Das Geheimnis von Möwenpelz

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Das Geheimnis von Möwenpelz
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Anne Daurer

Das Geheimnis von Möwenpelz

Ein spannendes Abenteuer für Kinder ab zehn Jahren.

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Auf der anderen Seite

2. Was macht der da?

3. Die Fremdkörper

4. Am Pfefferminzsee

5. Ich krieg das Ding nicht auf

6. Frag mal Nina

7. Altes Zeugs

8. Und jetzt?

9. Seit Ewigkeiten

10. Alles klar?

11. Alles okay

12. Ein Hirngespinst

13. Dann eben nicht

14. Und was hast du gemacht?

15. Einfach so?

16. Isabelle!

17. Die Tür zum Schlüssel

18. Jetzt reicht’s!

19. Spinnst du?

20. Schön hier

21. Wie ein Geist

22. Überall und nirgends

23. Du zitterst ja!

24. Mach dir nicht in die Hose

25. Auf eigene Faust

26. Ganz leise

27. Sag’s einfach

28. Besserwisser!

29. Das wird nichts mehr

30. Vielleicht?

31. Ihre Majestät

32. Spuren

33. Kein Ponyhof

34. Ein Schatz?

35. So ein Gefühl

36. So halt

37. Alles so unglaublich

38. Eine von vielen

Liebe Leserin, lieber Leser,

Impressum neobooks

1. Auf der anderen Seite

Die Villa döste in der Hitze wie ein müdes Reptil. Patte dachte an die Riesenschildkröten auf den Galápagos-Inseln. Die lebten mindestens 150 Jahre. Das Haus dort hinten sah tausendmal älter aus. Sein Dachpanzer war zerlöchert. Die Fensteraugen starrten wie Höhlen in die Mittagssonne. Aus der zerrissenen Haut quoll Gestrüpp.

Ob es hier wirklich spukte?

Patte fröstelte, obwohl es tierisch heiß war. Seine Mutter hatte schon früh am Morgen die Hitze beklagt und verkündet, den Sonntag im Haus zu verbringen.

„Und was machst du, Patrick?“, wollte sie wissen, als er seine Schuhe anzog.

„Bisschen mit dem Rad rumfahren.“ Sie durfte nicht wissen, dass er dasselbe vorhatte wie sie: den Tag im Haus zu verbringen. Nur in einem anderen Haus. In der Holzmann-Villa. So lange schon wollte er hinein. Wollte endlich wissen, was dort los war.

„Spätestens um sechzehn Uhr bist du zurück. Du weißt, heute …“

„Kommt der Typ. Ich weiß.“

„Der Typ heißt Thomas.“

Patte verdrehte die Augen.

„Du weißt, wie wichtig es mir ist, dass Ihr Euch endlich richtig kennenlernt. Und nicht nur kurz zwischen Tür und Angel.“

Gemeinsam kochen. Gemeinsam essen. Gemeinsam langweilen. Patte verstand nicht, was daran so wichtig war.

„Sei pünktlich. Wenigstens heute.“

„Ja, bin ich.“

„Du weißt, was sonst passiert!“

„Ja, weiß ich.“

„Ich meine es ernst, Patrick! Sehr ernst!“ Mamas Gesicht war aus Stein. „Hast du gehört?“

„Ja, hab ich!“ Patte schlug die Haustür hinter sich zu.

Zuspätkommen war ein Dauerthema zwischen ihm und Mama. Immer, wenn Patte meinte, pünktlich zu sein, kam er nach Mamas Ansicht zu spät. Manchmal drückte sie ein Auge zu. Manchmal nicht. Heute gar nicht. Um die Wichtigkeit des heutigen Abends zu betonen, wiederholte sie seit einer Woche die Strafe, die Patte erwartete, wenn er heute schon wieder zu spät kam. Mama würde nicht nur seine Angel wegsperren, sondern auch sein Fahrrad. Er wusste, sie würde heute Ernst machen. Und die Sommerferien hatten gerade erst angefangen.

Patte musste sich also beeilen, wenn er genug Zeit für die Holzmann-Villa haben wollte. Flip hatte erzählt, dass die Villa bald abgerissen würde. Der blöde Streber wusste zwar immer alles besser. Doch wenn er recht hatte, dann war jetzt Pattes letzte Gelegenheit. In den Pfingstferien war er am Stacheldraht hängen geblieben. Drüben, beim großen Loch in der Mauer. Er ballte die Hände zu Fäusten. Nur Anfänger und Idioten blieben in Zäunen hängen.

Sein Blick wanderte durch den verwilderten Garten hinter dem Eisentor. Ein perfekter Ort für ein Versteck. Niemand würde Patte finden. Nicht einmal Flip, der ihm seit Tagen hinterherdackelte.

Er musste hinüber. Unbedingt. Wer weiß, was ihm sonst entging? Das alte Haus beherrschte seine Gedanken wie kaum etwas anderes.

„Verdammt nochmal, ich schaff das“, flüsterte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich schaff das. Und wenn ich drüber fliegen muss.“

Er sah an der Mauer empor, die das Grundstück wie eine Festung umfriedete. Dann drehte er sich nach links und folgte ihr in den Wald hinein. Hoch über seinem Kopf rauschten die Wipfel der Holzmann-Bäume im Wind. Büsche drängten sich von links heran. Je weiter Patte ging, desto dichter wurde das Gesträuch, bis fast kein Sonnenstrahl mehr durchsickerte. Ein grüner Tunnel verschluckte ihn. Zweige streiften seinen Hals, huschten über sein Gesicht und schlossen sich raschelnd hinter ihm. „Geh nicht weiter“, wisperten sie, „bleib stehen“.

Patte trat fester auf. Die Blätterhöhle verdunkelte sich mit jedem Schritt und mündete in eine meterhohe Hecke, die sich über die Mauer schlängelte. Wäre er ein Käfer, dann könnte er hinüber krabbeln. Doch er war nur ein elfjähriger Patrick Stern, der auf eine Laubwand starrte. Er sah sich um. Links lag der Rotwald. Vorne und rechts so was ähnliches wie Urwald.

Ob er umkehren sollte?

Nochmal auf die andere Seite?

Aufgeben?

„Nie im Leben“, sagte er laut. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und rutschte in den Graben, in dem die Hecke wurzelte. Immer tiefer grub er sich ins Dickicht, versank in Farnwedeln und feuchter Erde.

„Mistscheiße!“ Seine Stimme erstickte im Laub. Crocodile Dundee hätte jetzt alle Pflanzen zerhäckselt und nicht die Spinne angestarrt, die über seinen Arm wuselte. Patte schüttelte sich und stapfte weiter. Und plötzlich, als hätte jemand einen Vorhang gelüftet, war das Durcheinander vorbei. Eine Eiche versperrte den Weg. Ihr Stamm hatte sich halb in die Mauer gefressen. Ihre Äste zeigten wie knorrige Finger in den Holzmann-Park hinüber.

Pattes Herz schlug schneller. Das war es! Das Leben konnte so einfach sein. Er sah sich nach allen Seiten um. Außer ihm und zwei Millionen Bäumen war niemand hier.

Er schätzte die Eiche ab. Sie mochte drei oder vier Meter hoch sein. Die Äste sahen alt aus, aber nicht morsch. Das würde er schaffen.

Schnell kletterte er am Geäst hinauf, kroch über die Mauer und sprang auf die andere Seite. Für einen Moment hielt er inne und lauschte. Eine Grille zirpte. Fliegen summten. Sonst war es still.

Er mochte es kaum glauben, doch er hatte es geschafft. Er war wirklich in eine fremde Welt getaucht, dicht wie ein Dschungel, größer als ein Fußballfeld. In seiner Mitte schimmerte die Schildkröte durch wildes Grün. Er pfiff leise vor sich hin. Jetzt konnte es losgehen. Vor ihm lagen ein langer Sommer, eine alte Villa und ein Urwald, ganz für ihn allein.

 

Wachsam pirschte er vorwärts. Jetzt, wo er endlich auf demselben Grundstück war wie das alte Haus, fühlte es sich auf einmal unwirklich an. Fast wie ein fremder Planet. Langsam schlich er weiter, durchquerte einen Tunnel aus Kletterpflanzen. Einen Kastanienwald. Dann blieb er stehen.

Vor ihm ragte die Villa in den Himmel. Aus der Nähe betrachtet sah sie noch größer, älter und einsamer aus. An der Treppe, die zur Eingangstür hinaufführte, quoll dasselbe Gestrüpp wie aus den Mauern. Patte stieg hinauf. Zwölf Stufen, überwuchert, zerbrochen und seit langem vergessen. Eine Eidechse huschte in eine Ritze, als Patte kam. Vor der Eingangstür hielt er inne. Sie war mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Das war ein Witz, denn unterhalb des Türknaufs klaffte ein riesiges Loch.

Patte grinste spöttisch. Das war leicht. Das Holz würde schnell zersplittern. Er musste nur etwas finden, um das Loch aufzuhebeln. Er sah sich um. Unter den Kastanien könnte er vielleicht einen Ast finden. Oder in dem Schuppen, in der Nähe der Eiche, über die er geklettert war. Oder sonst irgendwo in diesem Urwald. Er drehte sich um und blickte mit der Miene eines erfolgreichen Eroberers über den Garten. Er fühlte sich stark, sicher und frei. So schlenderte er die Treppe hinunter, auf der Suche nach einem Säbel, mit dem er die Tür erdolchen würde.

Er musste nicht weit gehen. Unter den Kastanien fand er, was er suchte. Patte rannte schnell zurück zur Eingangstür. Wenn man das Haus ohnehin abreißen wollte, war es egal, aus wie viel Loch die Tür bestand. Er steckte den Ast hinein und drückte. Holz krachte und splitterte. Die untere Türhälfte gab mit einem Knirschen nach, schneller als Patte gedacht hatte. Er bückte sich und schlüpfte hinein.

Halbdunkel umhüllte ihn wie ein Mantel aus Samt. Warme, abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Durch die Ritzen der zugenagelten Fensterläden fielen staubige Lichtstreifen. Patte ging einen Schritt in den Bauch der Schildkröte hinein. Es roch nach verfaultem Holz und Moder. Unter seinen Füßen ächzte der Parkettboden.

Neugierig sah er nach allen Seiten. Hoch über seinem Kopf wölbte sich eine Dachkuppel aus buntem Glas in den Himmel. Um ihn herum dehnte sich ein Raum, viermal so groß wie sein Zimmer und mindestens dreimal so hoch. An seinem Ende wand sich eine Treppe nach oben. Vor den Aufgang waren Bretter genagelt und darauf ein Schild „Nicht betreten! Einsturzgefahr!“

Er drehte sich um und schlich tiefer ins Haus hinein. Der Staub unzähliger Jahrzehnte erstickte jedes Geräusch. Draußen erklang der Ruf eines Kuckucks wie ein Lied aus einer fernen Welt.

Patte durchquerte das ganze Erdgeschoss. Einsame Zimmer gähnten in die Leere. Außer Staub und Stille war hier unten nichts zu finden. Jetzt war das Obergeschoss an der Reihe. Patte sah beiläufig auf die Uhr. Schon fast halb Vier! Hastig drehte er sich um, stolperte und fiel zu Boden.

Als er sich hochrappelte, erstarrte er. Hatte sich unter seiner Hand etwas bewegt? Er krabbelte rückwärts und starrte den Boden an, als wäre er ein gefährliches Tier. Nichts rührte sich. Aber da hatte sich etwas bewegt! Oder hatte er sich das eingebildet? Er streckte den Arm aus und verlagerte sein Gewicht nach vorne. Da! Der Boden bewegte sich noch einmal! Gab es hier einen Geheimgang? Das musste Patte genau wissen. Er rappelte sich hoch, nahm den Ast, mit dem er die Tür aufgehebelt hatte, und drückte ihn auf den Boden. Er klopfte, bohrte, hämmerte. Und plötzlich gab eine morsche Bodendiele nach. Sie zerbrach mit lautem Knacken und gab einen Hohlraum frei.

Etwas Rechteckiges lag darin.

Patte kniete sich hin, beugte sich darüber und pustete. Eine Staubwolke flog wie ein Bienenschwarm um seine Nase und segelte in Flocken auf sein T-Shirt herab. Er nieste einmal, zweimal. Und dann, als der Staub sich gelegt hatte, sah er es genau. In dem Hohlraum lag tatsächlich etwas. Er berührte es vorsichtig. Das Ding ließ sich bewegen. Was war das?

Seine Finger strichen darüber, befühlten es, griffen es fester und holten es heraus. Patte wischte mit dem Saum seines Shirts darüber. Es war eine Kiste aus dunklem Holz, von der Größe eines Taschenbuchs. Auf ihrem Deckel schimmerte eine Zeichnung aus verblichenem Gold. Patte wollte sie öffnen, aber sie war verschlossen. Er hielt sie an sein Ohr, schüttelte sie. Nichts zu hören. Noch einmal beugte er sich über den Hohlraum, doch er war leer.

Ein weiterer Blick auf die Uhr erinnerte Patte an die Gefahr eines langen Sommers ohne Angel, ohne Fahrrad. Er schnappte die Kiste und hastete zur Eingangstür. Im Vorübergehen warf er einen sehnsüchtigen Blick nach oben. Vielleicht gab es dort noch mehr Geheimnisse? Er musste noch einmal herkommen. Aber jetzt musste er sich beeilen.

Er kletterte durch die zerbrochene Tür hinaus in die Sommerhitze, die ihm wie eine Feuerwand entgegenschlug. Der Rückweg durch den Blättertunnel erschien ihm plötzlich sehr kurz. Und als er durch leere Straßen heimwärts raste, kam ihm der Tag gar nicht mehr so heiß vor.

2. Was macht der da?

Flip wischte den Schweiß von der Stirn und kauerte sich tiefer ins Gebüsch. Seit fast zwei Stunden lungerte er hier schon herum. Die Zweige kratzten. Seine Zunge klebte am Gaumen. Sein Magen knurrte. Was Patte wohl suchte? Das war doch nur ein dummes, altes Haus. Flips Vater hatte gesagt, dass es bald abgerissen würde. Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte er betont, wie verwildert, verfallen und gefährlich alles sei. Er musste es wissen, denn er war Notar. Flip wusste zwar nicht, was ein Notar mit einem alten Haus zu tun hatte. Aber das war auch egal. Viel mehr interessierte ihn, warum Patte an dieser Mauer herumkroch. Und vorher sein Fahrrad sorgfältig im Gebüsch versteckte.

Hätte er ihm folgen sollen? Nein, da drin gab es bestimmt Brennnesseln. Und Spinnen. Außerdem sollte es in dem Haus spuken. Flip schüttelte sich. Und überhaupt – wenn sein Vater sagte, dass es gefährlich sei, dann würde Flip sowieso nicht dorthin gehen. Nein, dachte er bei sich, wenn Papa das sagt, dann mache ich das nicht! Nein, er würde hier bleiben und warten, bis Patte zurückkam. So lange konnte das nicht mehr dauern. Dann würde er zu ihm rüberschlendern, so als käme er zufällig vorbei, und ganz lässig etwas sagen. „Hi, wie geht’s?“, zum Beispiel. Oder: „Na, du auch hier?“

Und wenn Patte nicht zurück kam?

Flip sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde würde er noch warten. Wenn Patte dann nicht zurück war, würde er so lange an der Mauer entlanglaufen, bis er ihn finden würde. Und wäre endlich sein Freund.

Auf der anderen Seite raschelte es. Patte! Seine Haare waren verstrubbelt, sein Shirt voller Flecken. Er hielt etwas in der Hand. Ein Buch? War er deswegen an dieser Mauer herumgekrochen? Hatte er dort ein Versteck?

Als Patte ganz nah am Gebüsch vorbeiging, fiel Sonnenlicht auf das Buch. Durch die Blätter konnte Flip etwas Goldenes erkennen. Es sah aus wie eine Zeichnung. Irgendwas verschnörkeltes.

Eigentlich hatte Flip etwas Witziges, Interessantes zu Patte sagen wollen. Doch jetzt kam es ihm dämlich vor, zufällig aus dem Gebüsch herauszukriechen. Stattdessen duckte er sich noch tiefer und beobachtete, wie Patte Gräser abschüttelte und seine Haare glattstrich. Einmal schaute er sich um, doch er schien Flip nicht zu sehen. Sorgfältig zurrte er das Buch auf dem Gepäckträger fest. Dann zog er sein Fahrrad aus dem Gebüsch, stieg auf und fuhr davon.

3. Die Fremdkörper

Peng! Die Tür flog ins Schloss. Patte warf die Kiste auf sein Bett und ließ sich daneben fallen. War ja klar, dass Mama meckerte. Er hatte es zwar bis genau sechzehn Uhr geschafft und Mama hatte zufrieden auf die Uhr geschaut, aber gleichzeitig hatte sie Meckergründe gefunden. Weil Patte sein Rad nicht ordentlich neben der Garage abstellte. Weil er seine Schuhe nicht ordentlich in den Schrank räumte. Weil sein T-Shirt nicht mehr ordentlich aussah. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie eines Tages meckerte, weil seine Haare nicht ordentlich nach unten wuchsen. Das erinnerte ihn an den Friseurtermin morgen. Er seufzte und drehte sich auf die Seite. Das Ding aus dem Holzmann-Haus lag wie ein Fremdkörper auf seiner Bettdecke, roch nach altem Staub und schimmeligem Holz.

„Patte an Fremdling: was machst Du hier?“ Er gab der Kiste einen Stoß. Sie rutschte nach unten und zog eine Dreckspur über den Bettbezug. Patte nahm sie in die Hand und schüttelte sie, drehte sie im Kreis, klopfte darauf, befühlte die Kanten, tastete den Boden ab.

Irgendwas war seltsam.

Er drehte sie noch einmal in den Händen. Da fiel es ihm auf: das Ding hatte einen Deckel, aber kein Schloss. Es war abgesperrt, ging aber nicht auf. Seltsam. Patte schnüffelte, als könne seine Nase einen geheimen Mechanismus ergründen. Er tastete alle Seiten ab. Wieder und wieder. Keine Frage: es gab kein Schloss. Diese Kiste hatte überhaupt nichts, womit man sie öffnen konnte. Sehr merkwürdig.

Ob er so lange draufhacken sollte, bis sie zerbrach? Das wäre eine Möglichkeit, aber keine Lösung, würde sein Mathelehrer sagen. Außerdem könnte er sie dann nicht mehr benutzen. Und wer weiß, wozu man sie noch brauchen konnte. Patte öffnete den Kleiderschrank und stopfte die Kiste ganz nach unten, tief unter die Eishockeyklamotten, die er ganz sicher nie mehr tragen würde. Dort würde seine Mutter sie nicht finden. Er legte sich wieder aufs Bett und angelte auf dem Regalbrett nach seinem Buch.

Harry Potter.

Höchst spannend.

Aber noch spannender war das Lesezeichen.

Er öffnete das Buch wie in Zeitlupe. Ein Foto segelte auf seine Brust. Er legte die Hand darauf, zögerte kurz und drehte es ganz langsam um. Vierundzwanzig Gesichter lachten in die Kamera. Eines strahlte ganz besonders. Rote Locken. Ein blaues Haarband.

Nina.

Ihr Lachen fiel aus dem Papier heraus direkt auf Patte. Er fühlte, wie er rot wurde. Schnell legte er das Foto ins Buch zurück. Für einen kurzen Moment schlich ein Bild in seinen Kopf, wie er mit Nina in einem Baumhaus saß. Vielleicht in der Eiche an der Holzmann-Mauer. Am liebsten hätte er sofort drauflos gebaut. Doch er musste Mama beim Abendessen helfen. Lasagne. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

Er stand auf und zog eine Schublade unter dem Bett hervor. Darin lag das Seil, das er vor zwei Wochen am Waldrand gefunden hatte. Es war lang und fest und genau richtig für Äste, Zweige und Baumhäuser.

„Patrick?“ Mama rief nach ihm.

Er warf das Seil zurück und schob die Schublade unters Bett.

„Patrick?“ Ihre Schritte kamen näher.

„Ja-ha!“

„Wir fangen jetzt an. Thomas kommt um sechs.“ Jetzt stand sie vor der Zimmertür. Mist. Er hatte gehofft, der Typ würde absagen. Pattes Magen ballte sich zur Faust, als er die Tür öffnete.

„Er bringt heute Jule mit.“

„Jule?“ Cool! Der Typ hatte einen Hund! Immerhin etwas!

„Seine Tochter. Sie ist in deinem Alter.“

Patte starrte seine Mutter an, als hätte sie ihm vorgeschlagen, die Lasagne mit Wirsingpampe zu füllen. Ein Thomas war schon genug. Jetzt kam noch eine Jule dazu.

Mama strich ihm über die Schulter. „Schau nicht so. Sie ist nett. Wirst schon sehen.“

„Hat er einen Hund?“

Mama sah überrascht aus. „Nein. Warum?“

„Ach. Nur so.“

Er drehte Mama den Rücken zu und sprang die Treppe hinunter. Vielleicht würde er die Lasagne versalzen. Vielleicht würde nach jedem Bissen rülpsen. Eines würde er nicht sein: nett.

Auf dem Küchentisch lagen Tomaten wie Billardkugeln verstreut. Patte nahm eine ins Visier. Sein Finger war der Queue und der Spalt zwischen Ölflasche und Zwiebeln das Loch. Die Tomate schoss direkt auf die Flasche, die mit einem Knall umfiel. Ein Ölsee breitete sich auf dem Tisch aus und tröpfelte auf den Boden.

„Patrick!“ Mama hielt ihm eine Küchenrolle hin.

Er wischte im Öl herum und warf die zerknüllten Tücher im hohen Bogen in den Papierkorb. „Tor!“

In der großen Pfanne brutzelten Zwiebeln und Hackfleisch. Pattes Magen knurrte.

„Mama?“ Er öffnete die Packung Lasagneblätter und schüttete den Inhalt quer über den Tisch. Seine Mutter schien ihn nicht zu hören.

„Mama?“

„Hm?“

„Sag mal … Thomas … kommt der jetzt öfter?“

„Das weiß ich noch nicht, Patte. Ich denke aber schon.“ Sie schaltete die Herdplatte aus.

 

„Und wann weißt du es?“

„Demnächst. Bald. Wir kennen uns noch nicht so gut.“

Das klang kompliziert. Patte wünschte sich, mit Mama allein zu sein. Sie schien es zu merken.

„Patrick, du … sei einfach nett zu den beiden, ja? Jule hat keine Mutter mehr. Armes Kind.“

Patte wollte erwidern, dass er keinen Vater hatte. Oder ihn zumindest nicht kannte. Doch er schwieg. Wenn er irgendetwas auf der Welt ganz bestimmt nicht sein wollte, dann ein armes Kind.

Als die Lasagne im Ofen war, verschwand Mama oben im Bad. Patte schaltete den Fernseher an. Doch mit seinen Gedanken war er weit fort. Er dachte an das Holzmann-Haus mit seinen einsamen Zimmern. An den Dschungelgarten. An das Ninalachen auf dem Klassenfoto. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie die Zeit verging.

Erst als Mama in seinen Haaren wuschelte, tauchte er wieder auf. Sie trug ein neues Kleid und roch nach Parfum. Ihr Typ hatte ein kariertes Hemd an. Sein Arm lag auf Mamas Schulter. Neben ihm stand ein dünnes Mädchen mit dünnen Zöpfen. Es streckte Patte die Hand hin. Patte berührte sie so kurz wie möglich.

„Das ist also Jule. Jule, das ist Patrick.“ Mama kicherte. Jule auch. Mama sah ganz anders aus als sonst. Nicht nur das Kleid. Auch ihre Augen waren anders. Dunkel und fremd.

Patte hatte auf einmal keinen Hunger mehr. Es war sowieso viel zu warm für Lasagne. Seine Hand in der Hosentasche ballte sich zur Faust. Er würde den ganzen Abend nichts sagen. Gar nichts.

Mama sah ihn an. „Holst du den Salat aus der Küche?“ Patte lief sofort los. Als er an den Esstisch zurückkam, saß Jule neben seinem Platz. Kaum hatte er sich hingesetzt, fing sie an zu quasseln.

„Was machst du in den Ferien am liebsten?“

Schweigen, dachte er und starrte auf die Lasagne, die auf seinem Teller lag und fabelhaft gut roch. Eigentlich hatte er doch Hunger. Und ein voller Mund war der beste Grund, nichts zu sagen.

„Also, ich lese am liebsten Bücher. Pferdebücher. Und du? Welche Bücher magst du?“ Jule sah ihn neugierig an. Patte hasste blöde Fragen. Und er hasste es, angeglotzt zu werden. Am meisten hasste er beides, wenn er aß.

Er schob einen Berg Lasagne in den Mund, drehte das Gesicht zu Jule und starrte sie mit prall gefüllten Wangen an. Jule senkte den Blick und schwieg.

Endlich.

Jetzt konnte Patte in Ruhe darüber nachdenken, wie er auf der Eiche saß und mit Nina in den Rotwald hinüber sah. Vielleicht würden sie gemeinsam das alte Haus erkunden. Millimeter für Millimeter. Vielleicht fanden sie noch mehr Kisten. Dann würden sie gemeinsam ein Kistenreich gründen.

„Patrick?“ Drei Gesichter sahen ihn an.

„Hm?“

Mama runzelte die Stirn. „Du sagst ja gar nichts?“

„Ich esse.“

„Aber dein Teller ist leer.“ Jule grinste.

„Logo. Weil ich esse. Im Gegensatz zu dir.“

„Patrick!“ Mama sah ihn warnend an. „Du musst-“

Thomas fiel ihr ins Wort. „Stimmt“, sagte er. „Julchen, du musst mehr essen.“ Er sah Patte an. „Sag mal, was machst du denn so den ganzen Tag in den Ferien?“

Schon wieder diese Frage. Warum war es so wichtig, was er den ganzen Tag machte?

„Hast du Lust, mit Jule etwas zu unternehmen?“

In Pattes Fantasie breitete sich die Vorstellung aus, wie Jule Pferdegeschichten vorlas. Während das Karohemd auf dem Sofa saß und Mamas Schultern anfasste. Ihm war plötzlich ganz heiß. Am liebsten hätte er „Nein! Scheiße!“ geschrien.

Stattdessen sagte er langsam: „Ich geh am liebsten angeln. Da steht man stundenlang in der Sonne und wird von Mücken gestochen.“ Er drehte sein Gesicht zu Jule. „Das macht dir bestimmt nichts aus?“

Das Mädchen verzog die Unterlippe. Im Augenwinkel sah Patte, wie Mama ihre Stirn rieb. Das machte sie immer, bevor sie etwas Vorwurfsvolles sagte. Das Karohemd legte seine Hand auf ihre.

Mama sah Thomas an. „Sollen wir noch etwas unternehmen? Spazieren gehen? Oder Kino?“

Das Hemd stand auf. „Ein anderes Mal, Susanne. Julchen muss jetzt nach Hause.“ Er beugte sich vor und flüsterte Pattes Mutter etwas ins Ohr. Patte hörte so etwas Ähnliches wie „Zeit“ und „lassen“. Sie nickte und sah plötzlich gar nicht mehr nach Vorwurf aus.

Patte atmete auf. Als seine Mutter mit den zwei Fremdkörpern nach draußen ging, rannte er hinauf in sein Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Er angelte noch einmal nach seinem Buch, klappte es aber nicht auf, sondern ließ seine Hand darauf liegen. Im Halbschlaf zuckte er noch einmal hoch, weil Jule ein Pferd aus der alten Kiste hervorzauberte. Dann fiel er in traumlosen Schlaf.