Erinnerungen an ein schicksalhaftes Leben

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Erinnerungen an ein schicksalhaftes Leben
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Anni Renk

Erinnerungen an ein schicksalhaftes Leben

Es begann in Schloßberg, Ostpreußen, am 10. Mai vor mehr als 70 Jahren …


Erinnerungen aus Erzählungen und selbst erlebten Ereignissen.

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Erinnerungen an ein schicksalhaftes Leben

Wie so viele andere Familien musste meine Mutter Ende 1944 mit 5 Kindern aus Ostpreußen flüchten.


Mein Papa, den ich nie kennen lernte, war in Russland im Krieg und kam nicht wieder zurück. Mama flüchtete mit uns Kindern ins Erzgebirge auf ein Gut, so, wie auch andere Familien. Mein ältester Bruder war 12, mein zweitältester 9, der dritte 6, ich war 3 und meine jüngste Schwester war ein ½ Jahr alt. Weil Mama einen Onkel in Magdeburg vermutete, blieben wir nicht lange im Erzgebirge.

Wir kamen nach Stendal ins Lager. Die große Halle war mit Stroh ausgelegt und alle Familien konnten sich niederlassen. Mama erzählte uns immer wieder, dass sie sich ein Kopftuch umgebunden hat, um sich älter zu machen. Wir Kinder waren immer ganz dicht bei ihr, wie bei einer Glucke, die ihre Küken behütete. Darum war sie von den Russen verschont geblieben. Mama hat mit ansehen müssen, wie die Russen jeden Tag Frauen vergewaltigt haben.

Dann erkrankte meine kleine Schwester an Masern und kam ins Krankenhaus nach Stendal. Ich erinnere mich noch an das Bettchen an der großen Glastür, in dem sie verstorben war. Meine Oma hat immer die vielen Fliegen vom Bettchen verjagt.

Oma und Opa waren die Eltern von meinem Papa, die mit uns geflüchtet waren. Auch im Lager blieben wir zusammen. Opa machte sich jeden Tag zu Fuß auf den Weg über die Dörfer, um für sich und uns eine Bleibe zu finden. Keiner wollte eine Frau mit vier Kindern haben.

Eines Tages fand Opa in Lindstedt für sich eine kleine 1½ Zimmerwohnung. Gleich danach fanden auch wir ein neues zu Hause. Wir hatten Glück und kamen auch nach Lindstedt auf einen Bauernhof. Die zwanzig Morgen große Landwirtschaft wurde von zwei alten Leuten bewirtschaftet. Das Anwesen bestand aus Wohnhaus, Kuhstall, Schweineställe, Schafstall, Hühnerstall, Scheune, Holzschuppen und Durchgang zum Garten. Hinter der Scheune war ein Plumpsklo. Beim Nachbarn war ein Brunnen, wo drei Bauernhöfe sich das ganze Wasser für Mensch und Tiere in Eimern holten. Im Winter war es eine Katastrophe, weil rund um den Brunnen dickes Eis gefroren war, da jeder Wasser über den Rand schüttete. Auch ich musste Wasser holen und hatte damit ein Problem. Zuerst musste ich das Eis mit einer Axt zerschlagen, dann holte ich mir einen alten Hocker. Ich war zu klein und konnte kaum den Eimer mit Wasser hochziehen. Später hat Mama das Plumpsklo neben dem Schafstall eingerichtet. Toilettenpapier gab es nicht, dafür lag immer zerschnittenes Zeitungspapier in der Toilette.

Der Landwirt und seine Frau nahmen uns bei sich auf. Mama bot natürlich gleich Ihre Hilfe an und wir sollten gleich „Vater“ und „Mutter“ sagen. Der Landwirt und seine Frau waren bereit, in zwei kleine Zimmer zu ziehen und überließen uns ihre Wohnung. Es war alles sehr klein. 1 Schlafzimmer, 1 Stube, in der auch gekocht, gegessen und eine Schüssel, in der sich gewaschen wurde. Neben dem Herd stand eine Bank, auf der zwei Eimer mit Wasser standen. Der Herd wurde mit Holz beheizt. Von der Stube aus kam man in eine Wirtschaftsküche und links daneben in eine Speisekammer. In der Küche stand ein Kessel, in dem wurde Wäsche, Sirup oder Pflaumenmus gekocht, geschlachtet und auch Badewasser heiß gemacht. Daneben stand eine Grude, in der Essen warm gehalten wurde. Rechts daneben befand sich die Feuerstelle für den Kachelofen, der mit Holz und Braunkohle bestückt wurde und zum Heizen diente. Der Kachelofen stand zwischen den beiden Zimmern. Von der Küche aus kam man in einen kleinen Flur, rechts ging man in die Zimmer, die nun von „Vater“ und „Mutter“ bewohnt wurden, und links führte eine Treppe zum Hausboden.

Der „Vater“ und die „Mutter“ wurden von Mama mitversorgt. Sie hat Essen gekocht, Wäsche gewaschen und die Zimmer sauber gemacht. Vom „Vater“ bekam sie sehr viel Unterstützung, denn Mama hatte von Landwirtschaft zuerst überhaupt keine Ahnung. Er hat ihr immer zur Seite gestanden.


Von dem Flur aus ging man über eine aus Feldstein gemauerte Treppe nach draußen auf den Hof. Meine Aufgabe war es, die Treppe jede Woche zu schrubben. Mama war sehr froh, dass wir die Wohnung bekamen. Mein ältester Bruder schlief in der Stube, meine anderen beiden Brüder in einem Ehebett entgegen gesetzt und Mama schlief mit mir in dem anderen Ehebett. Mit Anweisung vom „Vater“ musste der älteste Bruder schon mit Pferd und Wagen zum Feld fahren und die Ernte rein holen. Wir hatten ein Pferd, zwei Kühe, Schweine, Schafe, Hühner, Enten, Katzen und einen Hund. Im Sommer stand Mama schon um 400 Uhr auf dem Feld und hackte Kartoffeln oder Rüben und arbeitete abends noch bis 2200 Uhr in dem großen Garten. Die Tiere wurden von den anderen beiden Brüdern versorgt, natürlich immer mit der Anweisung vom „Vater“. Als mein ältester Bruder 20 Jahre alt war, ging er nach Klötze zur Post. Oft kam er nach Hause und half bei der Ernte.

Im Winter kam Opa zu uns um Holz zu hacken. Dabei ist ihm vom Atem der Schnurrbart eingefroren. Wenn es dann am Abend Milchsuppe mit selbst gemachten Nudeln und Bratkartoffeln gab, taute der Bart wieder auf und das Tauwasser tropfte in die Milchsuppe. Nach dem Essen spielte Opa oft mit mir Dame und Mühle. Opa mochte mich sehr und hat mich auch sehr lieb gehabt.

Abends, wenn wir alle in der Stube waren und dann noch gekocht wurde, waren die Fenster so nass, dass Mama immer Handtücher auf der Fensterbank liegen hatte. Am anderen Morgen waren die Fensterscheiben zugefroren und bildeten ein Muster aus vielen Eisblumen, das war für mich immer ein Ereignis. Durch die zugefrorenen Fenster mussten wir den halben Tag Licht anmachen.

Ich freute mich schon auf den nächsten Tag, wenn mein Opa wieder kam. Er kam solange, bis das Holz gehackt und im Holzschuppen aufgestapelt war. Das Holz wurde mit Kühen vor dem Wagen aus dem Wald geholt. Die Kühe haben auch die Wurzeln von gefällten Bäumen aus der Erde gezogen, dann wurden Wurzeln und Holz auf den Wagen geladen und nach Hause gebracht. Opa rauchte eine Pfeife mit einem langen Porzellankopf. Wenn er keinen Tabak mehr hatte, hat er sich die Pfeife mit getrockneten Rosenblättern gestopft. Mein Opa ist dann nach etlichen Jahren an Lungenkrebs gestorben. Oma konnte nun nicht mehr alleine bleiben, weil Sie so zittrige Hände hatte. Opa hatte alles für Oma gemacht und nun war er nicht mehr da. Oma kam dann in ein Altenpflegeheim nach Hadmersleben.

Eines Tages bekam die „Mutter“ einen Schlaganfall und konnte selber nichts mehr machen. Mama setzte sie auf einen hohen Stuhl und sie blieb den ganzen Tag so sitzen. Mit „Vater“’s Hilfe wurde sie abends ins Bett gebracht. Jede Woche einmal wurde sie in eine große Zinkwanne gesetzt und gebadet. Das Wasser wurde hinten im Garten aus dem Brunnen geholt und im Kessel warm gemacht. Auch wir haben alle so gebadet.

Trotz der vielen Arbeit fuhr Mama noch mit dem Fahrrad in die Dörfer um Leute zu massieren, damit sie ein bisschen Geld hatte.

Die Landwirtschaft warf nichts ab, da die Abgaben zu hoch waren. Wenn sie ein bisschen Geld hatte, wurde es wieder in die Landwirtschaft gesteckt. Das Pferd wurde verkauft und dafür eine Kuh gekauft, die mehr Milch gab, außerdem eine Ziege wegen der Ziegenbutter und Schafe, damit wir für uns Wolle behalten konnten. Die Wolle wurde erst auseinander gezockt und Mama hat dann selber gesponnen. Im Winter strickte sie daraus für uns Pullover und Strümpfe. Die viele Arbeit wuchs Mama derart über den Kopf, dass sie oft schrie und auf mir herum prügelte. Sie wollte sich sogar das Leben nehmen. Ich bin dann voller Angst zu Oma und Opa gelaufen, die mich immer trösteten. Hinzu kam, dass Mama ständig Kopfschmerzen hatte, die sie sich selber behandelte, indem sie sich immer Brennspiritus über den Kopf schüttete. Ich kannte meine Mama nur mit Kopftuch. Im Sommer trug sie ein weißes, dünnes Tuch und im Winter ein Wolltuch.

Mein zweitältester Bruder ist mit 14 Jahren in ein anderes Dorf gegangen und hat bei einem Bauern gearbeitet. Dort wurde er wie ein Knecht behandelt, bekam schlechtes Essen und musste viel arbeiten. Wenn mein Bruder uns besucht hat, war er immer sehr blass und müde. Mama wollte, dass er zum Arzt ging, tat er aber nicht. Als ich 11 Jahre alt war, kam mein Bruder ein letztes Mal zu Besuch. Mama ist sofort mit ihm nach Gardelegen ins Krankenhaus gefahren. Am nächsten Tag wurde mein Bruder operiert. Die Ärzte haben ihn nur auf und gleich wieder zu gemacht. Wir bekamen ein Telegramm, dass wir alle ins Krankenhaus kommen sollten. Am Abend waren wir im Krankenhaus und konnten ihn noch einmal lebend sehen. In der darauf folgenden Nacht starb er dann an Blutkrebs. Das war 1952, da war mein Bruder erst 17 Jahre alt.

 

Man brachte ihn zu uns nach Hause. Wir räumten das Schlafzimmer aus und dort wurde er aufgebart. Ein paar Jahre vorher war die Mutter gestorben. So konnten wir in dem Zimmer schlafen, welches ihr gehörte.

Mama ist drei Tage lang nicht vom Sarg gewichen. Die Nachbarn hatten uns Beerdigungskuchen gebacken. Zur Beerdigung waren fast alle Dorfbewohner gekommen. Viele Leute haben geglaubt, dass dies Mama nicht überleben wird.

Endlich bekam Mama Nachricht über’s Rote Kreuz, wo ihre ältere Schwester nach der Flucht geblieben war. Nun wusste Mama, dass Sie im Westen war und wo.


Ich war nun schon in der fünften Klasse und konnte ganz gut schreiben. Sofort habe ich mich hingesetzt und meiner Tante einen Brief geschrieben. Es dauerte auch gar nicht lange, dann bekamen wir Post. Gleich darauf ein Päckchen mit Sachen drin, die es bei uns in der DDR nicht gab.


Mama erzählte uns, dass ihre Eltern nach Argentinien ausgewandert waren. Sie hatten dort eine kleine Farm. Mama wurde am 15.07.1910 in Argentinien geboren. Als sie noch ein kleines Kind war, kam ein Wirbelsturm und hat sie durch die Luft geschleudert. Man hatte sie in einem Gebüsch wieder gefunden. Mama sagte immer wieder zu uns, dass sie dadurch die vielen Kopfschmerzen habe. Als in Argentinien ein Aufstand war, kam mein Opa ums Leben. Oma kam danach mit ihren Kindern zurück nach Deutschland. Aber ihr ältester Sohn ging mit 18 Jahren als blinder Passagier wieder zurück nach Amerika. Er heiratete dort und bekam drei Kinder. Er lebte in Amerika sein eigenes Leben. Mama war die Jüngste. Zwei weitere Schwestern konnte sie leider nicht ausfindig machen. Meine Oma war mit der zweitältesten Schwester zusammen geblieben. Sie hatten in Ostpreußen in Bremerhusen gelebt. Mamas Schwester war verheiratet und hatte eine kleine Landwirtschaft. Mamas Schwager hatte Glück, dass er nicht lange in den Krieg musste.

Nach der Flucht aus Ostpreußen lebten meine Tante, mein Onkel und meine Oma in Bückeburg. Sie ist dann auch in Bückeburg verstorben. Ich hätte meine Oma sehr gern kennen gelernt. Meine Tante und mein Onkel hatten vier Kinder. Als alle erwachsen waren, heirateten sie und später hatten alle vier ein eigenes Haus.


Zu Hause waren nun nur noch Mama, mein drittältester Bruder und ich mit dem „Vater“. Mama und mein Bruder konnten die ganze Arbeit nicht mehr alleine schaffen. Die ganze Feldarbeit und alles andere was dazu gehörte. Ein Großbauer hatte uns angeboten, unser Land mit den Pferden zu beackern. Dafür musste mein Bruder bei der Ernte helfen und Mama stand oft allein vor all der vielen Arbeit. Die Partei machte Viehzählungen bei den Bauern und danach richteten sich die Abgaben. Die Bauern bekamen Bescheid, wie viel sie abzuliefern hatten. Jede Woche brachte Mama einen Korb voll gewaschener Eier zur Annahmestelle. Die Bauern wurden unter Druck gesetzt, da man vorhatte, sie zu enteignen. Außerhalb der Ortschaften baute man LPG-Stallungen. Zuerst zwang man die Großbauern ihre Landwirtschaft aufzugeben. Die Kleinbauern waren zunächst noch davon verschont.

Mama schaffte noch Gänseküken an, die ich in den Gräben hüten musste. Wenn sie größer waren, wurden die Gänse genudelt, damit Sie schneller Fett wurden. Das war natürlich verboten. Die Gänse wurden dann für den Eigenbedarf eingekocht.

Mein Bruder und meine Mutter fütterten im Rübenkeller in der Scheune heimlich ein Schwein und schlachteten es allein. Dafür wären beide ins Gefängnis gegangen.

Auf unserem Hausboden hatten wir eine Räucherkammer. Dort wurden die Schinken und Würste geräuchert. Vorher hatte man die Schinken 6 Wochen lang eingesalzen und zweimal am Tag begossen. Vieles musste eingekocht werden, da es keine Tiefkühltruhe gab. Schinken und Würste mussten für die Feldarbeiter oder fürs Dreschen übrig bleiben, wenn uns Leute geholfen hatten. Wenn Mama vom Feld kam, wurde erst das Vieh versorgt und anschließend ging sie in den Garten bis es dunkel wurde. Oft haben mein Bruder und ich sie spät aus dem Garten geholt. Das Obst wurde eingekocht oder verkauft. Nach der Schule hatte ich das Haus sauber zu machen. Im Herbst musste ich die Kühe auf die Felder treiben und stundenlang auf die Kühe aufpassen. Das war für mich ein Alptraum.

Wenn ich abends die Schularbeiten gemacht hatte, war ich vor Erschöpfung darüber eingeschlafen. Ich wurde in der Klasse oft wegen fehlender Hausaufgaben oder weil ich zu spät zur Schule kam, in die Ecke gestellt. Mama war morgens schon weg. Also musste ich ganz alleine aufstehen und ohne Frühstück zur Schule laufen. In der Pause lief ich schnell zum Bäcker und kaufte mir eine Streuselschnecke für 10 Pfennig. Die Schulklassen mussten manchmal auf den Feldern Kartoffelkäfer absuchen oder Mutterkörner von den Ähren abnehmen. Dafür bekamen wir etwas Geld. Das habe ich mir gespart und darum konnte ich mir was zu essen kaufen, sogar auch mal Fitalade. So hieß die Schokolade in der DDR. Es war keine Schokolade, die Fitalade schmeckte ganz anders.

Oft kam ich hungrig aus der Schule. Im Sommer ging ich in den Garten und aß mich an dem vielen Obst satt und im Winter machte ich mir ein Sirup- oder auch Pflaumenmusbrot oder ich aß eingelegte Gurken aus dem Steintopf. Abends gab es Milchsuppe und Bratkartoffeln, nur am Sonntag richtiges Essen.

Eines Tages überschrieb der „Vater“ Mama die Landwirtschaft für ihre Leistungen. Geld konnte er ihr nie geben.

Im Winter nähte Mama auch Zeug zum Anziehen. Den Stoff bekam sie von einer Schneiderin, die wiederum von ihr massiert wurde. Im Dorf gab es einen Konsum, da konnte man Knöpfe, Reißverschlüsse und Schlüpfergummis sowie Nähgarn kaufen. Einen Laden für Zeug zum Anziehen gab es nur in den Städten. Der Bus fuhr mehrere Stunden über die Dörfer in die Stadt. Dafür hatte Mama keine Zeit und auch kein Geld. Ich musste im Winter geflickte Unterhosen von meinen Brüdern unter die gestrickten Strümpfe anziehen. Wenn ich das so nicht anziehen wollte, bekam ich gleich welche ’runter gehauen. Ich habe mich oft geschämt. Später zog ich im Winter Trainingshosen darüber. Andere Kinder bekamen mal Sachen aus dem Westen geschickt. Ich dagegen trug abgetragenes oder selbst gemachtes Zeug. Mit Holzschuhen oder Igelittstiefeln bin ich zur Schule gegangen. Meine ersten neuen Schuhe bekam ich zur Konfirmation. Mein Kleid dazu war dagegen selbst genäht.

In den beiden letzten Klassen führte man Lernaktive ein. Das hieß, wir bekamen mittags Schulspeisung und machten mit der ganzen Klasse Schularbeiten. Das war meine Rettung. Gemeinsam gingen wir nach Hause. Ich hatte zwar Freundinnen, aber wenig Zeit zum spielen, da ich meine Aufgaben erledigen musste. Mama war so überarbeitet und fertig mit den Nerven. Sie schrie nur noch ’rum und bei jeder Gelegenheit vergaß sie sich fasst. Wenn Mama mich verprügelte, musste ich mich über’n Stuhl legen und sie schlug mich mit einem Lederriemen, bis ich grün und blau war. Ich habe nur noch geschrien: "Liebe Mama, liebe Ma“. In meiner Verzweiflung konnte ich nicht begreifen, was mit ihr wohl los war. Ich lief dann immer wieder zu dem Großbauern und weinte mir bald die Augen aus. Oft dachte ich: >>Mama ist nicht mehr normal<<. Ich konnte das alles nicht mehr verstehen, dass bei uns so vieles anders war, als bei meinen Freundinnen.

Die junge Frau, die der Bauer geheiratet hatte, war auch Flüchtling. Sie verstand sich gut mit Mama. Sie war es auch, die mich immer wieder dazu bewogen hat, zu Mama zurück zu gehen, denn ich hatte schon oft gesagt, dass ich nicht mehr nach Hause gehen würde.

Im Winter waren wir oft eingeschneit, so dass wir nicht mehr aus der Haustür kamen. Dann bekamen wir auch schulfrei. Ich war froh, wenn ich mal nicht zur Schule brauchte, so durfte ich ein paar Stunden mit anderen Kindern spielen. Am Ortsende in Lindstedt gab es einen hohen, verschneiten Berg, auf dem wir mit Schlitten oder mit unseren Igelittstiefeln im Stehen runter gefahren sind. Ich selber hatte keinen Schlitten, ich schlitterte dann immer im Stehen runter. Unter die Stiefel band ich mir Bretter und konnte damit auf dem Schnee laufen. Im Dorf sagte man mir nach, ich könnte eher ein Junge als ein Mädchen sein. Kein Baum und kein Telegrafenmast waren mir zu hoch. Einmal nahm ich mir von meinem Bruder sein altes Fahrrad, was ich normal nicht durfte, und bin dann auf dem Gutshof in Lindstedt den Berg herunter gerast. Da ich Turnschuhe an hatte, rutschte ich von den Pedalen ab und saß dann auf der Querstange. Dadurch konnte ich das Rad nicht mehr halten und knallte unten auf dem Gutshof gegen einen Anhänger. Eine Hälfte vom Lenker traf mich in den Bauch und die andere Hälfte in die Zähne, wobei ich mir eine Ecke vom Schneidezahn abgebrochen hatte. Da ich mit der Nase gegen den Hänger geknallt bin, war diese dann auch gebrochen. Ich blutete fürchterlich und lief nach Hause. Mama war zufällig zu Hause, sie machte ein fürchterliches Theater, weil ich das Fahrrad genommen hatte. Sie fuhr nicht mit mir zum Arzt und weil meine Nase nie operiert wurde, ist das Nasenbein schief zusammengewachsen. Mein Glück war, das mein Bruder nicht da gewesen ist, sonst hätte er mich noch verprügelt.

Mit meinem Bruder habe ich mich nicht gut verstanden. Immer wenn ich gerade sauber gemacht hatte, kam er mit seinen Miststiefeln in die Wohnung. Es gab die meiste Zeit Ärger. Als er älter war, ging er mit seinem Freund in die Kneipe und jedes Mal kam er betrunken nach Hause. Einmal hat er im betrunkenen Zustand Mama ins Gesicht geschlagen. Das hatte er beim Großbauern gesehen, als der seiner Mutter ein blaues Auge gehauen hatte.


Ich stand immer noch in Briefkontakt mit meiner Tante im Westen. In den fünfziger Jahren sind sehr viele DDR-Bürger in den Westen abgehauen. 1953 war dann ein Aufstand, der aber nieder geschlagen wurde. Plötzlich kam mir der Gedanke, ich könnte doch auch rüber in den Westen gehen. Also schrieb ich meiner Tante: "Ich würde gerne rüber kommen zu Euch". Ich bekam bald wieder einen Brief und da stand: "Du bist noch zu jung, Du musst bei Deiner Mama bleiben."

Mit 14 Jahren wurde ich aus der Schule entlassen und im Mai 1955 hatte ich Konfirmation. Nun war der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich musste mit der Mutter von der jungen Bäuerin sprechen, ob Sie mich in den Westen bringen würde. Die Mutter war gleich damit einverstanden, da sie oft mit bekommen hatte, wenn ich mir bei der Bäuerin die Augen ausgeweint habe. Mama durfte von dem ganzen Vorhaben nichts wissen. Nun musste ich mir einfallen lassen, was ich meiner Mama erzählen konnte. Bald schon fiel mir die Lösung ein. Ich erzählte ihr, dass ich ins Krankenhaus nach Gardelegen müsste. Da meine Mama nie Zeit hatte, sich um meine Angelegenheiten zu kümmern, glaubte sie mir auch, was ich ihr erzählte. Mit der Mutter von der Bäuerin wollte ich mich in Gardelegen am Bahnhof treffen. In dieser Nacht schlief ich in der Stube, aber sehr unruhig. Auf einmal bollerte es gegen die Fensterläden. Es war die Bäuerin und die erzählte meiner Mama dass ich mit ihrer Mutter in den Westen fahren wollte. Das hatte die Mutter ihr anvertraut. In dieser Nacht war meine Mama außer sich und drehte völlig durch. Ich habe geglaubt, sie schlägt mich tot. Am nächsten Tag war ich überall blau geschlagen und konnte mich nicht mehr bewegen. Ich traute mich kaum aus dem Haus. Nach diesem Vorfall hasste ich meine Mutter und versicherte ihr, dass Sie mich nie wieder sehen würde. In meiner Verzweiflung ging ich zur Mutter meiner Schulfreundin und erkundigte mich, wo ihre Tochter wäre. Als meine Freundin von mir erfuhr, was passiert war, besorgte sie mir sofort eine Arbeitstelle in Letzlingen bei einem Bauern.

 

Das waren junge Leute mit einer kleinen Tochter. Die beiden hatten mich gleich lieb gewonnen und ich durfte sie sofort mit dem Vornamen ansprechen. Bei den beiden habe ich mich sehr wohl gefühlt und so fand ich ein neues zu Hause. Mit meiner Freundin und der Schwester meiner Chefin ging ich zur Berufsschule. Meine Freundin war auch bei einem Bauern beschäftigt. Wir waren oft zusammen und gingen auch mal tanzen. Es gab nur das Problem, dass ich zu meinen Verwandten in den Westen wollte. Den Gedanken wurde ich einfach nicht mehr los. Eines war mir klar: Ich durfte mit niemandem darüber sprechen, denn wenn das jemand von der Partei zu hören bekommen hätte, wäre ich sofort in ein Heim gekommen. In der Berufsschule bekamen wir mit, dass die Bauernenteignung nicht mehr aufzuhalten war. Ältere Bauern brachten sich um oder wurden abgeführt und eingesperrt. Viele sind in den Westen abgehauen. Einmal habe ich zu meinem Chef und zu meiner Chefin gesagt, dass ich gerne mal zu Besuch zu meinen Verwandten fahren möchte. Sie wussten, dass ich mit meiner Tante im Briefkontakt stand. Meine Chefin sagte zu mir, "wenn du rüber fährst, kommst du nicht wieder". Notgedrungen behauptete ich, dass ich niemals drüben bleiben würde. Meine Gedanken waren allerdings ganz anders. Mir war inzwischen auch klar, dass ich niemals alleine in den Westen kommen würde.

Eines Tages bekam ich einen Brief von meiner Tante. Sie schrieb mir, ich könne doch mit Mama zu Besuch kommen. Da erkannte ich, dass es ohne Mama nicht ging.

Ich musste also wieder nach Hause fahren. Also fuhr ich fasst jeden Sonntag mit dem von meiner Chefin geliehenen Fahrrad nach Lindstedt und bettelte Mama an, dass wir zu Besuch in den Westen fahren sollten, da meine Tante dies nun auch wollte. Da man Besuche in den Westen mit Formularen einreichen musste und man erst fahren durfte, wenn dies genehmigt wurde, dauerte es sehr lang, bis wir endlich fahren konnten. Zweimal wurde die Einreise in den Westen abgelehnt, dann hat Mama es ein drittes Mal versucht.

Im November 1956 bekamen wir die Einreisegenehmigung für 3 Tage, wegen der Landwirtschaft nicht länger. Damals war es kalt und wir hatten ein Schneegestöber. Mir war alles egal, die Hauptsache war, dass wir rüber fahren konnten. Als wir bei der Tante ankamen, war die Freude groß. Ich dachte nur: ‚Das ist hier eine ganz andere Welt, hier muss ich bleiben.‘ Den nächsten Tag besuchten wir Mamas Nichten und Neffen. Erst gingen wir zu der Nichte und ihrem Mann und dann zum Neffen und seiner Frau. Die wohnten ein paar Häuser weiter. Ich glaubte nicht, was meine Ohren da hörten. Mein Cousin und meine Cousine fragten mich: „Möchtest du denn hier bleiben?“ Ich sagte fasst unter Tränen: „Deshalb bin ich doch hier!“ Mama sagte dazu gleich „Nein“, weil ich erst 15 Jahre alt war. Sie meinte, dass sie Schwierigkeiten bekäme. Aber mein Cousin hat ihr gut zugeredet und sie überzeugt, dass er auf mich aufpassen würde. Mein Cousin erklärte ihr, dass er wie ein Vormund sein wollte. Damit hatte ich schon gewonnen. Mama stimmte zu, dass ich im Westen bleiben konnte. Ich war der glücklichste Mensch. Am nächsten Tag brachten wir Mama nach Hannover zum Zug, ich habe keine Träne vergossen. Nun war ich endlich im Westen. Als Mama in die DDR zurückkam, wurde sie verhört. Aber sie hatte behauptet, dass sie nicht wüsste, wo ich wäre. Mit einer Geldstrafe ist sie dann davon gekommen.

Meine Cousinen und meine Cousins waren der Meinung, ich müsste erst einmal in einem Haushalt was lernen. Es war mir klar, dass ich nicht bei den Verwandten bleiben konnte. Somit war dies die beste Lösung, ich ging nach Altenhagen in eine Molkerei in Stellung. Ich sollte dort im Haushalt arbeiten. Man zeigte mir mein Zimmer, welches sich außerhalb der Wohnung über’m Kesselhaus befand. Das Zimmer war klein, aber im Winter schön warm. Neben dem Zimmer war eine Toilette mit Waschbecken, dort habe ich mich gewaschen. In ihre große Stube kam ich überhaupt nicht rein. In der Wohnung war noch eine kleinere Stube, Schlafräume, Kinderzimmer, Badezimmer und eine große Wirtschaftsküche.

Die Tochter von der Chefin wohnte mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern auch mit in der Wohnung. Die zwei Jungen mochte ich sehr gern, aber das Kinderzimmer durfte ich nicht betreten. Im Winter durfte ich mal in das kleine Zimmer kommen, wo alle Mitglieder der Familie saßen. Der Schwiegersohn hatte öfters geschäftlich in Hannover zu tun und brachte Apfelsinen, Bananen und Schokolade mit, die er abends verteilte. Ich durfte zusehen, wie alle davon aßen. Das hat mir sehr wehgetan und so ging ich dann nicht mehr in ihr Zimmer. Ich habe oft in meinem Zimmer geweint.

Jeden dritten Sonntag musste ich in die Kirche gehen. Ich schlief dann fasst immer beim Gottesdienst ein, da ich sowieso nicht verstand, was dort gepredigt wurde. In der DDR hatte ich keine Religion, deshalb wusste ich nichts darüber. Nach der Kirche wurde gegessen und ich musste dann den Abwasch und die Küche sauber machen. Jeden Sonntag nach dem Essen, immer der gleiche Rhythmus.

Nach Weihnachten, im Januar 1957, lernte ich meine Freundin kennen. Meine Freundin war bei Pflegeeltern aufgewachsen, die sie dann auch adoptiert hatten. Wir verstanden uns gleich gut und sie wurde meine beste Freundin. Wir beide waren gleich groß gleich alt. Eine von meinen Cousinen war Schneiderin. Sie nähte für uns gleiche Sachen zum Anziehen. Wir gaben uns öfters als Schwestern aus und gingen auch sehr viel zum Tanzen.

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