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Mutter - Bekenntnis

Das ist doch nicht zu glauben! Wäre ich nicht schon gestorben, ich würde vor Scham tot umfallen. Nach so vielen Jahren des Verdrängens werde ich konfrontiert mit dieser entsetzlichen Geschichte, mit den Abgründen meines Lebens. Ich würde so gerne sagen: „Das ist doch alles Humbug, alles erstunken und erlogen. Die schrecklichen Fantasien ein paar unglücklicher Frauen, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommen.“ Und doch muss ich eingestehen, dass ich durchaus weiß, um was es hierbei geht. Ich kenne die Ursache. Das alles ist schon sehr lange her und ich wiegte mich in absoluter Sicherheit, dass die Wahrheit niemals mehr ans Licht kommen würde. Zumal sich die Katastrophe, die mir da passiert ist, als großes Geschenk und Glück für mich entpuppt hat. Dass diese Geschichte solche Auswirkungen auf Johannas Entwicklung und ihr ganzes Leben haben würde, hatte ich nie bedacht.

Heute kennt man das nicht mehr. Aber als ich eine junge Frau war, wurde Familie noch groß geschrieben. Man traf sich an Sonntagen mit der Verwandtschaft, auch mit jener zweiten und dritten Grades. Für die Geschichte ist das letztendlich vollkommen unerheblich, aber wenn ich daran denke, dann schwelge ich in Erinnerungen und bin versetzt in eine vollkommen andere Zeit.

Meine Base Sophia (unsere Mütter waren Cousinen) war etwas jünger als ich und in meinen Augen schon immer ganz besonders. Sie war anders. Ich wuchs auf dem Land auf und sie lebte mit ihren Eltern in der Stadt. Sie sprach anders als wir Bauernkinder, war selbstbewusst und trug immer Kleider nach der neuesten Mode. Je älter wir wurden, umso mehr fiel mir der Unterschied zwischen uns auf. Ich bewunderte sie und gleichzeitig war ich furchtbar neidisch. Es schien mir damals, als würden wir in zwei verschiedenen Welten leben. Und selbstredend war sie später mit einem sensationellen Mann verheiratet. Sie hatte ihn in dem Schreibbüro kennen gelernt, für das sie arbeitete. Rainer war einfach umwerfend. Gutaussehend und charmant. Sie unternahmen damals viele Reisen, erst innerhalb Deutschlands und dann später auch ins Ausland. Über unsere Eltern war ich immer auf dem Laufenden, was sich in ihrem Leben tat. Sie selbst traf ich nach vielen Jahren erstmals zu einem Geburtstag meines Vaters wieder. Wir hatten uns beide verändert, sie war älter geworden und lange nicht mehr so schillernd wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich war nicht mehr das junge unsichere Mädchen, sondern eine erwachsene Frau.

Das Leben hatte mir bis dahin schon einige Prüfungen abverlangt. Ich hatte gute Zeiten und schlechte Zeiten erlebt und dabei gelernt, dass nichts von Dauer ist, nicht das Glück und nicht das Leid. Meine Jugend in Kriegszeiten war verglichen mit anderen Schicksalen ohne Zweifel nicht die schlechteste. Meine Brüder waren zu jung für den Krieg und mein Vater hatte von jeher politische Aufgaben im Dorf, weshalb er auch nicht als Soldat ins Feld ziehen musste. Viele Nachbarsfrauen wussten nicht, wie es ihren Männern und Söhnen ging. Jeden Tag hofften sie auf ein Lebenszeichen von ihnen und gleichzeitig fürchteten sie sich, schlechte Nachrichten zu erhalten. Es war schlimm genug, dies mit etwas Abstand zu erleben. Meine eigene Familie blieb verschont. Wir mussten nicht hungern, auch wenn Essen rationiert und Lebensmittel knapp waren. Vieles musste heimlich passieren. Soldaten und fremde Menschen kamen auf den Hof und die Angst und das Leid war überall gegenwärtig. Ich will hier keine Kriegsgeschichten aufwärmen oder gar die Umstände als Rechtfertigung benutzen für Dinge in meinem Leben, die ich bedaure getan oder auch nicht getan zu haben. Die Erlebnisse dieser Zeit waren sehr prägend. Sie sind ein Teil meiner Generation und damit ein Teil von mir, aber sie als Ausrede zu benutzen, wäre definitiv zu einfach.

Meinen Mann habe ich nach Kriegsende beim Tanz kennen gelernt. Er liebte es zu feiern und zu lachen. Von seinen Kriegserlebnissen, seiner Verwundung durch den Splitter einer Granate und den schrecklichen Bildern, die er im Kopf gehabt haben musste, sprach er kaum. Wir verliebten uns ineinander und wollten heiraten. Doch sein Vater erlaubte es nicht. Er sagte, erst müsse die ältere Schwester meines Mannes verheiratet werden, bevor in den Hof eingeheiratet werden konnte. Mein Mann war der älteste Sohn und deshalb der Hoferbe. Mangels passender Männer und seiner nicht so gut vermittelbaren Schwester dauerte es einige Jahre bis es endlich soweit war und ich die Bäuerin auf einem Hof wurde mit einem sehr schwierigen und dominanten Schwiegervater im Haus. Es gab viel Arbeit, doch das hätte mich nicht so sehr gestört. Schlimmer waren die Launen meines Schwiegervaters. Ich musste mich oft fügen und fürchtete mich vor seinen Wutausbrüchen. Und so, wie ich die Widrigkeiten ertragen hatte, die der Krieg mit sich gebracht hatte, so erduldete ich die Umstände, die meine Ehe mit sich brachten. Mir blieb nichts anderes übrig, als es zu ertragen. So war mein Leben eben.

Als ich Sophie wieder traf, war mein Schwiegervater längst verstorben. Ich war Mutter von vier Kindern, hatte eine Totgeburt erlebt und zuschauen müssen, wie mein Mann auf vielen Festen anderen Frauen schöne Augen machte. Es ist müßig, hier über Gründe, Schuld oder Verantwortung zu sprechen. Da kann sich jeder seine eigene Version dazu ausdenken. Tatsache ist, ich hatte mich um eine Familie zu kümmern und um Haus und Hof. Die Frage nach Glück stellte sich nicht.

Das war der Stand der Dinge, als ich zum ersten Mal beobachtete, dass auch im Leben meiner Base nicht alles so rosig war, wie ich das immer meinte. Irgendetwas stimmte in dieser Ehe nicht, sie sprachen kaum ein Wort miteinander.

Rainer war immer noch der gleiche charismatische Mann, den ich in Erinnerung hatte. Auf seine ganz eigene, ruhige Art freundlich und zuvorkommend. Er fragte mich „Wie geht es dir?“ und war nicht zufrieden mit einem „gut“. Er meinte wirklich mich, zeigte Interesse an mir und meinem Leben. Ich muss nicht beschreiben, was das in mir auslöste. Seltsamerweise trafen wir uns plötzlich, nachdem wir jahrelang überhaupt keinen Kontakt gehabt hatten, sehr regelmäßig. Im Kreis der Familie versteht sich. Ich genoss seine Aufmerksamkeit und ihm schmeichelten meine bewundernden Blicke und Komplimente. Und dann kam das Sommerfest. Rainer war alleine gekommen, weil eines der Kinder krank war und Sophie deshalb zu Hause geblieben war. Ich war in einer seltsamen Stimmung und fühlte mich nicht recht wohl unter den schon angetrunkenen, lauten Menschen. Machte ich mir etwas vor, als ich sagte, dass ich heim möchte? Mein Mann wollte noch bleiben und Rainer bot an: „Ich werde auch bald gehen, dann kann ich dich nach Hause bringen.“ Es war nur ein einziges Mal und ich bereue es nicht. Mein Entsetzen hingegen war endlos, als ich feststellte, dass ich schwanger war. Kurzum ich wusste nicht, wer der Vater ist und das war schier undenkbar.

Johanna - der neue Alltag

In der Firma waren einige Änderungen vorgenommen worden. Ich hatte mich bereit erklärt, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, was noch mehr Termine außerhalb des Büros bedeutete. Im Gegenzug wurde mir dafür eine Mitarbeiterin zur Verfügung gestellt, mit der ich die Arbeit aufteilen sollte. Ich hatte eine neue Kollegin bekommen und das fand ich super. In meinem Büro stand noch ein freier Schreibtisch, den mein Chef bisher nutzte, wenn er nach Deutschland kam. Diesen Platz belegte jetzt Carola. Sie war eine große Entlastung für mich. Nicht so sehr arbeitstechnisch. Es war einfach schön, jemanden an der Seite zu haben, mit dem man Dinge besprechen konnte. Außerdem war der Informationsfluss mit der Muttergesellschaft alles andere als gut. Wenn ich überhaupt Arbeitsanweisungen erhielt, waren sie entweder konfus formuliert oder in Deutschland nicht umsetzbar. Des Weiteren konnte es passieren, dass mir vorgeworfen wurde, Dinge noch nicht erledigt zu haben, obwohl ich sie schon vor Wochen erledigt und die Meldungen oder Zahlen vorgelegt hatte. Manchmal musste ich wochenlang auf eine ausstehende Entscheidung warten und mehrere Erinnerungsmails schicken, um an einer Sache weiterarbeiten zu können. Es war sehr zermürbend und alles andere als befriedigend, so ignoriert zu werden. Deshalb war mein Arbeitsalltag mit Carola um vieles erfreulicher geworden. Neben der Arbeit hatten wir jede Menge Spaß miteinander. Wir lachten gemeinsam über die chaotischen Verhältnisse in unserer Firma und konnten nur den Kopf schütteln über die oft absurden neuen Ideen, die uns aus der Mutterfirma zugetragen wurden. Carola freute sich zudem, von meinem abwechslungsreichen Leben zu hören. Sie nannte es ihre ganz persönliche „daily soap opera“. Ich fuhr immer noch gerne zu Geschäftsbesprechungen nach Italien. Auch wenn ich Luca nicht zu Gesicht bekam, hatte ich dort jede Menge nette Kollegen, mit denen man sich nach Büroschluss auf ein Gläschen verabreden konnte.

War ich in Deutschland, ging ich nach der Arbeit zum Yoga und dann malte ich oft stundenlang. Mit der Malerei hatte ich ein neues Hobby gefunden, mit dem ich alles um mich herum vergessen konnte. Ich liebe es, mit den Farben zu experimentieren und ohne Überlegung einfach drauflos zu pinseln. Je unbefangener ich bin und je freier von jeder Intention, desto besser wird das Ergebnis. Auf der Leinwand ist alles möglich. Und ich überlege mir oft, dass ich genauso leben sollte wie ich male. Mutig immer weiter, ohne Angst einen Fehler zu machen. Manchmal gefällt mir etwas nicht, und doch muss ich irgendwann erkennen, dass es genau das gebraucht hat, damit eine neue tolle Komposition entstehen konnte. Ich will neugierig sein und etwas ausprobieren. Die Schönheit eines Bildes entsteht nicht durch schön sein wollen, sondern durch Ehrlichkeit. Gelingt es mir, mich frei zu machen von Sollen und Müssen, dann kann man das in den Bildern sehen. Nur dann bekommen sie Kraft und werden richtig gut.

 

Johanna - crazy life

Seit meinem Weiblichkeitsseminar ging ich regelmäßig zu Ariana zur Trommelmeditation. Wir wussten nie vorher, wie der Abend verlaufen würde. Es wurde immer getrommelt, aber das Programm um das Trommeln herum, entschied sie spontan nach Stimmung und Anliegen der Teilnehmer. Ich liebte diese Abende. Am letzten Treffen vor den Osterferien erzählte sie mir, dass sie am Ostermontag mit einer Gruppe von Musikern in einem kleinen Dorf im Chiemgau trommeln würde und fragte, ob ich nicht Lust hätte auch zu kommen. Ich wusste noch nicht genau, wie ich die Feiertage verbringen würde, deshalb haben wir uns nicht fest verabredet und sollte ich kommen wollen, würde ich einfach direkt dorthin fahren. Und so hielt ich es auch. Vormittags war ich mit meinem Sohn auf einer Bergwanderung und unsere Rückkehr am Nachmittag, passte zeitlich genau richtig, um noch das Konzert besuchen zu können. Ich wusste, wo das Dorf war, in dem die Veranstaltung stattfinden sollte. Ich meinte mich zu erinnern, dass es dort nicht viele Häuser gab. Es sollte keine Schwierigkeit sein den Veranstaltungsort zu finden. Als ich dann aber vor Ort war, konnte ich nichts ausmachen, das irgendwie Ähnlichkeit gehabt hätte mit einem Konzertsaal, einem Restaurant oder Café. Es gab in dem kleinen Kaff natürlich kein Mobilnetz und ich war schon leicht genervt. Nachdem ich schon zweimal durchs Dorf gefahren und auch alle Seitenstraßen abgelaufen war, kam nur noch ein größeres Wohnhaus in Frage, vor dem mehrere Autos parkten.

Gerade als ich auf der gegenüber liegenden Straßenseite geparkt hatte, fuhr ein anderes Auto direkt vor das Haus, das ich als meine letzte Chance ausgespäht hatte. Ich beeilte mich, um den Fahrer noch zu erwischen, bevor er oder sie im Haus verschwand. Kennt ihr das, ihr seid irgendwie vollkommen von der Rolle, habt nur noch eins im Kopf und könnt nicht mehr links und rechts schauen. In meinem Fall wollte ich nur diesen Veranstaltungsort finden, alles andere war in dem Moment ausgeblendet. Ich rief dem Mann hinterher: „Können Sie mir bitte helfen? Ich bin auf der Suche nach dem Klangschalen Konzert.“ Er drehte sich um und vor mir stand ein Mann mit schwarzen langen Haaren, dunklen Augen, und schwarzem, sauber gestutztem Vollbart. Er trug Jeans, ein schwarzes Jackett mit passender Weste und weißem Hemd darunter. Einer von der Sorte Edelhippie. Wow. Dieses Bild von einem Mann stand also vor mir, breitete seine Arme aus und sagte: „Madame, sie sind ier rischtiesch“. Ein echt witziger Typ. Ich bedankte mich mit meinem strahlendsten Lächeln. Wollte ich Ariana noch begrüßen, bevor es losging, hatte ich jetzt leider keine Zeit mich länger mit ihm zu beschäftigen. Es kam mir seltsam vor, dass ich ihr Auto nirgends gesehen hatte. Ich folgte dem schönen Mann mit dem französisch klingenden Akzent. Er steuerte auf eine etwas versteckte Glastür zu, hinter der sich eine seltsam anmutende kleine Gruppe von Leuten versammelt hatte. Sie schienen sich alle zu kennen, begrüßten ihn mit Küsschen und waren sehr vertraut miteinander. Ich lief einfach hinterher, wurde aber von einem großen, bärtigen, alten Mann mit wallend grauem Haar gestoppt. „Der Haupteingang ist auf der anderen Seite.“ Vollkommen untypisch für mich und vielleicht wegen dieser ganzen Sucherei vorher und weil es inzwischen schon ziemlich spät geworden war, sagte ich ihm ganz einfach und bestimmt, dass ich aber jetzt hier reingehen wollte, tat dies und ließ ihn stehen. Saufrech siegt also doch. Ich stand in einem riesigen Raum, der durch jeweils zwei Säulen aufgeteilt war. Wie in einer Kirche, in der Mitte viel Platz, links und rechts zwei Seitengänge und dort, wo in einem Gotteshaus der Altar zu finden wäre, gab es drei hohe Steinstufen, die heute als Bühne fungierten. Die niedrige Gewölbedecke gab dem Raum eine geborgene Atmosphäre. Schätzungsweise war es früher mal ein Kuhstall. Im rechten Seitenteil stand nicht ein Klavier, nein, da waren gleich drei Flügel. Gegenüber der Bühne hatte man für etwa 20 Menschen bestuhlt und links davon lagen große Matratzen, auf denen es sich fünf oder sechs Männer und Frauen gemütlich gemacht hatten. Manche alleine, ein paar kuschelnd zu zweit. Interessant! Die Instrumente standen schon bereit, aber von den Musikern oder Ariana war nichts zu sehen. Irgendwie war das alles merkwürdig hier. Ich war durch meine italienischen Freunde und auch durch Ariana einiges an seltsamen Szenarien gewohnt, doch wo war ich hier gelandet? Ich schnappte mir einen der freien Stühle, weil ich nicht so verunsichert und alleine im Weg herumstehen wollte. So konnte ich mich auch besser umsehen und unauffällig die Leute beobachten, die sich hier versammelt hatten. Insgesamt können es nicht mehr als dreißig gewesen sein. Ich war mir sicher, die kannten sich alle. Ich war die einzige fremde Person hier. Hätte ich nicht die Kristallschalen auf der Bühne gesehen, wäre ich mir sicher gewesen, dass ich auf der falschen Veranstaltung gelandet war.

Da war der Mann mit seinen langen schwarzen Haaren, der mit mir hier angekommen war. Ich musste schmunzeln. Er erinnerte mich etwas an eine Jesusdarstellung und unterhielt sich mit einem anderen Mann, der mit seinem grauen wilden Schopf und Bart, vollkommen weiß gekleidet, dann wohl Gott Vater verkörperte. Neben den beiden standen zwei ältere Damen. Eine mit wallendem, türkis farbigen, bodenlangem Kleid, Hochsteckfrisur und roter Blume im Haar, die andere Lady mehr im Stil von Queen Elisabeth. Und dann war da der Seebär, der mich nicht reinlassen wollte. Mein freches Eintreten schien jetzt niemanden mehr zu interessieren. Im Gegenteil, als die fünf sich Sitzplätze suchten, kamen sie auf mich zu, begrüßten mich mit Handschlag und Gott Vater meinte, wie schön, dass ich den Weg zu ihnen gefunden hätte.

„Versteckte Kamera oder Sekte? Auf alle Fälle Bühnenreif! Ariana, wo bist du?“ Die Musiker hatten zwischenzeitlich die Bühne betreten und der Mann, der sich vorher mit einer schönen Blonden auf einer der Matratzen geräkelt hatte, begrüßte die Klangkünstler. Er kündigte an, dass es nach der ersten Performance eine kleine Pause gäbe und im Anschluss Petra Obertöne für uns singen würde. Er bat noch darum, das Eintrittsgeld in den Korb im Eingangsbereich zu legen und fragte, ob noch jemand eine Liege möchte, weil die entspannende Wirkung der Klangreise liegend viel besser aufgenommen werden könne. Inmitten dieser Ansammlung von unkonventionellen Menschen hatte ich keine Hemmung, mich zu melden. Der Mann ging und brachte eine dicke große Matratze für mich, die er auf der freien Fläche zwischen Stühlen und Bühne ablegte. Na Bravo, ich lag also direkt im Blickfeld der sitzenden Zuhörer. Ja was soll’s, dachte ich mir, für den Rückzug ist es jetzt zu spät. Über die wunderbaren Klänge von Kristallschalen und Monochord vergaß ich bald, dass ich praktisch wie auf einem Präsentierteller lag. Wenn mir danach war, bewegte oder streckte ich mich. Ich ließ mich vollkommen fallen und genoss das Konzert mit allen Sinnen. Als die letzten Töne abgeklungen waren und ich wieder realisierte, dass ich umgeben von Menschen war, musste ich über mich selber lachen. Was für ein Abend. Ich machte mich auf die Suche nach etwas zu trinken. Auf dem Weg zum Ausgang kam mir eine Frau in meinem Alter entgegen, die meinem Blick mit einem Lächeln begegnete und die einen für diese Umgebung vollkommen bodenständigen Eindruck auf mich machte. Sie hieß Paula. Ich erklärte ihr, wie ich hier her gekommen war. Und auch, dass ich gar nicht wüsste, wo ich denn hier gelandet war, was das hier eigentlich sei und wie das alles zusammenhänge. Sie lachte und versicherte mir, dass sie meine Verwirrung durchaus verstehen könne.

Ich war in einem Wohnprojekt gelandet. In dem Haus lebten 19 Menschen in 12 Zimmern, jeweils mit eigenem Bad. Die Räume im Erdgeschoss, also Küche, Toiletten, Abstellkammern und natürlich der Säulensaal waren alles Gemeinschaftsräume. Sie führte mich durch das Haus und zeigte mir auch ihre Räumlichkeiten unterm Dach. Es war sehr schön eingerichtet und vor allem sehr ordentlich aufgeräumt. Ich staunte, dass man seine Besitztümer auf so kleinem Raum unterbringen kann und dabei nicht das Gefühl hat in einer Abstellkammer zu wohnen. Ob ich das auch könnte? Ich verteile meine Sachen momentan auf drei Stockwerke! Da könnte es durchaus eng werden, wollte ich in so ein Zimmer übersiedeln.

Die Leute der Wohngemeinschaft hatten alle sehr unterschiedliche Geschichten und Motivationen, warum sie hier lebten. Der Seebär, zum Beispiel, war ein verarmter Adliger und alles was ihm geblieben war, waren die drei Flügel, die ich in der großen Halle gesehen hatte. Paula hatte sich vor kurzem als Fotografin selbstständig gemacht und war zum einen aus Kostengründen hier gelandet, zum anderen fand sie das Leben in der Gemeinschaft eine spannende Erfahrung. Auch, wie sie sagte, wenn es oft anstrengend war und die Regeln nicht eingehalten wurden. Ihre Mitbewohner lebten oft in den Tag hinein und taten was sie wollten. Ich musste schmunzeln, weil ich an meinen Eintritt durch den Seiteneingang dachte. Da hatte ich wohl ganz unbewusst die Hausregel Nummer 1 übernommen. Die Küchenbenutzung und vor allem das Saubermachen würden überhaupt nicht funktionieren. Und ja, da gab es dann trotz all dem Gerede über Toleranz und Liebe und Offenheit ziemlich oft Streit.

„Ich würde mich echt freuen, wenn wir in Kontakt bleiben. Und vielleicht hast du ja Lust hier auch mitzumachen.“ Ohne Zweifel sind mir genau solche Gedanken durch den Kopf geschwirrt. Ich fragte sie noch nach Ariana und ob sie etwas über deren Verbleib wüsste. Nein, da habe sie keine Ahnung. Die Organisation aller Veranstaltungen lag bei Heribert, dem Mann, der zu Anfang gesprochen hatte und so eine Art Hausvorstand war. Es war auf alle Fälle spannend, einen Einblick in ein Gemeinschafts-Wohnprojekt bekommen zu haben. Vor allem von jemandem, der durchaus in der Lage war, verschiedene Aspekte zu sehen und auch relativ neutral die Vor- und Nachteile abwägen konnte. Paula war jedenfalls eine Supernette und warum sollte so eine Wohnkonstellation nicht auch für mich in Frage kommen? Wieder zurück im Säulensaal bekam ich dann gleich eine Kostprobe in Sachen „hier tut jeder was er will“. Das Konzert ging nicht mehr weiter, weil Petra, die Obertonsängerin, und übrigens die Frau mit dem türkisfarbenen Friseurumhang, der hier zum Abendkleid umfunktioniert worden war, sich nicht in Stimmung fühlte und lieber zu einem Vortrag im Nachbarort fuhr. Ich war belustigt und das, was ich an diesem Abend schon alles gesehen und gehört hatte, war das Eintrittsgeld von 10 Euro, die ich bis jetzt nicht mal bezahlt hatte, allemal wert. Paula hatte noch etwas vor und machte sich auf den Weg. Sie gab mir ihre Telefonnummer und verabschiedete sich.

Es waren nur noch ein paar Leute da und ich wusste nicht so recht, wohin mit mir. Ich wäre gerne noch da geblieben an diesem seltsam aufregenden Ort, mitten in der bayerischen Pampa. Aber nachdem sich hier alles aufzulösen schien und ich nicht unschlüssig rumstehen wollte, ging ich und suchte nach dem Körbchen, in das ich das Eintrittsgeld legen sollte. Auf einem Stehtisch vor der Küche lag eine Liste, beziehungsweise das, was eine Liste hätte werden sollen. Ein Blatt Papier auf dem sich die Konzertbesucher eintragen sollten. Es stand nur ein Name auf der Liste und in dem Bastkorb daneben lag eine einzelne Euromünze. War ja klar. Ich liebe die Atmosphäre, die diese Leute verbreiten, den Spirit des Freigeistes. Doch warum musste das so oft einhergehen mit Geldknappheit und vor allem Verantwortungslosigkeit, Unzuverlässigkeit und Respektlosigkeit. Da fallen mir eine ganze Reihe von Eigenschaften ein, die leider sehr oft bei Künstlern und spirituell Suchenden zu finden sind. Diese Untugenden werden dann gerechtfertigt mit Kreativität und Freiheit. Zu guter Letzt muss meist auch noch die bedingungslose Liebe als Ausrede herhalten. Ich bekomme auch gerne etwas geschenkt, aber bitte freiwillig und nicht, weil ich es mir leicht ergaunern kann. Deshalb schrieb ich brav meinen Namen auf die Liste, legte mein Eintrittsgeld in den Korb und kam mir nur ein kleines bisschen wie eine konservative Spießerin vor. Denn ich muss einräumen, dass ich durchaus den Gedanken im Kopf hatte: „Hoffentlich kommt das Geld auch da an, wo es hin soll!“ Das Konzert war wunderschön gewesen und ich hoffte, dass die Musiker nicht nur mit meinen 10 Euro heimgehen mussten.

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