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Johanna - Neuer Job

Mein Gott, es war kaum zu glauben, was in dieser Firma alles möglich war. Vor eineinhalb Jahren, kurz nach dem Tod meiner Mutter, suchte ich mir eine neue Arbeitsstelle. Das Unternehmen hatte seinen Sitz in Italien und sie suchten jemanden für das Büro der Tochtergesellschaft in Deutschland. Ich fand es spannend, für eine international agierende Firma zu arbeiten. Nachdem meine Kinder beide zu Hause ausgezogen waren und ich mein Abendstudium erfolgreich abgeschlossen hatte, war diese Stelle genau die Herausforderung, nach der ich suchte. Regelmäßige Geschäftsreisen nach Italien, megacool. Eine Position, in der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung gefragt waren, endlich eine Gelegenheit zu zeigen, was alles in mir steckte. Wir hatten festgelegt, dass ich Anfang Januar anfangen sollte. Zur Einarbeitung und um die Firma und die Arbeitsabläufe kennenzulernen, war geplant, dass ich die ersten Wochen im Haupthaus in Italien arbeiten sollte. Alles klang wunderbar, und ich freute mich wirklich riesig, dass ich diesen Job an Land gezogen hatte.

Bei Vertragsunterzeichnung fragte mein zukünftiger Chef ganz spontan, ob ich nicht Lust hätte, schon zur Weihnachtsfeier zu kommen, um meine neuen Kollegen in ungezwungener Atmosphäre vorab kennenzulernen. Na klar hatte ich Lust! Ich konnte es kaum erwarten, dass meine neue Karriere losging, und war total aufgeregt.

Am letzten Wochenende vor Weihnachten fuhr ich nach Italien, um meine neuen Kollegen kennenzulernen. Alles war vorbereitet und gut organisiert. Man hatte mir ein Hotelzimmer gebucht und eine Einladungskarte mit den Informationen geschickt, wo die Feier stattfinden sollte. Ein neuer Arbeitgeber und etwa hundert fremde Menschen! Selbstverständlich war ich pünktlich um halb acht in dem genannten Restaurant. Was ich bisher an Firmenfeiern erlebt hatte, waren ausnahmslos sehr förmliche Angelegenheiten gewesen: Abendessen, eine Ansprache und auf keinen Fall daneben benehmen. Doch hier schien das alles anders zu sein. Ich stand in dem Lokal, in dem die Weihnachtsfeier meines neuen Arbeitgebers hätte stattfinden sollen, aber da war niemand. Also zumindest niemand, der nach Weihnachtsfeier aussah. Ein großer Saal, in dem noch gedeckt wurde, und eine Bar, an der sich mehrere Leute lautstark unterhielten. Ich kam mir dämlich vor, vollkommen deplatziert und verunsichert. Zudem war ich für dieses Umfeld völlig overdressed, dabei wollte ich doch um jeden Preis einen guten Eindruck machen. Souverän und selbstbewusst, genau das, was ich in dem Moment überhaupt nicht war. Was war denn so schwierig daran, einfach zu fragen, ob hier die Weihnachtsfeier meiner neuen Firma stattfinden würde? Ich stand noch ein bisschen verloren herum, habe mich dann schließlich doch aufgerafft einen Kellner zu fragen. „Ich bin zu einer Firmenfeier eingeladen. Können Sie mir bitte sagen, wo die stattfindet? Ich bin eine neue Mitarbeiterin aus Deutschland.“ „Si, Signora, da sind Sie schon richtig. Ihre Kollegen werden bald kommen. Möchten Sie schon etwas trinken?“ Wie bestellt und nicht abgeholt stand ich da im kleinen Schwarzen, inmitten laut lamentierender Italiener, die völlig unbeeindruckt über mich hinweg diskutierten. Ich stellte mich an die Theke und bestellte ein Glas Wein, damit ich etwas hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Ganz allmählich kamen mehr und mehr Leute. Der Geräuschpegel war enorm und die bereits konsumierten Alkoholmengen auch. Es war seit meiner Ankunft bestimmt schon eine Stunde vergangen, bis sich der Festsaal so nach und nach füllte. Irgendwann entdeckte ich dann endlich die zwei Geschäftsführer, die ich vom Vorstellungsgespräch kannte. Es herrschte ein Durcheinander, wie auf einem Volksfest. Die einen standen nach wie vor an der Bar, andere hatten sich bereits gesetzt und schmetterten aus voller Kehle italienische Lieder. Die Tischnachbarn sahen sich dadurch veranlasst noch lauter zu grölen, um die singenden Kollegen zu übertönen. Manche standen in kleinen Gruppen zusammen, um sich zu unterhalten, andere setzten sich an die Tische, an denen bereits der erste Gang serviert wurde. Ich war von dem Bild, das sich mir bot, so überfordert, dass die Komik dieser Situation nicht bis zu mir durchdrang. Einer meiner Chefs stellte mir ein paar der deutschen Kollegen vor und ich war froh mich nicht mehr ganz so außenstehend zu fühlen. Aber ehrlich gesagt, hielt sich das Interesse an mir in Grenzen. Meine neuen Kollegen wollten einfach nur trinken und feiern, genau in dieser Reihenfolge. Zu guter Letzt stand ein mir unbekannter Herr auf, ich schätzte ihn auf gut dreißig Jahre, klopfte an sein Glas, räusperte sich und startete eine Art Weihnachtsansprache. Wie hätte es anders sein sollen? Niemand interessierte sich sonderlich dafür und die Mitarbeiter ließen sich keinesfalls in ihrer Feierlaune stören. Auf Nachfrage sagte man mir mit einem Augenzwinkern, dass der junge Mann hier der Herr Generaldirektor ist. Jetzt konnte selbst ich mir, in meiner angespannten Stimmung, ein Lachen nicht mehr verkneifen. Es platze förmlich aus mir heraus. Das war also mein neuer Arbeitgeber!

Man möchte meinen, dieses Fest hätte mich gewarnt oder mich in irgendeiner Form abgeschreckt. Aber dem war nicht so! Ich war total fasziniert. Es war eine Herausforderung. Ich war nicht nur auf fachlicher Ebene gefordert, sondern das Ganze versprach, ein großes Abenteuer zu werden. Das Umfeld, in dem ich mich bisher bewegt hatte, waren meine Familie und gleichaltrige Freunde. Die Firma, in der ich die letzten 13 Jahre gearbeitet hatte, bestand aus meinem Chef, einem Herrn im fortgeschrittenen Alter, und seiner Ehefrau. Jetzt hatte ich ungefähr hundert Kollegen mit einem Durchschnittsalter von dreißig Jahren. Über was sollte ich mich um Himmels Willen mit diesen jungen Leuten unterhalten? Doch eines war absolut klar für mich. Ich wollte unbedingt dazu gehören und ich wollte wichtig und gebraucht sein in dieser Firma.

Hochmotiviert und voller Erwartungen trat ich Anfang Januar meine neue Stelle an. Die Kollegin, die mich unter ihre Fittiche nahm, war ausgesprochen nett und erklärte mir die internen Strukturen, das Computersystem, mit dem die Firma arbeitete, und nach und nach viele der Aufgaben, die ich zu übernehmen hatte. Sie und auch andere Kollegen waren heilfroh, dass es endlich jemanden gab, der für alle anfallenden Arbeiten verantwortlich war, die Deutschland betrafen. Und so wurde ich in allen Abteilungen mit offenen Armen empfangen. Es gab viel zu tun, aber im Großen und Ganzen fühlte ich mich den Anforderungen durchaus gewachsen. Ein größeres Problem war die sprachliche Hürde, wenn es um kollegiale Gespräche ging. Es herrschte ein lockerer Umgangston und es wurde viel gelacht. Leider konnte ich mich nicht so oft am Gespräch beteiligen, wie ich wollte, weil jeder einen anderen Dialekt sprach und ich zwar dem Grundgespräch folgen konnte, die Pointen aber meist verpasste. Doch ich lachte offenbar an den richtigen Stellen und so dachten wahrscheinlich alle, die neue Kollegin ist nett, aber ein bisschen zurückhaltend oder schüchtern. Nach drei Wochen Einarbeitung übernahm ich mein Büro in Deutschland.

Die anfängliche Euphorie dauerte in etwa neun Monate, dann setzte allmählich der Verstand wieder ein. Man sagt ja, der erste Eindruck täusche nicht. Hätte ich dem mehr Gewicht geben sollen? Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich in einem Irrenhaus gelandet war, umgeben von lauter Verrückten - oder war am Ende ich die Verrückte, weil ich hier mitspielte? Eine Anstalt mit eigenen Regeln und Gesetzen. Meine Vorgesetzten waren sich noch nicht ganz sicher, ob sie den Größenwahn oder das Chaos bevorzugen sollten oder vielmehr, sie teilten die Rollen geschickt auf.

Sie waren alle absolut liebenswürdige Persönlichkeiten, die ich sehr mochte. Mit ihnen zu arbeiten, war eine Katastrophe, sie tiefenpsychologisch zu analysieren hingegen, die helle Freude. Stellt euch einen Zirkus vor: Da gibt es den Direktor, der die Zügel in der Hand hält und die Pferdchen traben lässt, ganz wie es ihm gefällt. Er lebt in seiner eigenen Welt der Träume und Visionen. Für die Arbeit im herkömmlichen Sinne hat er die Geschäftsführer, die er mal in die eine und dann wieder in die andere Richtung dirigiert. Was außerhalb der Manege, außerhalb seiner Bühne passiert, interessiert ihn herzlich wenig. Na ja, die Zuschauerzahlen müssen natürlich stimmen und damit auch die Kasse. Zugleich gibt es jede Menge Artisten, die auf der Bühne tanzen und jonglieren, und sich im Glanz der großen Show sonnen. Wer mitspielen will, sucht sich einfach seine Lieblingsnummer aus und gibt sein Bestes. Wer keine Lust hat, macht nichts und setzt sich auf die Zuschauerbank, klatscht ein bisschen Applaus oder schläft eine Runde. Ich musste mir unweigerlich die Frage stellen, was hier meine Rolle war. Ich passte gut dazu, keine Frage! Ich habe mein Leben immer schon lieber in meiner Fantasie gelebt als in der Wirklichkeit. Eine Weile hatte ich großen Spaß an meiner deutschen Spezialeinlage und habe eifrig geübt, gestaltet, getan und gemacht. Dann kam die Zeit, in der ich feststellen musste, dass mein Programm sich mit dem von anderen Artisten überschnitt, diese aber nur bedingt bei mir mitspielen wollten. Es fing an, anstrengend zu werden. Doch wie auch immer, noch war es einfach aufregend, Teil dieser vollkommen verrückten Welt zu sein.

Ich arbeitete in der Verwaltung und man möchte meinen, das wäre eher langweilig, aber in Anbetracht des Zirkuslebens gab es hier immer etwas zu staunen und zu belachen. In dieser Firma war nichts so gewiss wie die Unbeständigkeit und man konnte immer mit einer Überraschung rechnen. So gab mir meine Arbeit, bei der es ja in erster Linie um Zahlen und die klaren Gesetzmäßigkeiten der Buchhaltung ging, das Gefühl, wenigstens etwas unter Kontrolle zu haben. Zudem erlaubte mir meine Position, mich mächtig wichtig zu fühlen, da ich verantwortlich war, dass die Geschäfte ordentlich abgewickelt wurden. Doch nach und nach musste ich erkennen, dass ich auf verlorenem Posten kämpfte. Vollkommene Misswirtschaft entgegen der Regeln der Betriebswirtschaft und bar jeglichen gesunden Menschenverstandes kann man auch mit einer korrekten Buchhaltung nicht wettmachen. Es war also alles nur eine Frage der Zeit, bis sich hier etwas Grundlegendes ändern oder die Bombe platzen würde. An dieser Stelle sollte ich wohl erwähnen, dass ich durchaus alles dafür tat, meine persönliche Lage dem Firmenchaos anzupassen.

 

Johanna und Luca - bereit für die große Katastrophe

Mutter - Beobachterin

Da ist Luca, 31 Jahre alt. Er hat vor ein paar Monaten seine Freundin quasi vor dem Traualtar stehen lassen und plagt sich mit Schuldgefühlen. Gleichzeitig wird er von der Gier getrieben, Abenteuer zu erleben. Er will das Leben spüren, sich spüren, und kennt dabei keine Grenzen. Er trinkt viel, schläft kaum, arbeitet mit vollem Einsatz, lernt nachts und treibt dabei noch exzessiv Sport.

Und da ist meine Tochter Johanna, 46 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. In geordneten Verhältnissen lebend, Familie, Haus, Karriere. Brav, lieb und nett. Es ist ihr noch nicht bewusst, aber für sie hat ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Sie wird aussteigen aus ihrem Leben. Neue unbekannte Wege gehen.

Diese zwei Menschen, so unterschiedlich ihre Lebenssituationen auch sein mögen, brauchen einander, um bestimmte Erfahrungen zu machen und voneinander zu lernen. Sie steuern zielgerichtet aufeinander zu. Der erste Schritt wurde schon getan, als Johanna die Stelle in der Firma annahm, in der auch Luca arbeitet. Es hat etwas gedauert, aber heute Abend ist es Zeit für den zweiten Schritt.

Eine klassische Situation, Firmenfeier und viel Alkohol. Sie sitzen noch an getrennten Tischen, aber im Laufe des Abends werden sie sich annähern, den ersten wirklichen Kontakt aufnehmen. Johanna kommt zu später Stunde an seinen Tisch. Es dauert nicht lange, da sitzt sie neben ihm und er legt seinen vom Alkohol bleischweren Arm um sie. Es macht ihr nichts aus, dass er sie mit seinem Gewicht schier zu erdrücken droht. Sie genießt seine Berührung und seine Aufmerksamkeit genauso, wie seine Unbekümmertheit, seine schönen Augen und seine Jugend.

Er ist fasziniert von seiner Wirkung auf diese reife Frau. Es eröffnet ihm die Möglichkeit, eine andere Welt kennenzulernen und das Alte, Bekannte, das er nicht mehr wollte, hinter sich zu lassen.

Luca - Kontrolle

Ich war wieder einmal betrunken. Wie so oft in den letzten Monaten. Amüsierte mich mit ein paar Kolleginnen und dabei trafen meine Augen auf die der Deutschen. Eine interessante Frau, Johanna. Sie war älter als ich und hatte etwas, das mich reizte. Sie war anders als die Mädchen, die ich kannte. Reifer, weiblicher, eine Frau mit Erfahrung. Und in ihrem Blick lag etwas, das Ja zu mir sagte. Eine unausgesprochene Übereinkunft, dass wir beide dieses Abenteuer wollten. Ich hielt mich nicht zurück, konnte mich allein schon wegen des Alkohols nicht kontrollieren, auch wenn ich gewollt hätte. Blicke, Berührungen, ein paar zugeflüsterte Worte. Sie provozierte mich, um sich dann gleich wieder zurückzuziehen. Ich sagte ihr, dass ich Liebe mit ihr machen wollte und sie lachte dazu.

Johanna - Faszination

Ich war vollkommen fasziniert davon, im Zentrum seiner Aufmerksamkeit zu stehen und keines klaren Gedankens mehr fähig. Etwas hatte von mir Besitz ergriffen, das mich mit aller Macht in diese Geschichte drängte, es gab kein Zurück mehr. Was auch immer hier auf mich zukam, ich wollte es erleben.

Dabei sollte ich gar nicht auf diesem Fest sein. Ich hatte bereits mitgeteilt, dass ich nicht kommen würde, weil wir, mein Mann und ich, zu diesem Termin eine Wochenendreise geplant hatten. Doch wie so oft hatte mein Mann kurzfristig abgesagt, weil er lieber einen Geschäftstermin wahrnehmen wollte. Es passte mir ganz gut, weil ich immer gerne nach Italien fuhr. Ich war dort eine andere als zu Hause. Die letzten Monate hatte ich einiges an Gewicht verloren und das viele Yoga straffte meinen Körper, dazu kamen die ganzen Umstände mit meinem neuen Job. Das alles gab mir ein neues Selbstbewusstsein.

An diesem Abend wurden durch ein paar Komplimente und tiefe Blicke in die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte, etwas in mir ausgelöst, das mein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Luca fragte in seiner Alkohollaune: „Wann darf ich dich lieben?“ Ich lachte nur, war geschmeichelt und verunsichert gleichermaßen. Doch wenn ich es mir heute recht überlege, wollte ich, dass er es ernst meint. Vor kurzem hörte ich einen Mann sagen: „Für eine jüngere Frau bin ich noch nicht alt genug.“ Konnte es sein, dass ich genau im richtigen Alter für einen jüngeren Mann war?

Wir waren uns vorher schon einige Male im Büro begegnet und hatten dabei ein paar Worte gewechselt, aber wirklich unterhalten hatten wir uns bei diesen Gelegenheiten nicht. Dabei war ich vom ersten Moment an fasziniert und zugleich irritiert von seinen unglaublichen Augen, was mich prompt in eine ziemlich peinliche Situation brachte. Ganz zu Anfang, als ich zur Einarbeitung in Italien war, wurden wir einander vorgestellt und ich fragte ihn, was er denn so mache und wollte natürlich wissen, was seine Aufgabe in der Firma sei. Er hat meine unglückliche Formulierung so ausgelegt, als ob ich ihn gefragt hätte, was er am Abend vorhätte. Er reagierte vollkommen gelassen und sagte: „Heute Abend habe ich leider keine Zeit, aber morgen könnten wir ja eine Pizza essen.“ Na ja, ich bin natürlich knallrot angelaufen, habe das Missverständnis aufgeklärt und bin leider nicht mit ihm essen gegangen. Es war eine lustige Geschichte. Andere lachen darüber und vergessen es im gleichen Augenblick. Mir hingegen prägen sich solche Begegnungen tief ins Gedächtnis ein. Ist mein Leben so langweilig und ereignislos, dass ich alles Nebensächliche so wichtig nehmen muss? Wie auch immer, in diesem Fall beschreibt die Szene noch viel mehr. Luca wollte spielen, ich machte für mich eine Riesensache daraus.

Es dauerte ein knappes Jahr, bis ich von der allgemein italienischen Frohnatur gelernt hatte, wie man Feste feiert und sich mein Körper an wenig Schlaf und viel Alkohol gewöhnt hatte. Und dann kam dieses besagte Firmenfest. Wir haben uns da nicht wirklich unterhalten und doch war ich ihm schon in dieser Nacht widerstandslos verfallen.

Luca - Jagdinstinkt

Ich hatte keine große Erinnerung an diese durchzechte Nacht. Doch meine Kollegen lieben es, nach solchen Festen über die Vorkommnisse zu tratschen und das alkoholisierte Benehmen des ein oder anderen in tausend Einzelteile zu zerlegen. So wurde an mich herangetragen, dass ich unsere deutsche Mitarbeiterin ziemlich angebaggert hatte. Zwei Wochen später traf ich sie bei einer offiziellen Firmenveranstaltung wieder. Ich war echt angetan: Was für eine heiße Frau. Sie trug ein enges Kleid und hochhackige Stiefel. Es war nicht nur der Alkohol, ich war scharf auf sie.

Johanna - Hitzeperiode

Nach der Party passierte zunächst gar nichts, doch nach dem „Tag der offenen Tür“ ging es richtig los. Wir hatten angefangen, uns zu schreiben. Nutzten dafür jede Form der modernen Kommunikation und waren nach kurzer Zeit praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit in Verbindung. Er schickte mir Links von Videos, die ihm gefielen. Wir mochten die gleiche Musik und sprachen über die Bücher, die wir lasen, über Kunst und Philosophie. Ich, die Facebook bis dahin nur von meinen Kindern kannte, entdeckte plötzlich die positiven Aspekte von Social Media und eröffnete einen Account, damit ich mir seine Bilder anschauen konnte. Es gab kein Thema, vor dem wir halt machten, und wir tauschten uns intensiv über Gott und die Welt aus. Irgendwann schlichen sich zweideutige Bemerkungen ein, aus Komplimenten wurden Absichtserklärungen. Wir wurden immer mutiger und die Erinnerung an die ungenierte Lust, mit der wir unsere erotischen Wünsche teilten, lässt mir immer noch die Schamröte ins Gesicht steigen. Aber ich erinnere mich auch an das Feuer, das in mir brannte, und die Kraft, die dahinter steckte. Habt ihr den Hauch einer Ahnung, was mit mir los war?

Nach etwa zwei Monaten kam uns ein „Ruf“ aus der Geschäftsleitung mehr als recht. Ich wurde gebeten, für mehrere Tage in die Hauptstelle zu kommen, um an einem Projekt mitzuarbeiten. Wir verabredeten uns in dem Hotel, in dem ich untergebracht war. Er kam auf mein Zimmer und wir verloren keine Zeit mit langen Begrüßungsformeln oder einem verlegenen „Wie geht es dir?“. Er sagte „Hallo“, küsste mich und begann mich auszuziehen. Es ging hier nicht um den Austausch von Zärtlichkeiten. Er wirkte fast animalisch auf mich, nicht grob, einfach nur geradlinig, echt, ohne Schnörkel. Mir fehlt das richtige Wort für ihn. Ein Tier, das die Beute vor Augen hat und zum Sprung ansetzt. Mit Augen, tiefer als das Meer. Sehr männlich. Hat mir das gefallen? Ja und Nein. Dieser atemberaubende Mann, jung und wild, begehrte mich. Dass die Art, wie er mich liebte, nichts mit tantrischer Liebeskunst zu tun hatte, spielte dabei keine Rolle.

Als er spät in der Nacht ging, heulte ich Rotz und Wasser. Meine Tränen schienen kein Ende zu haben. Noch vor kurzem hätte ich mir nicht vorstellen können, meinen Mann zu betrügen und doch hatte ich es gerade getan. Und keine Frage, wenn sich mir die Gelegenheit böte, würde ich es wieder tun!

Luca - verunsichert

Wir haben uns wieder getroffen. Dieses Mal hatte ich das Hotel ausgesucht und plante die Inszenierung einer Liebesnacht. Ich war berauscht von meinen eigenen Fantasien. Meinen Bildern von ungehemmter Leidenschaft und Lebenslust. Wenn alle Hemmungen fallen, man keine Gedanken mehr hat und nur noch ist. Mit Johanna war das möglich. Sie hatte den gleichen Hunger wie ich. Etwas in ihrem Blick spiegelte mir meine tiefsten Sehnsüchte: „Mehr, mehr, ich will mehr.“

Am Morgen verabschiedeten wir uns im Hotel und fuhren getrennt in die Firma. Spätestens am Abend würden wir uns bei einer Firmenfeier wiedersehen. Und dann passierte etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Ich war eifersüchtig. Sie unterhielt sich mit einem Kollegen, hing förmlich an seinen Lippen und folgte seinen Geschichten. Lachte laut über seine Pointen. Als die Kollegen meiner Abteilung mich an die Bar riefen, war mir das nur Recht. Das war so nicht geplant!

Johanna - verloren

Wir standen in einer kleinen Gruppe und unser Kollege Michele erzählte Geschichten von seinem letzten Urlaub. Es fiel mir schwer, mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als auf Luca. Wie gerne hätte ich ihn berührt. Doch plötzlich war er weg. Ging ohne ein Wort. Erst Stunden später sah ich ihn wieder, als er an der Bar Getränke holte. Er ignorierte mich und versuchte offensichtlich, mir aus dem Weg zu gehen. Ich rief ihn zweimal und dann trafen mich seine Augen mit solch einer Wucht, dass es mir die Sprache verschlug. Er zischte mich an, ob ich mit Michele Spaß hätte. Es war furchteinflößend und gleichzeitig faszinierte es mich, dass ich diese heftige Reaktion auslösen konnte. Ein Gewitter entlud sich über mir und seine Worte trafen mich wie Blitzschläge. Er beschimpfte mich und dann, vollkommen unerwartet, kam der Stimmungswechsel. Er berührte mich. Ganz langsam und zart strich er mit dem Finger über meinen Wangenknochen, seine Augen wurden weich und es war keine Frage, als er sagte: „Gehen wir aufs Zimmer.“

Ich hatte mich verloren. Ich hätte alles getan, um im Spiel zu bleiben. Ich hätte geschworen, dieser Sex war der beste, den ich bis dahin je erlebt hatte, vollkommen ungeachtet der Tatsache, dass es nicht stimmte und auch nicht das war, wonach ich mich wirklich sehnte. Ich war gefangen in der Geschichte, die ich mir in meiner Fantasie um diesen Mann ausgemalt hatte, und wie besessen davon. Alle meine Gedanken drehten sich darum und jeder Zweifel, der aufkommen wollte, wurde sofort unterdrückt. Luca hingegen erkannte relativ schnell, dass diese Affäre in eine Richtung ging, die er nicht wollte. Ich berührte ihn nicht nur körperlich, sondern auch emotional an Stellen, die zu fühlen er nicht bereit war. Ich denke, dass er in Momenten, in denen er in seinen Alltag zurückkehrte, ziemlich erschrocken gewesen sein musste über sich selbst und das, was er da tat. Seine Nachrichten wurden halbherzig und waren bald nur noch einsilbig. Die Zeitabstände verlängerten sich von stündlich auf täglich und schließlich kamen die Nachrichten nur noch alle paar Tage. Er schob es auf viel Arbeit.

 

Wir hatten uns schon vor einigen Wochen für einen Abend verabredet. Ich sollte zu einer Besprechung nach Italien kommen, für die der Termin lange im Voraus festgelegt worden war. Das war zu einer Zeit, als Lucas Feuer noch hell loderte. Er wollte sich wieder um das Hotel kümmern, in dem wir die Nacht verbringen konnten. Doch er meldete sich einfach nicht mehr. Ich hing total in der Luft und natürlich roch ich den Braten. Doch ich wollte nicht wissen, was im Grunde klar auf der Hand lag. Deshalb erkundigte ich mich auch vor dem Termin nicht bei ihm nach unserer Verabredung und buchte mein Hotel selbst. Als ich dann vor Ort war, konnte ich es wider besseren Wissens nicht lassen. Ich empfand mich als würdelos und klein und trotzdem ging ich in sein Büro und fragte ihn, ob wir uns später noch wie abgesprochen sehen würden. Die Antwort war: „Nein, ich habe keine Zeit. Ich muss mich um einen Freund kümmern.“ Er schaute mich dabei nicht mal an, hatte mich fallen lassen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Ich habe es wortlos hingenommen, bin gegangen und war zutiefst verletzt. Ein erbärmliches Häuflein Elend mit Liebeskummer. Und es war erst der Anfang von vielen tränenreichen Nächten.

Wie konnte ich nur in diese Situation geraten? Mich in einen viel jüngeren Kollegen zu verlieben, empfand ich nicht unbedingt als Glanzleistung und doch stürzte ich mich mit meiner ganzen Sehnsucht nach Aufregung in dieses Abenteuer. Ich hatte jeden Bezug zur Realität verloren. Mein ganzes Leben bestand nur noch aus Warten. Warten auf Nachrichten aus Italien und warten auf das nächste heimliche Treffen. Nachdem er mich versetzt hatte, war erst mal Funkstille, doch ich gab nicht auf und irgendwann nahmen wir unsere Unterhaltungen wieder auf. Es war erniedrigend. Ich machte mich klein, und wenn auch nicht in dieser Konstellation, so hatte ich doch das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Die Tragik war: Es war mir bewusst und ich konnte mich trotzdem nicht dagegen wehren. Obwohl ich alle Parallelen zur Vergangenheit sah, konnte ich nicht anders, als mein altes Muster zu wiederholen. Ich hatte mich in eine Fantasie verliebt. Ich bildete mir ein, eine intelligente Frau zu sein. Meine Gehirnwindungen funktionieren ganz passabel und ich kann auch sehr praktisch und klar denken, wenn es um Organisation und Planung geht. Doch in diesem Fall war ich vollkommen hilflos. Was war nur mit mir los? Dieses ständige Auf und Ab zwischen Hoffen und Bangen. Warum durfte es nicht nur ein Abenteuer sein? Warum musste ich mich komplett verlieren? Ich malte mir einen Hollywoodfilm aus mit dem ganzen Kitsch wilder Leidenschaft. Gleichzeitig rief ich ein Geschwader von Minderwertigkeitskomplexen ab, die mir erklärten, dass meine Träume nicht wahr werden könnten. Ihr wisst schon, zu alt, zu dick, nicht schön genug, nicht gescheit genug. Warum sollte sich jemand so Tolles dauerhaft für mich interessieren. Wie sollte ich nur dieser Endlosschleife entkommen?