Erbengemeinschaften sind nichts für Weicheier

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Erbengemeinschaften sind nichts für Weicheier
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Erbengemeinschaften sind nichts für Weicheier

1. Auflage, erschienen 5-2021

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Anne Schröder

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-808-1

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Anne Schröder

Erbengemeinschaften sind nichts für Weicheier

Inhalt

Prolog

Cousins- und Cousinen-Treffen

Besichtigung des Anwesens

Besprechung, Vorgehensweise

Kontakte zu unbekannten Verwandten und Behörden

Wiederhören nach 40 Jahren

Akteneinsicht

Beschwerdebrief und Besuch bei Kerstin

Notar Erbscheinvorbereitung

Sterbefall mit Folgen

Blockierer

Erbscheinantrag und Makler

Ortstermin Teppach

Zwangsvollstreckung

Einsprüche

Rücknahme mit neuen Auflagen

Nachlassverzeichnis und Verkauf

Notar und Traktoren

Anfechtung

Einsprüche der Anfechtung

Rücknahme der Anfechtung

Grundbuchamt und Pacht

Prolog

An jenem Tag kehrten wir entspannt aus einem sehr schönen Urlaub zurück. Als wir die Koffer geleert, die Kleidung zum Waschen in die Waschküche getragen und die Post durchgesehen hatten, setzte ich mich an meinem PC, prüfte und las meine Mails.

Eine Cousine aus Baden-Württemberg fragte, was ich zu dem Schreiben des Amtsgerichts Bayreuth sagen würde. Schreiben? Amtsgericht? Hatte ich in der Post etwas übersehen? Nochmal ging ich die Post durch. Kein Schreiben. Da Annette keine Details des Schreibens genannt hatte, fragte ich sie per Mail, worum es gehe. Sie antwortete nicht gleich.

Am Abend rief mich eine andere Cousine aus Bayreuth an und fragte ebenfalls, was ich von dem Schreiben des Amtsgerichts hielte. Hallo? Ich hatte kein Schreiben bekommen. Charlotte las mir vor.

Unser Cousin in Teppach, der Sohn unserer Tante Trudel, war mit fast 70 Jahren im September 2014 verstorben. Es waren einige Verwandte aufgeführt, die als mögliche Erben in Frage kamen. Ich ließ mir die Namen vorlesen und stellte fest, dass ich unter meinem vorherigen Namen und uralter Adresse in Bayreuth aufgeführt wurde. Wir waren beide verwundert über dieses Schreiben. Ich war besonders erstaunt, dass ich immer noch so geführt wurde, obwohl ich mich immer ordnungsgemäß an- und umgemeldet hatte. Wir verblieben im Telefonat so, dass ich beim Amtsgericht anrufen würde, um meine Daten zu berichtigen, damit auch ich dieses gerichtliche Schreiben bekäme. Nach einer Woche kam der Bescheid.

Mein Mann Gerd wollte natürlich wissen, wer der Verstorbene und wie das Verwandtschaftsverhältnis sei. Ich erklärte ihm, dass die Mutter meines verstorbenen Cousins die älteste Schwester meines Vaters gewesen sei, die im Jahr 2008 verstorben sei. Sie hatte Alois allein großgezogen, denn ihr Mann war im Krieg gefallen. Als Kind war ich des Öfteren mit meinen Eltern bei ihnen gewesen. Obwohl es nicht sonderlich sauber und ordentlich im und um das Haus herum gewesen war, hatte mir das bäuerliche Anwesen mit Kuhstall und Natur gefallen. Doch dazu später mehr im Rückblick.

Im Schreiben des Amtsgerichts wurde darauf hingewiesen, dass man sechs Wochen Zeit habe, das Erbe entweder auszuschlagen oder anzunehmen.

Die Kontakte zu den aufgeführten Verwandten waren in den letzten Jahren kaum gepflegt worden. Daher musste ich mir über weitere Verwandte Telefonnummern oder Adressen erfragen.

Natürlich diskutierten Gerd und ich über Annehmen oder Ausschlagen. Meine Cousine Charlotte und ich wollten uns erkundigen, ob dieses Anwesen verschuldet war, wobei wir nicht wussten, ob man uns Auskunft geben würde. In diversen Telefonaten erfuhren wir immer wieder, wie heruntergewirtschaftet das Anwesen sein musste.

Dieses Anfangsschreiben löste einige Telefonate mit Cousins und Cousinen aus. Manche von ihnen hatte ich vor 40 Jahren zum letzten Mal gesehen oder gesprochen.

Hans-Jürgen schlug, gleich nach Erhalt des Amtsschreibens, das Erbe aus. Auf meine Frage warum, meinte er, er habe sich genug mit Alois geärgert und mit diesem verkommenen Anwesen wolle er nichts zu tun haben. Vor circa zehn Jahren habe er sich bei Alois 5000 Euro geliehen, dass jedoch bereits nach einem Jahr zurückgefordert wurde, da Alois einen Engpass gehabt habe.

Einige der aufgeführten Erbkandidaten erkundigten sich ebenfalls beim Grundbuchamt und bei der Bank, wie es um die Liquidität der Landwirtschaft stehe und hatten sich diverse Unterlagen zukommen lassen. Behörde und Bank gaben nur sehr oberflächliche Auskünfte – nur so weit, dass wir Gewissheit hatten, dass keinerlei Verschuldung oder Hypotheken auf der Erblassung lagen.

Um eine eventuelle Ausschlagung nicht zu verpassen, hingen wir dieses Anschreiben gut sichtbar an die Pinnwand.

Wochen vergingen, Diskussionen, Überlegungen und diverse Telefonate brachten unseren Alltag etwas aus dem Konzept.

Kapitel 1
Cousins- und Cousinen-Treffen

Die Namen der bisher ermittelten Erbkandidaten waren mir zwar – was unsere Seite betraf – natürlich bekannt, jedoch hatte ich die meisten seit über 50 Jahren nicht gesehen, geschweige denn gesprochen. Nur meine Mutter, Gott hab‘ sie selig, hatte mich durch Erzählungen über Verwandte auf dem Laufenden gehalten.

Rückblende 2004

Wie jedes Jahr an Allerheiligen fuhren meine Mutter und ich zum Grab meiner Großeltern väterlicherseits. Da ich in Erlangen wohnte und erst zu meiner Mutter nach Bayreuth fahren musste, um zu dem weitere 20 Kilometer entfernten Friedhof zu fahren, war der Tag ausgefüllt. Diese Zeremonie wurde nach der Kirche und dem Friedhofsgang mit einer Einladung eines Verwandten zu Kaffee und Kuchen abgeschlossen. Das tat uns natürlich sehr gut, denn es war zumeist sehr kalt und wir waren dankbar für äußere und innere Wärmequellen.

Von Jahr zu Jahr wurde die Anzahl der lebenden Verwandten am Friedhof immer kleiner – entweder verstorben oder weggezogen. Die Begegnung mit meiner Tante Trudel hat mich immer besonders berührt. Sie war die älteste Schwester meines Vaters und die Mutter des später verstorbenen Erblassers.

Ihre streng nach hinten gekämmten Haaren, rückwärtig zu einem Knoten gebunden, ihre traurige Mimik und ihre abgearbeiteten Hände lösten bei mir Mitleid und ein schlechtes Gewissen aus.

Ihren Kopf hielt sie etwas schief, wie ihr Vater, mein Großvater. Die Ähnlichkeit mit ihm drückte sich nicht nur in der Kopfhaltung aus. Nachdem der Pfarrer seine Predigt beendet hatte, kam meine Tante auf mich zu, drückte mir fünf D-Mark in die Hand und sagte im oberpfälzer Dialekt: „Ach Anne, scheei, dos i di mol wieda siach.“

 

Natürlich wollte ich das Geld nicht annehmen, doch dann wurde sie noch trauriger. Also steckte ich es mit einem „Dankeschön“ ein. Ihre armselige Kleidung verstärkte mein Mitleidsgefühl noch. Ich vermisste aber ihren Sohn, meinen Cousin Alois, traute mich aber nicht, zu fragen. Einer der übrigen Brüder fuhr sie nach Hause.

Beim anschließenden Kaffee bei Langsteiners mit Langsteiners großen Familie hatte ich die Idee, ein Treffen mit Cousins und Cousinen zu organisieren. Ich fand es sehr schade, dass man sich nur zu Beerdigungen traf und fand Zustimmung für meine Idee.

Mit Hilfe meines Cousins Hans-Jürgen und meiner Cousine Charlotte, kam ich zu Adressen und Telefonnummern.

Bei einem Glas Rotwein setzte ich mich eines Abends hin und verfasste eine Einladung. Ich begründete darin meine Idee, schlug mehrere Termine, Zeiten und Lokale vor.

Nach einigen Tagen kamen schon die ersten Zusagen: Vier Geschwister, also vier Cousins und Cousinen aus Stuttgart und Umgebung, zwei aus dem hessischen Raum und weitere vier aus Bayreuth und Umgebung.

Alle waren begeistert und schon bald konnten wir den Termin dingfest machen: Mai 2005. Es war ein schöner warmer Maitag. Ich holte meinen Cousin ab, der das Treffen mit organisierte. Hans-Jürgen war Junggeselle. Er lebte weiterhin in der mir wohlbekannten Wohnung seiner Eltern. Beim Gang ins Wohnzimmer musste ich schmunzeln: „Mensch, Hans-Jürgen, Du bist ja sauberer und ordentlicher als manche Hausfrau.“ Er grinste mit stolzer Verlegenheit.

Wir beide waren sehr gespannt. Die Freude war groß, als nach und nach alle eintrafen – bis auf zwei, die es nicht einmal für nötig gehalten hatten, mir zu- oder abzusagen. Natürlich hatten wir uns viel zu erzählen. Zuerst erzählten wir uns gegenseitig etwas über das gegenwärtige Leben. Später wurden die schönen Kindheitserinnerungen hervorgeholt: Episoden wurden erzählt, an die sich der Eine oder die Andere nicht mehr erinnern konnte, bis zu „Ach ja, stimmt“ oder “Das habe ich gemacht?“ Wir sprachen von unseren Eltern und Großeltern und beklagten, dass wir uns eine lange Zeit nicht gesehen hatten.

Wir verlebten einen wunderschönen Tag, machten viele Fotos und konnten sogar beobachten, wie ein Maibaum von starken Jungs aufgestellt wurde.

Am Ende waren wir uns einig, dass wir so ein Treffen wiederholen würden. Zum Dank für´s Organisieren, bekam ich eine schöne Hortensie mit einer sehr netten Dankeskarte geschenkt. Vier Jahre später wiederholten wir das Treffen. Allerdings luden wir dazu noch die wenigen Tanten und einen Bruder meines Vaters ein. Dies war 2015, ein paar Monate nach dem Tod meiner Mutter. Sie verstarb mit schwerer Demenz im Alter von 89 Jahren. Wer sie kannte und wusste, wie sie früher gewesen war, nämlich sehr aktiv und in drei verschiedenen Bereichen ehrenamtlich tätig, konnte diese Krankheit bei ihr kaum verstehen.

Jeder hatte die Idee, Fotoalben mitzubringen, was sich als sehr bereichernd herausstellte. Es war ein emotionsgeladener Tag. Durch Geschichten und Anekdoten wurden Tränen und Lacher ausgelöst.

Nur am Rande wurde das Thema „Erbe des Alois“ angesprochen. Viele der Anwesenden hatten das Erbe ohne Testament gleich ausgeschlagen, auch Hans-Jürgen. Sie ließen sich vom Zustand des Anwesens und den Begebenheiten leiten, auszuschlagen. Leider war Alois in den letzten Jahren menschenfeindlich geworden und hatte niemanden mehr in seine Nähe gelassen, nicht einmal einen Arzt, der meine Tante Trudel versorgen wollte. Auch unseren Onkel wurde der Zugang verwehrt.

Diejenigen, die angenommen hatten, auch ich, wurden bedauert und mit spekulativen Problemen konfrontiert, was in mir Unbehagen auslöste. Wie recht sie behalten sollten…

Wir wurden gefragt, wie wir vorgehen würden und ob wir wüssten, ob Schulden oder Hypotheken das Erbgut belasteten. Meine Cousine Charlotte, die noch überlegte, das Erbe anzunehmen oder auszuschlagen, antwortete, dass wir uns erkundigen müssten. Bisher hatten wir allerdings nur begrenzt Auskunft bekommen.

Kapitel 2
Besichtigung des Anwesens

Nach diesem Treffen war ich mit verschiedenen Telefonaten beschäftigt. Das Grundbuchamt gab uns über die Gemarkungen Auskunft und schickte mir und anderen Auszüge davon. Daraus ging unter anderem auch hervor, dass Alois ein Stück Wald verkauft hatte.

Die Erkenntnisse aus dem zweiten Telefonat mit dem Amtsgericht erwiesen sich als sehr dürftig. „Tja, wissen Sie“, bekam ich auf meine Frage, wie lange es dauern werde, bis alle Erben ermittelt sein würden, zur Antwort, „das kann sehr lange dauern. Es sind schließlich nicht nur die Erben mütterlicherseits, sondern auch die väterlicherseits.“

Der Rechtspfleger schloss seine kargen Antworten mit dem Satz: „Wir hatten schon Erbfälle, die acht Jahre dauerten. Selbst bei den ermittelten Erben, die zwar ausgeschlagen haben, werden auch die Kinder mit einbezogen. Die Überlegungsphase dauert ab Erhalt des Bescheids immer sechs Wochen.“

Ich hatte mir vorgenommen, in regelmäßigen Abständen im Amtsgericht Bayreuth anzurufen.

Während eines Telefonats mit Charlotte kamen immer wieder Fragen und Zweifel hoch. Wir kamen zu der Erkenntnis, dass wir keinen blassen Schimmer hatten, wie wir vorgehen sollten. Ein Haus verkaufen – okay, aber eine Landwirtschaft mit Acker, Wald und Weiher?

Wir fragten uns gegenseitig, wann wir das letzte Mal in Teppach gewesen waren. „Äh, ich bin zwar mit Gerd schon des Öfteren vorbeigefahren und wir haben den verwilderten Zustand gesehen, aber sonst sah es aus wie vor 50 Jahren, als ich zuletzt im Haus war.“ Charlotte konnte sich nur vage erinnern, war noch seltener dort gewesen und konnte sich auch kaum an Alois erinnern.

So beschlossen wir, uns das Anwesen einmal anzusehen. Ich vereinbarte mit ihr, dass ich den ortsansässigen Bürgermeister wegen der Schlüssel anrufen würde und wir legten einen Termin fest. Sie meinte, dass sie ihre Mutter und eine ihrer Töchter mitbringen möge. Ich antwortete: „Kein Problem! Und ich bringe meinen Mann mit.“

Es war Faschingsdienstag. Herrlicher Sonnenschein. Es lag Schnee und es war kalt. Wir fuhren rechtzeitig los, um pünktlich dort zu sein. Der Bürgermeister warnte mich schon am Telefon vor dem, was uns dort erwarte. Dementsprechend hatten wir uns mit Mundschutz und Handschuhen ausgestattet.

Es erschien auch unsere Cousine Karla, die ausgeschlagen hatte, jedoch einen Sohn hatte, der Miterbe war. Ihre Begrüßung war befremdlich und löste in mir Unbehagen aus. Mir fiel auf, dass sie uns nie richtig ansah. Ich ertappte mich dabei, demonstrativ Blickkontakt zu suchen, was mir mäßig gelang. „Dumme Nuss“, dachte ich mir.

Der Bürgermeister sperrte das Haus auf. Fast in Zeitlupe und mit Unbehagen gingen wir hinein. Ich hörte hinter mir meine Tante: „Ach, du liebe Zeit“, meine Cousine Charlotte: „Oh mein Gott“, ihre Tochter: „Ich glaube, mir wird´s schlecht“, meinen Mann: „Unfassbar“, mich selbst: „Um Gottes willen.“

Zunächst kam der sogenannte Vorraum, wo damals die Milch aufbereitet und gefiltert wurde, damit sie fertig zur Abholung war. Da standen jetzt offene Katzenfutterdosen, teilweise steckte ein Löffel drin. Kisten, Kartons und Kanister lagen kreuz und quer, sodass wir nicht gehen konnten, sondern steigen mussten.

Ich zückte meine Digitalkamera und begann zu fotografieren. Der Hausflur: Ebenfalls überall Kleidung, Kisten, Stapel von Zeitungen und durcheinanderliegende Prospekte. Der Dreck überall ließ erahnen, dass nach dem Ableben meiner Tante niemand mehr geputzt hatte.

Der nächste Raum, der eine Küche erahnen ließ, löste bei uns Ekel und fast mitleidige Abscheu aus.

Meine Tante und ich riefen fast gleichzeitig aus, wie man so leben könne. Alois musste über Jahre nichts mehr gekocht haben. Töpfe und Pfannen waren mit undefinierbaren Krusten überzogen, genauso wie der Herd. Die Eckbank und der Tisch waren mit Zeitungen und Prospekten belegt. Lebensmitteldosen standen dazwischen. Der Küchenschrank war zugleich Wohnzimmerschrank. Hier und da öffneten wir die nicht verglasten Schrankteile. Das Durcheinander und der Staub veranlassten uns dazu, sie schnell wieder zu schließen.

Gerd entdeckte auf dem Wohnzimmertisch eine vergilbte Akte mit der Aufschrift „Grundbuch“. Da ich Handschuhe trug, blätterte ich die Akte grob durch. Mir fielen Seiten in altdeutscher Schrift und Abbildungen von Gemarkungen auf. Der Bürgermeister, der wie angewurzelt an der Tür stand, meinte, dass in dieser Akte kein Testament zu finden sei. Er habe dies schon durchgesehen und für uns liegen gelassen.

„Sie können die Akte mitnehmen“, meinte er. Wir machten uns auf, um in den ersten Stock zu gehen. Gerd war hinter mir. Als er auf der dritten Stufe von einer herabhängenden Spinnwebe gestreift wurde, rief er: „Ich bleibe besser unten.“ Auch der Bürgermeister ging nicht mit nach oben. Er kenne den ersten Stock bereits und wolle sich das nicht nochmal antun. Nun waren wir noch zu viert. Der obere Flur war mit hellen Sideboards bestückt, deren Türen offenstanden. Sowohl in den Möbeln als auch außerhalb lagen Berge von Magazinen und Prospekten: Prospekte der Grünen-Partei, Wanderprospekte und so weiter.

Der Blick ins Bad ließ mich paradoxerweise schmunzeln. Ich blendete kurzzeitig den Dreck aus und zeigte den anderen die zwei roten Dosen auf dem Spiegelschrank: Brisk, Haarpomade. Die hatte Alois damals schon benutzt. Wir fanden keine weiteren Körperpflegemittel, geschweige denn irgendein Reinigungsmittel. Wir stutzten, als wir im Waschbecken etwas graues, haariges entdeckten. Ich nahm an, dass Alois mit Dichtungswolle ein Rohr hatte abdichten wollen. Meine Tante sah genauer hin. „Nein“, rief sie erschrocken, „das sind Haare.“ Anscheinend hatte sich Alois selbst die Haare geschnitten und sie im Waschbecken liegen gelassen. Ein Rinnsal Wasser ließ erkennen, dass die Badewanne mal hell gewesen war.

Wir gingen weiter, jeder hörte das seltsame Knacken unter den Füßen. Charlotte sah genauer hin: „Iiih, das ist getrockneter Katzenkot.“ Da einige Fenster zu Bruch gegangen waren, hatten Katzen – in der Hoffnung, Futter zu finden – den Weg ins Innere des Hauses gefunden.

Das erste Schlafzimmer musste Alois gehört haben. Das einzig ordentliche waren seine Arbeitshosen, die an der Seite des Schranks hingen. Sein sogenanntes Bett war ungemacht und hatte eine undefinierbare Farbe. Das Bettgestell bestand aus Backsteinen, die mit Brettern belegt waren. Darauf lag die Matratze. Der Boden war ebenfalls übersät mit Zeitungen und Prospekten. Das zweite Schlafzimmer musste meiner Tante gehört haben. Da kamen mir die Tränen. Das Bett: ebenfalls ungemacht, übersät mit Kleidung. Auf dem Boden lagen Kontoauszüge und Sterbebilder. Das Gebetbuch auf dem Nachttisch und das christliche Wandbild rührten uns sehr.

Mir fiel auf, dass Karla nicht mehr bei uns war. Auch die Tochter von Charlotte fehlte. Uns reichte es auch und wir gingen wieder ins Erdgeschoss. Karla und Gerd standen vor den Garagen. Beim Blick zur Scheune sahen wir, wie die Sonne den Schnee zum Schmelzen brachte.

Das Wasser lief aus der Dachrinne ab – wie ein Schwall aus einer Gießkanne.

Die erste Garage, vermeintlich als Werkstatt gedacht, war ebenfalls zugemüllt. Werkzeuge und landwirtschaftliche Kleingeräte lagen darin kreuz und quer. In der zweiten Garage standen die beiden Traktoren. Ich fotografierte sie. In den ehemaligen Kuhstall schauten wir gar nicht erst hinein.

Der Bürgermeister, der geduldig gewartet hatte, fragte, ob wir mit der Besichtigung fertig seien, dann könnten wir mit ihm zum Rathaus fahren, um Weiteres zu besprechen. Meine Tante verabschiedete sich, da sie keine Miterbin war. Gerd und ich fuhren, schweigend und betroffen von den Eindrücken des Hauses, zum Rathaus in den nächsten Ort.

Kapitel 3
Besprechung, Vorgehensweise

Im Besprechungsraum des Rathauses standen schon Karla und der Bürgermeister und unterhielten sich. Ich hörte, dass die beiden sich duzten. Anscheinend kannten sie sich auch privat.

Nachdem wir unsere Eindrücke von Haus und Hof noch einmal hatten Revue passieren lassen, fragten wir den Bürgermeister, wer sich um die Beerdigung gekümmert habe und wer das Grab pflege? Der Bürgermeister gab zurück: „Ich habe mich um die Beerdigung gekümmert. Ich hatte zu jenem Zeitpunkt keinen wirklichen Ansprechpartner. Um das Grab kümmert sich Karla.“

Der Bürgermeister wandte sich nun den Unterlagen zu, die er die ganze Zeit in einem Ablagekorb unter dem Arm getragen hatte und die jetzt vor ihm lagen. Im Groben habe er alles sortiert und das Wichtigste dabei. Auf die Frage, woher er diese Unterlagen habe, antwortete er, der jüngste Bruder meines Vaters habe ihm diese übergeben. Ich dachte für mich, diesen Onkel muss ich anrufen, um ihn zu fragen, ob und wenn ja, wann er im Haus gewesen war.

 

Einiges konnte der Bürgermeister kraft seines Amtes erledigen, klären und kündigen. Es bestand auch ein Konto, das als Erbenkonto weiterlaufen würde, denn es gab noch diverse Kontobewegungen.

Der Bürgermeister sah zu Karla und rief schon fast erfreut: „Karla, du könntest doch alles an dich nehmen.“ Bevor ich meinen Einwand geben konnte, winkte Karla ab, sie habe ja das Erbe ausgeschlagen.

Daraufhin erklärte Gerd dem Bürgermeister, dass dieser verpflichtet sei, sämtliche Unterlagen dem Amtsgericht zu übergeben. „Ja, Sie haben recht“, erwiderte er erleichtert, „dies werde ich nächste Woche erledigen.“

Nachdem wir das Notwendigste besprochen hatten, bot der Bürgermeister an, auch weiterhin zu helfen. Wir verabschiedeten uns. Draußen wiederholte Karla noch einmal, dass es doch ein Testament geben müsste. Bevor ich etwas erwidern konnte, ergänzte sie: „Schließlich hat sich mein Vater (der älteste Bruder meines Vaters) mehr um Alois gekümmert als manch anderer.“ (Was, wie sich später herausstellen würde, nicht ganz der Wahrheit entsprach.)

„Ach Karla, wenn wir schon einmal hier sind, könnten wir doch deinen Vater, meinen Onkel, besuchen. Wir haben jetzt nichts weiter vor.“ Ich kannte die Antwort fast schon, doch ich wollte Karla testen. „Ach nein, das ist im Moment ungünstig. Meinem Vater geht es nicht so gut. Ein Besuch würde ihn sehr anstrengen.“ Auf meine Frage, was ihm fehle, kam der wohlbekannte Wegschaublick und die Aussage na, er habe es momentan mit dem Kreislauf. Seit Mutter im Altenheim sei, fehle ihm die Regelmäßigkeit.

Von dem Impuls, trotzdem zu dem zwei Minuten entfernten Onkel zu laufen, hielt mich Gerd ab. „Ach komm, lass es“, meinte er, „fahren wir nach Hause.“

Im Auto ließ ich meinen Eindrücken über Karla freien Lauf. „Die dumme Nuss! Zum einen finde ich es unhöflich, einem bei einem Gespräch nie ins Gesicht zu schauen, zum anderen wäre es wirklich höflich gewesen, uns zum Kaffee einzuladen, denn wir haben noch über 100 Kilometer zu fahren. Früher fühlte ich mich schon fast geschmeichelt, wenn Leute uns beide verwechselt haben wegen der Ähnlichkeit. Doch heute kann ich guten Gewissens behaupten, weder innerlich noch äußerlich irgendeine Ähnlichkeit festzustellen.“

Gerd ließ mich an seinen vielen Bedenken das Anwesen betreffend teilhaben. „Äh, willst du dir das wirklich antun? Oder willst du Bäuerin werden? Na, Frühaufsteherin bist du ja, dann kannst du die Kühe melken und ausmisten“, feixte er. Er kaufe mir auch Gummistiefel.

Bei einer Tasse Kaffee setzten wir uns und ich erzählte.

Rückblick

Meine Eltern hatten nie ein Auto und auch keinen Führerschein besessen. Mein Vater hatte ein kleines Moped, mit dem er nur Kurzstrecken fuhr: entweder zum Einkaufen oder zu seiner Stammkneipe im gleichen Ort. Wollten wir zu Tante Trudel nach Teppach, waren wir auf die Brüder meines Vaters angewiesen, denn eine Busverbindung gab es nicht.

Ich bin gerne bei Tante Trudel gewesen. Bevor das alte Haus abgerissen worden war und ein größeres gebaut wurde, gab es – so erinnere ich mich – eine gemütliche Wohnküche, wo auch der Universalherd stand, den es später, wie bereits erwähnt, immer noch gab. Mit diesem wurde geheizt und gekocht. Holz hatten sie genug aus dem eigenen Wald. Damals, in den 60ern, wohnten auch der Schwager und die Schwägerin mit im Haus. Beide ledig. Zum Charakter der beiden konnte ich wenig sagen.

Tante Kuni trug immer eine Kittelschürze und hatte einen Kropf. Ihre Stimme war deshalb kratzend und es war anstrengend für sie, zu sprechen. Onkel Bertram trug stets Cordhosen und eine Weste. Darunter ein kariertes Hemd. Immer! Kuni war quasi die Hauserin, was ich nicht ganz nachvollziehen konnte, denn unter Ordnung und Sauberkeit verstand ich etwas anderes.

Onkel Bertram war anscheinend der Ersatzvater für Alois, jedoch nicht der Ersatzmann für Tante Trudel.

Wieder einmal waren wir zur Erntezeit in Teppach. Fünf Brüder, die in der Nähe wohnten, halfen fleißig mit. Der sechste Bruder wohnte damals schon in der Nähe von Stuttgart. Manchmal war auch mein Großvater dabei und verrichtete leichtere Arbeiten.

Ich liebte es, alles zu erkunden. Ich half meiner Tante, mit der Schubkarre Heu und Stroh von der Scheune zu den Kühen zu schaffen. Irgendwie hatte ich aber das Bedürfnis, im Haus für Sauberkeit zu sorgen. Meine Tante Trudel, die damals schon verhärmt und abgearbeitet aussah, bekam einen wohlwollenden Gesichtsausdruck und wollte zuerst dankend ablehnen. Doch durch meine Frage, wo Besen, Eimer und Putzmittel zu finden seien, merkte sie, dass ich nicht lockerlassen würde. So zeigte sie mir, wo alles zu finden war.

Ich begann mit der Milchküche, machte in Bad und Küche weiter und merkte nicht, wie schnell die Zeit verging. Später, als ich das Wohnzimmer betrat, lag Alois ganz gemütlich mit einem Kreuzworträtsel auf der Couch. „Äh, Alois, brauchen die Helfer dich nicht bei der Ernte?“, fragte ich. Gelassen sah er mich an und meinte, dass noch Zeit sei, bis er die Ernte holen könne. Aha, und abgesehen davon – ein Blick zur Uhr – dachte ich ans Kühe melken. Als ob er meine Gedanken hätte lesen können, stand er ohne Eile auf, nahm sein Transistorradio und schlenderte Richtung Kuhstall. Mmh, Musik beim Melken. Hatte ich bei unseren Nachbarn noch nicht gesehen oder gehört. Zurück in der Wohnküche empfing mich Tante Trudel mit einem freudigen Lächeln, kam auf mich zu und nahm meine Hände. „Ach Anne, so sauber war es bei uns noch nie.“ Täuschte ich mich oder hatte sie Tränen in den Augen? Ihre rauen und abgearbeiteten Hände drückten meine ganz fest, bis ich sie zögerlich wieder zurückzog: „Ach Tante Trudel, das habe ich doch gerne gemacht.“

Als die Brüder fertig waren mit der Ernte, gab es noch eine deftige Brotzeit, bevor wir wieder nach Hause fuhren.

Wann der Abriss des alten Hauses und der Neubau besprochen worden war, hatte ich nicht mitbekommen. Ich konnte mich erinnern, dass mein Vater Ende der 60er-Jahre mehrere Wochen, an Wochenenden, in Teppach gewesen war, um beim Neubau zu helfen. Anscheinend gab es keine Probleme oder Disharmonien. Na, mein Vater, den ich sehr geliebt habe, war kein Mann vieler Worte. Wir zwei verstanden uns auch so.

Meiner Mutter gefiel es nicht, dass er jedes Wochenende nach Teppach fuhr. Unser großer Gemüsegarten müsse auch gepflegt werden. Auch das Holz für die kommende kalte Jahreszeit säge und hacke sich nicht von selbst. Mein drei Jahre älterer Bruder hatte bei diesen Andeutungen taube Ohren und für solche Arbeiten linke Hände. Er spielte lieber Fußball.

Meine Mutter war Schneiderin und verdiente sich ein Zubrot, indem sie für Bekannte und Nachbarn schneiderte. Sogar Brautkleider hatte sie in ihrem Programm, was ich bewunderte. Damals hatte sie nur eine mechanische Pfaff-Nähmaschine. Leider hat sie mir ihr Talent nicht vererbt.

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