er kann spüren, was er selbst ist. Das kann ihm keiner mehr nehmen. Aus der Verzweiflung und dem Negativen heraus findet er so zu seinem unverfälschten Wesen Zugang, er kann zur Blüte bringen, was in ihm lebendig ist.

Ein Mensch kann durch das Herabsteigen in den Keller seiner Seele verstehen, dass er aufhören muss, alles von außen her ersticken und überwuchern zu lassen. Er kann spüren, dass es wichtig ist, Konflikte anzugehen und eigene Interessen zu vertreten. Er kann spüren, wie wichtig es ist, Grenzen zu setzen und sich nicht mehr hin- und herschieben zu lassen. Es ist erstaunlich und wunderbar, dass diese tiefenpsychologische Erkenntnis sich schon in dem Gleichnis, das Jesus erzählt, zeigt. Er weist darauf hin, dass wir nur im Spiegel unserer eignen Seele uns selbst sehen lernen. Die Liebe, das Verständnis und die Güte Gottes zeigen sich in unseren Träumen und in unserer Kraft, überleben zu wollen.

Das ist jedoch kein einfacher Schritt. Viele Menschen haben Angst vor ihrer eigenen Tiefe, vor sich selbst, lehnen daher einen therapeutischen Prozess ab und greifen zu Medikamenten. Sie haben schon in ihrer Kindheit gelernt, dass jedes tiefere Gefühl zu vermeiden und zu unterdrücken ist. Das führt häufig dazu, dass sie die Chance nicht ergreifen, sich mit ihrer Dunkelheit auseinanderzusetzen, um aus dieser heraus Ruhe zu finden, zu reifen und erwachsen zu werden. Dennoch: Alles, was ist und wachsen will, braucht Zeit. Es gibt eben Menschen, die in einer Krisensituation Symptome entwickeln, die Zeit aber noch nicht reif ist, dass sie sich mit ihrer Enttäuschung im Inneren und mit ihren negativen Erfahrungen auseinandersetzen. Für viele kommt oft erst nach jahrelangen Symptomen der richtige Zeitpunkt, zu dem es möglich ist, genauer hinzuschauen. Ich habe schon Menschen erlebt, die siebzig Jahre alt werden mussten, um sich einem tiefenpsychologischen Prozess stellen zu können. Auch bei diesen älteren Menschen habe ich erlebt, wie Sehnsüchte und Interessen noch Platz und Raum finden, um sich zu entwickeln. Letztendlich geht es nur darum, das Vertrauen mitzubringen, dass nichts, was in uns lebt, ausgeschlossen werden muss.

Häufig ist es so, dass Menschen große Angst vor ihrer eigenen Freiheit haben. Es ist die Angst vor der eigenen Aggression, dem eigenen Narzissmus, die uns hindern, Dinge genauer zu betrachten. Es ist aber auch die Angst vor dem Einfluss und der Macht anderer Menschen, die uns immer wieder klein und niedrig hält, statt uns zu entwickeln mit den Möglichkeiten, die in uns angelegt sind. Es gibt Ängste, die Zwänge zur Folge haben, zum Beispiel auch in der Gier nach Geld und Erfolg. Aber, um beim Gleichnis zu bleiben: Kein Besitz und kein Erfolg wird uns schützen vor den Disteln, den Dornen und den Stachelgewächsen.

Insofern ist eine tiefenpsychologische Begegnung, die uns mit unserer Dunkelheit in Berührung bringt, nichts, vor dem man sich fürchten müsste. Denn hinter der Begleitung, die wir durch einen anderen Menschen erfahren, dürfen wir auch darauf vertrauen, dass Gott wusste, was er tat, als er uns erschuf. Darum ist es wenig hilfreich, am Ende zu verrechnen, was unser Leben wert ist. Vielmehr gilt: Dass es uns gibt, ist bei Gott unendlich viel, denn aus dem Nichts gerufen, sind wir in die Ewigkeit aufgenommen.

Anselm Grün

Bekenntnisse • Matthäus 16,13–20

Diese Stelle aus dem Matthäusevangelium ist in der Kirchengeschichte sehr kontrovers ausgelegt worden. Im 19. Jahrhundert zog man diese Stelle in der katholischen Kirche zur Begründung des Papsttums heran. Die evangelischen Exegeten haben dem immer widersprochen. Doch heute herrscht zwischen katholischen und evangelischen Exegeten ein großer Konsens. Wichtiger als die Frage, ob mit der Seligpreisung des Petrus der Primat des Papstes gemeint ist oder nicht, ist für mich eine Auslegung, die für unser ganz persönliches Leben als Christen eine Bedeutung hat. Eine Deutung ist für mich nur dann gut, wenn sie eine Bedeutung für mein persönliches Leben hat. Daher möchte ich diese Stelle in diesem Sinn auslegen.

Jesus fragt die Jünger, für wen die Leute ihn, den Menschensohn, halten. Die Antworten, die die Jünger geben, lauten: die einen für Johannes den Täufer, die anderen für Elia, wieder andere für Jeremia. Für mich werden in diesen drei Gestalten Bilder von Jesus sichtbar, die sein Wesen letztlich verfehlen.

Johannes der Täufer ist der typische Asket. Askese und Kampf gehören durchaus zum christlichen Glauben. Doch Jesus ist nicht wie Johannes. Wenn ich Askese absolut setze, wird der Glaube zur Lebensverneinung. Ich darf mir nichts mehr gönnen. Der christliche Weg wird dann zu einem Wettkampf, wer die größten Verzichte leisten kann. Das aber wäre eine Verfälschung des christlichen Weges. Askese ist Einübung in die innere Freiheit. Und als solche gehört sie durchaus zum Glauben. Aber sie darf eben nicht absolut gesetzt werden.

Elija dagegen ist der große Prophet. Jesus wird von den Evangelisten durchaus auch als Prophet gesehen, der den Menschen das Wort Gottes verkündet. Jesus selbst identifiziert sich manchmal mit dem Bild des Propheten, wenn er etwa sagt: »Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat« (Mk 6,4). Oder wenn er von sich selbst sagt: »Ein Prophet darf nirgendwo anders als in Jerusalem umkommen« (Lk 13,33). Doch schaut man sich die Gestalt des Propheten Elija genauer an, werden auch die Schattenseiten des Prophetentums deutlich: Er fühlt sich absolut im Recht und schleudert das Wort Gottes gegen die Menschen. Er tötet sogar alle Baalspriester, weil sie nicht dem rechten Gott opfern. Jesus kennt diese Rechthaberei nicht. Heute verstehen sich manche Christen ebenfalls als Propheten, die nicht auf die Menschen und ihre Sehnsucht zu hören haben, sondern im vollen Bewusstsein, dass sie im Recht sind, die Worte Gottes gegen die Menschen schleudern. Es bleibt zu fragen, ob es tatsächlich immer die Worte Gottes sind, die sie im Mund führen, oder ob sie sich mit dem archetypischen Bild des Propheten identifizieren und dann blind sind für das eigene Streben nach Macht und Rechthaberei, die sie im Bild des Propheten ausleben.

Jeremia als letztes Bild Jesu ist eine Symbolfigur für den leidenden Gerechten. Das ist durchaus passend für Jesus, denn die Passion ist wesentlich für ihn. Doch auch hier gilt: Wenn das Leiden verabsolutiert wird, wird es leicht zum Masochismus. Manche Christen sind direkt verliebt ins Leiden. Jesus hat es nicht gesucht. Es ist ihm widerfahren und er hat es in Hingabe verwandelt. Aber manche Menschen leiden lieber, anstatt aktiv zu werden und die Probleme, unter denen sie leiden, zu lösen. Jesus nimmt das, was sein Leben durchkreuzt, an. Aber er sucht das Kreuz nicht von sich aus.

In all den genannten Identifikationsfiguren ist also immer nur ein Teilaspekt Jesu enthalten. Nun fragt Jesus die Jünger: »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« (Mt 16,15). Und Petrus bekennt stellvertretend für alle Jünger: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes« (Mt 16,16). Jesus ist der Messias, der uns in die Freiheit führt, der uns befreit von negativen Bindungen. Und er ist der Sohn des lebendigen Gottes, was Matthäus besonders betont. Im Griechischen heißt es hier: Theos zon. Das ist ein Bild für den lebendigen Gott, der in der Geschichte handelt, im Unterschied zu toten Götzen (vgl. Luz 461). Für mich sind das zwei wichtige Kriterien, ob mein Jesusbild stimmig ist oder nicht: wenn ich mich frei fühle und ich lebendig bin, kann ich sicher sein, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich kenne Christen, die vor lauter Gesetzesdenken innerlich unfrei sind. Sie zwängen sich in Normen hinein und meinen, diese seien von Jesus so vorgegeben worden. In Wirklichkeit entstammen sie dem eigenen Über-Ich. Andere sind vor lauter Druck, alle Gebote zu erfüllen, innerlich erstarrt. Von ihnen geht keine Lebendigkeit aus. Nur dort, wo ein Mensch voller Leben ist, wo das Leben in ihm aufblüht, hat er ein angemessenes Bild von Jesus.

Jesus preist nun den Simon Petrus selig: »Selig bist du, Simon Barjona, denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (Mt 16,17). So wie Petrus stellvertretend für die Jünger spricht, wird er nun von Jesus stellvertretend für die Jünger seliggepriesen. Das meint: Wenn wir Jesus wirklich verstehen, begreifen, wer er ist, dann ist das letztlich immer ein Geschenk der Gnade Gottes.

Das nächste Wort in der Bibelgeschichte wurde durch die Zeiten und Konfessionen auf ganz unterschiedliche Weise gedeutet: »Ich aber sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen« (Mt 16,18). Heute sind sich die Exegeten einig, dass aus diesen Worten nicht die Einsetzung des Papsttums herauszulesen ist. Das hat die frühe Kirche ebenfalls so gesehen. Petrus steht hier vielmehr für den richtigen Glauben an Christus. Christus ist der eigentliche Fels, auf den die Kirche gebaut wurde. Dieser Überzeugung war bereits Augustinus. Für ihn ist nicht Petrus der Fels, sondern Jesus Christus: »Denn nicht von Petrus hat die Petra (lat. für »Fels«), sondern Petrus von der Petra ... den Namen. Auf diesem Fundament ist auch Petrus selbst erbaut. Denn ein anderes Fundament kann niemand legen als das, welches gelegt ist, welches ist Jesus Christus (1 Kor 3,11)« (Luz, 477). Der Kirchenvater Origenes sieht Petrus als Urbild des Jüngers, der wie Petrus das wahre Christusbekenntnis verkündet: »Fels ist nämlich jeder Jünger Christi, der aus dem geistlichen Felsen Christus (1 Kor 10,4) trinkt« (Luz, 474).

Die Exegese der griechischen Kirchenväter deutet den Felsen auf den Glauben beziehungsweise das Gottessohnbekenntnis des Petrus. So meint Theodor von Mopsuestia: Das Bekenntnis des Petrus »ist nicht dem Petrus allein zu eigen, sondern geschah für alle Menschen: Indem Jesus sein Bekenntnis einen Felsen nannte, machte er deutlich, dass er darauf die Kirche bauen werde« (Luz, 476f). Die römische beziehungsweise kirchliche Deutung auf Petrus und die Päpste als Nachfolger ist als eine weiterführende Auslegung möglich. Aber sie ist eben eine Fortschreibung und im Text selbst so nicht angelegt. Und zurecht weist der schweizer Neutestamentler Ulrich Luz darauf hin, dass die Deutung der biblischen Texte immer auch von zeitgeschichtlichen Situationen abhängig ist. Er sieht in diesem Text nicht das Petrusamt, sondern den Petrusdienst als bleibende Grundlage der Kirche. Der Petrusdienst ist für ihn »die öffentliche Bezeugung des ungekürzten Christusglaubens und die bleibende Verpflichtung der Kirche auf das Programm Jesu« (Luz, 472).

Kontrovers diskutiert wurde auch Vers 19 dieses Abschnitts. Katholische Exegeten haben diese Worte oft auf die Vergebung der Sünden im Bußsakrament hin ausgelegt. Doch das ist ebenfalls eine Fortschreibung, die zwar möglich, aber im Text selbst nicht intendiert ist. Zunächst geht es um das Bild der Schlüssel: Wer die Schlüssel besitzt, hat die Vollmacht über die Räume. Doch worin besteht die Schlüsselgewalt des Petrus? Im Text wird nicht mehr vom Öffnen und Schließen gesprochen, sondern vom Lösen und Binden. Wenn wir diese Worte auf dem Hintergrund jüdischen Denkens verstehen, so beziehen sie sich auf die richtige Gesetzesauslegung durch die jüdischen Lehrer. In Mt 23,13 klagt Jesus die Schriftgelehrten an, sie würden das Himmelreich vor den Menschen verschließen. Im Gegensatz zu den Schriftgelehrten ist es die Aufgabe des Petrus und der Kirche, die sich auf ihn beruft, »das Himmelreich für die Menschen zu öffnen, und zwar durch seine verbindliche Auslegung des Gesetzes. Er soll den Willen Gottes von Jesus her auslegen, um so die Menschen auf denjenigen schmalen Weg zu führen, an dessen Ende die schmale Pforte zum Himmelreich aufgeschlossen wird (vgl. Mt 7,13f). Der Schlüssel zum Himmel sind also die Gebote Jesu, die Petrus verkündigt und auslegt (vgl. Luz, 466).