Der Graf

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Ein historischer Roman aus Lippe

Anne Bentkamp

Der Graf

Bernhard von Blomberg

Lippes letzter Ritter

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2012 by Lippe Verlag, Detmold

2. Auflage 2019, Ausgabe 2021

Dr. Hans Jacobs

Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

Foto Umschlag: Pixabay

IBSN 978-3-89918-815-8

Finanziell gefördert durch:

Sparkasse Blomberg

Heimatverein Blomberg

Bürgermeister Heinrich-Fritzemeier-Stiftung

Kapitel I

Anno Domini 1447

Sie starrten auf mindestens hundert Stufen, die in die Dunkelheit hinunterführten. Es gab kein Geländer. Die Stufen waren uneben, das Gestein schwarz, immer feuchter und rutschiger, je weiter sie nach unten kamen. Noch tief unter der Erde konnte man hören, wie der Rammbock rhythmisch und dumpf gegen das Burgtor schlug. Der Graf hielt die Fackel, der Knappe hastete hinter ihm her. Schließlich erreichten sie den Anfang des Tunnels. Die alte Tür war aus Eichenholz mit rostigen Beschlägen. Sie knarrte laut, als beide sie mit vereinter Kraft aufschoben. Eine Schar von Fledermäusen wurde durch den Lärm aufgescheucht. Im Tunnel war es feucht und stickig und viel enger, als der Graf es aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte.

Der Graf und der Knappe versuchten mit vereinten Kräften, die Tür zur Treppe hin wieder zu verschließen. Es gab einen verrosteten Riegel, der sich aber keinen Deut verschieben ließ. Der Graf drückte die Fackel dem Knappen in die Hand und schlug gegen das Eisen, schließlich fluchte er und trat mit dem Fuß, vergeblich, sie mussten die Tür offen lassen. Der Graf entriss die Fackel dem Knappen wieder und hastete voran, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie konnten nur hintereinander laufen. Der Knappe versuchte, den Anschluss nicht zu verlieren. Ratten huschten vor ihnen her und ab und zu hörten sie, dass etwas Gestein oder Erde herab bröckelte, wenn sie gerade vorbei waren. Falls der Tunnel irgendwo eingestürzt war, saßen sie in der Falle. Immer wieder mussten sie sich Spinnweben aus dem Gesicht wischen. Plötzlich stolperte der Graf über einen Stein, er verlor den Halt, der Knappe konnte sich nicht mehr abfangen und fiel über den Grafen, dabei verlosch die Fackel. Es war absolut finster. Der Knappe schrie nach der Mutter Gottes, dem Grafen zog es die Brust zusammen vor Angst, doch er fluchte laut und herrschte den Knappen an zu schweigen. Er rappelte sich hoch und tastete sich weiter voran. Der Knappe wimmerte, ihn nicht allein zu lassen. Der Graf suchte seine Hand und zog ihn hoch.

„Jetzt reiß dich zusammen, Walter!“

Der Junge, der doch nur zwei Jahre jünger war als der Graf, schniefte laut und biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht weinen zu müssen. Er war froh, dass der Graf seine Hand nicht losließ. So stolperten sie gemeinsam durch die totale Dunkelheit, schließlich krabbelten sie auf allen Vieren. Als der Graf mit der Hand in die Zähne einer halb verwesten Ratte fasste, klangen seine Flüche schon etwas zittrig und seine Stimme wollte sich überschlagen. Der Knappe hielt sich am Hemd des Grafen fest.

Endlich glaubten sie, so etwas wie einen Lichtschimmer zu erkennen. Der Graf flüsterte: „Jetzt dürfen wir keinen Laut mehr von uns geben, wer weiß, ob der Ausgang des Tunnels nicht längst verraten ist.“

Der Knappe schwieg. Sie tasteten sich noch vorsichtiger voran und lauschten, ob sich etwas regte. Der Tunnel endete mit einem sehr engen Durchlass im Fels, vor dem Nachthimmel erkannten sie Büsche, ein Dornengestrüpp. Ganz langsam drehte der Graf Kopf und Oberkörper nach draußen, immer gewärtig, im nächsten Moment einen fürchterlichen Schlag übergezogen zu bekommen.

Aber sie waren allein.

Durch die Dornen war fast kein Durchkommen. Der Ärmel des Grafen riss auf, der Arm blutete. Neben dem Gebüsch ließ sich der Knappe ins Gras fallen. Über der Stadt war ein heller Schein von brennenden Häusern zu sehen. Das Geschrei und Gegröle der wilden Söldnermeute war weit über das Tal zu hören.

„Und die Burg … , werden sie auch die Burg anzünden?“, fragte der Knappe leise.

„Los, weiter, wir müssen zu Hilpert“, sagte der Graf, „das Vorwerk ist zu gefährlich, da sind sie womöglich schon.“

Er zog den Knappen unsanft am Arm hoch und sie bahnten sich einen Weg durch das Gesträuch am Bach entlang. Dann liefen sie am Waldrand weiter den Hügel hinauf, bis sie auf den Weg zu den Holstenhöfen kamen. Der Knappe sah sich immer wieder zur Stadt Blomberg um, die ihm in den letzten Jahren zur Heimat geworden war. Die Burg bildete einen riesigen schwarzen Schatten vor den lodernden Flammen der Fachwerkhäuser. In der Burg selbst schien es noch nicht zu brennen, aber er meinte, die Stimmen der fremden Soldaten auch vom Burghof bis hierher her zu hören. Der Knappe seufzte, der Graf war schon weit voraus, er hastete ihm nach.

Hinter einem kleinen Wäldchen lag schemenhaft ein Gehöft in den Feldern. Als sie sich näherten, schlug der Hund an. Der Graf stürmte voran und klopfte mit voller Wucht an die Tür: „Hilpert, mach auf! Ich bin’s, der Graf!“

Einen Moment später hörten sie schlurfende Schritte. Verschlafen öffnete der Bauer im langen Hemd die Tür.

„Mein Gott, Hilpert, wie könnt ihr denn schlafen? Eine riesige Söldnermeute ist in der Stadt! Lauter Gesindel, barbarische Fremde, deren Sprache man nicht einmal versteht! Es sind Tausende, sie haben das Hagentor einfach überrannt! In der Burg sind sie wahrscheinlich auch schon! Siehst du nicht den Feuerschein über der Stadt? Schnell, Hilpert, ihr müsst hier weg! Am besten oben in den Wald, zieht euch an und packt möglichst viele Vorräte ein! Nehmt das Vieh mit, soweit es geht, die Fremden werden es sonst nur abschlachten. Sie sind gnadenlos, rasend! Ich weiß nicht, wie lange ihr versteckt bleiben müsst. Dein Pferd gibst du mir! Ich reite nach Schaumburg und hole Hilfe von meinem zukünftigen Schwiegervater. Möllenbeck ist sowieso schon dort. Ich komme so schnell wie möglich mit einer Truppe aus Schaumburg zurück, dann werden wir diese Lumpen hier rasch wieder vertreiben, habt keine Angst!“

Der Bauer kam gar nicht zu Wort. Die Frau und die Kinder, Magd und Knecht, alle liefen jetzt aufgeregt durcheinander. Hilpert holte das Pferd aus dem Stall und sattelte es. Der Graf griff nach einem einfachen braunen Umhang, der an der Wand hing.

„Den leih ich mir aus, Hilpert, kriegst einen neuen von mir!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, warf er sich den Umhang über, schwang sich in den Sattel, und während das schwerfällige Ackerpferd lostrabte, rief er zurück:

„Und Hilpert, nimm den Walter mit, den kann ich nicht brauchen, ich komme besser allein durch!“

Während der Bauer und seine Familie noch Vorräte auf einen kleinen Karren luden und die Ziegen mit Stricken aneinander banden, hatte der Graf den Waldrand schon erreicht. Als der Weg in Richtung Norden schmaler wurde, musste er bald absteigen, da ihm die Zweige ins Gesicht schlugen und das wenige Mondlicht vom Blätterdach ganz verschluckt wurde. Er nahm das Pferd beim Zügel und führte es blind den Hügel hinauf. So in etwa kannte er sich aus, weil er schon oft hier in der Gegend mit Möllenbeck auf der Jagd gewesen war. Er umging den Wachturm am Dicken Berg weiträumig, da er auch dort befürchten musste, auf die Söldner zu treffen. Je tiefer er auf dem schmalen Pfad in den Wald eindrang, je mehr machten sich Angst und Ratlosigkeit in ihm breit. Vielleicht hätte er doch nicht ganz allein gehen sollen? Aber Walter war keine wirkliche Hilfe, er war einfach noch zu jung, er wäre ihm nur zur Last gefallen.

Woher waren diese Heerscharen nur so überraschend gekommen? Gnadenlose Barbaren, die alles niederschlugen, Frauen schändeten und Kinder aufspießten! Niemals zuvor hatte der Graf sich solche Grausamkeiten auch nur ausmalen können. Keine Vorwarnung, kein Fehdebrief, keine Boten! Sie waren einfach über die Weser gekommen, Tausende, niemand konnte sie aufhalten. Eine Strafe Gottes? Er glaubte nicht an solche Schicksalsschläge. Eher schon steckte der Erzbischof von Köln dahinter, Dietrich von Moers, sein Großonkel. Aber wie hätte der so schnell ein solch großes Söldnerheer anwerben können, das noch dazu gar nicht von Köln, sondern von Osten über die Weser gekommen war?

Er fand einfach keine befriedigende Erklärung.

Immerhin, er hatte ihn herausgefordert, seinen verhassten Vormund und Onkel, und es tat ihm nicht leid. Oder doch? Was sollte das alles noch nützen, wenn das ganze Lipperland kurz und klein geschlagen wurde? Er hatte gerade seine nackte Haut gerettet, aber wie konnte er seinen Leuten helfen? Er allein? Er wusste nicht, was der Graf von Schaumburg sagen würde und inwieweit Hilfe von ihm zu erwarten war. Zwar grenzten die beiden Grafschaften aneinander, die Hochzeit mit der Tochter des Schaumburgers, Anna, war seit Jahren geplant und sein Ziehvater, der Kanzler Möllenbeck, hielt sich gerade jetzt dort in Schaumburg zum Aufsetzen eines Hochzeitsvertrages auf, aber im Grunde kannte man sich gar nicht. Würde sein zukünftiger Schwiegervater billigen, dass Möllenbeck und er eine Allianz mit dem Feind des Erzbischofs, dem Herzog von Kleve eingegangen waren?

***

Da standen sie auf der Treppe des Rathauses in Lippstadt, der Heimat seiner Väter, und nahmen die Huldigung des Rates und der Bürger der Stadt entgegen, der ehrwürdige Herzog Johann von Kleve und der neu ernannte Graf zur Lippe, Bernhard der VII, nicht einmal 18 Jahre alt. Der Platz war voller Menschen, die ihnen zujubelten in der Hoffnung, dass diese segensreiche Allianz stark genug sein würde, sie auf Dauer vor den Machtgelüsten des fernen Erzbischofs von Köln zu beschützen. Zuerst hatte sich die reiche Stadt Soest vom Erzbischof losgesagt, mit ihren über zehntausend Einwohnern die größte Stadt in Westfalen. Die Soester Bürger wollten nicht länger den überhöhten Abgabeforderungen der Kölner nachkommen und hatten den Herzog von Kleve um Hilfe gebeten. In Lippstadt wurde nun ein neuer Bund geschlossen. Gemeinsam mit den Lippern wollte der Herzog die Stadt Soest vor der Rache des Dietrich von Moers beschützen und gleichzeitig mit Gottes Hilfe den ganzen Landstrich von dem marodierenden Kriegsvolk des Erzbischofs befreien.

 

Der junge Graf hätte am liebsten mitgejubelt und „Vivat!“ geschrien, denn sein Großonkel und bisheriger Vormund, Dietrich von Moers, seit 30 Jahren Erzbischof von Köln und Bischof von Paderborn, war der Mann, den er von Kind auf hasste und verabscheute und vor dessen Übergriffen er sein kleines Land beschützen wollte, koste es, was es wolle. Er war jung und musste noch lernen, das wusste er. Dankbar und stolz schaute er zu seinem Ziehvater, seinem Kanzler Johann Möllenbeck, der bescheiden ganz beiseite getreten war, damit das Volk ihm, dem neuen Landesherrn, und seinem starken Verbündeten zujubeln konnte. Dabei war es nur Möllenbeck gewesen, der durch geschicktes Taktieren und in zähen Verhandlungen erreicht hatte, dass es bisher nicht zu Übergriffen des kriegswütigen Erzbischofs auf das Lipperland gekommen war und dessen berüchtigte Kopfsteuer, die er auf Mensch und Tier erhob, das Land nicht ausbluten ließ. Er, Möllenbeck, hatte auch diese mächtige Allianz mit Kleve geschmiedet, mit der sich nun alles zum Guten wenden sollte.

Möllenbeck hatte nicht nur mit diplomatischem Geschick das Land durch schwere Zeiten geführt, während er, Bernhard, heranwuchs, sondern er war auch sein Lehrmeister in allen ritterlichen Tugenden und in der Kriegskunst gewesen – der Graf warf ihm einen lächelnd dankbaren Blick zu, während sie dort auf der Treppe standen.

Sein sogenannter Vormund und Großonkel hingegen hatte nur Intrigen gegen ihn gesponnen und hätte am liebsten das ganze Lipperland in den hungrigen Schoß der Mutter Kirche hineingezogen. Seine erste Begegnung mit diesem kalten, herrschsüchtigen Mann stand ihm immer noch lebhaft vor Augen.

Nachdem sein Onkel Otto, der nach dem frühen Tode der Eltern zunächst die Vormundschaft für ihn und seinen jüngeren Bruder Simon übernommen hatte, ebenfalls verstorben war, unternahm Möllenbeck mit den beiden Kindern die weite Reise zu ihrem einzigen noch verbliebenen Verwandten nach Köln, um sie dem Erzbischof, ihrem neuen Vormund, vorzustellen.

***

Als Siebenjähriger hatte Bernhard noch nie eine solche Pracht gesehen. Er bestaunte die riesige Marmortreppe, die Leuchter und Heiligenstatuen und die wunderschönen Glasfenster, die alles in ein buntes Licht tauchten.

Der Warteraum, in den sie gebeten wurden, war größer und viel prächtiger als der Rittersaal in der Burg Blomberg, hell getünchte Wände waren mit Malereien von Heiligen und golddurchwirkten Gobelins geschmückt, riesige Teppiche bedeckten den Boden und es gab Kronleuchter mit so vielen Kerzen, dass Bernhard sie nicht zählen konnte.

Am meisten beeindruckt war er von einer lebensgroßen Figur aus dunklem Holz, die einen der heiligen drei Könige als Mohren darstellte und in einer Schale Leckereien darbot. Leider erlaubte Möllenbeck ihnen nicht, davon zu probieren.

Dann wurden sie zum Erzbischof eingelassen. Dessen Gesicht war viereckig und sehr blass, die Augen schmal. Über seinem roten Bischofsornat trug er ein Kettenhemd und darüber prangte ein goldenes Kreuz mit Edelsteinen verziert. Hochmütig gelangweilt sah er den Ankömmlingen entgegen. Möllenbeck ging mit gesenktem Blick durch den Saal auf die Stufen vor dem Thron zu, die beiden Kinder Hand in Hand hinter ihm her.

Dietrich von Moers bot Möllenbeck als erstem die Hand, der sie tief verbeugt annahm und den Bischofsring küsste. Dann war die Reihe an Bernhard, der versuchte, Möllenbecks Geste so gut es ging nachzuahmen. Nur der kleine Simon hatte sich selbständig gemacht und wanderte neugierig im Saal umher.

Dietrichs Blick wurde hart und böse. Mit erneut nach unten gestreckter Hand herrschte er Möllenbeck mit leiser, aber messerscharfer Stimme an: „Das Kind!“

„Verzeihung, Euer Eminenz!“, Möllenbeck verbeugte sich erneut, fing schnell Simon ein und brachte ihn vor den Erzbischof.

„Verbeug dich vor Seiner Eminenz, Simon!“

Der Kleine verbeugte sich artig, machte aber keine Anstalten, den Ring an der noch immer ausgestreckten Hand zu küssen.

„Du musst den Ring Seiner Eminenz küssen“, flüsterte Möllenbeck. Simon schaute zu ihm hoch und schüttelte den Kopf.

Da zischte Dietrich mit ganz schmalen Augen: „Den Ring!“ Nun schaute Simon ihn unverständig an und schüttelte erneut den Kopf. Blitzschnell packte der Erzbischof das Kind mit seiner Linken am Nacken, zwang es zu einer weiteren Verbeugung und drückte ihm die rechte Hand mit dem scharfkantigen Edelstein so fest auf den Mund, dass hellrotes Blut von Simons Lippe tropfte. Sofort fing der Kleine an zu weinen.

Nicht etwa wütend, sondern völlig emotionslos mit monotoner Stimme sagte Dietrich: „Diesen Ring hat jeder zu küssen, der vor den Erzbischof tritt. Schafft mir das Kind weg, Möllenbeck, es macht zu viel Lärm.“

***

Als der Morgen graute, sah der Graf den Flecken Alverdissen vor sich liegen. Züngelnde Flammen schlugen aus den Strohdächern und dicke Rauchschwaden hingen über dem Tal. Der Graf schluckte. Es drängte ihn, einfach mit dem bloßen Messer auf die Barbaren loszustürmen, aber er zwang sich zur Ruhe. Er beschloss, seinen Weg erst in der Dunkelheit fortzusetzen. Er ließ das Pferd noch eine Weile am Waldrand grasen und zog es dann tief ins Unterholz. Bald fand er ein kleines Rinnsal, an dem er seinen Durst stillen konnte, und nachdem er dem Bächlein eine Weile gefolgt war, entdeckte er eine nicht einsehbare Stelle in einer Schlucht, die genug Platz für ihn und das Pferd bot. Er band das Pferd sorgfältig fest und fiel in einen tiefen Schlaf, kaum dass er sich niedergelegt hatte.

Im Traum traf er im Kampf in voller Rüstung auf einem edlen gepanzerten Pferd auf den Erzbischof. Er stieß ihn mit der Lanze aus dem Sattel und schlug dem einst so stolzen Mann, der da wehrlos vor ihm auf dem Boden lag, ohne Erbarmen mit seinem Schwert den Kopf ab.

***

Der Graf erwachte erst am späten Nachmittag. Er erfrischte sich an dem kleinen Bach. Einzelne Sonnenstrahlen drangen durch das Blätterdach und tanzten auf dem sprudelnden Wasser. So dunkel blühte der Flieder, dass die Blüten im schattigen Grün kaum sichtbar waren. Umso intensiver nahm er den Duft wahr, der ihn wie eine Wolke von unbestimmter Sehnsucht umhüllte. Er atmete tief und Sorgen und Wut und Krieg schienen so fern. Das Bild des Mädchens im blauen Kleid, da war es wieder, da tanzte sie vor ihm auf dem Pfad, ihre Locken tanzten mit. Er hörte ihr helles Lachen, ganz deutlich. Er würde sie wiedersehen, bald, trotz Fehden und Kämpfen und der bevorstehenden Hochzeit, er würde sie wiedersehen.

Als er wieder zum Waldrand kam, lag Alverdissen still vor ihm, die Häuser eingestürzt und rußgeschwärzt. Erst in der Dämmerung wagte er es, sich zu nähern. Auf einer Wiese zählte er fünfzehn tote Schafe. Es herrschte eine gespenstische Ruhe, nur hier und da ein Knacken in vereinzelten Glutnestern oder überhitzten Balken.

Er zog einen großen Schweineknochen aus einer heruntergebrannten Feuerstelle und schlug ihn an einem Stein auf. Gierig sog er an dem Mark, was den Hunger in ihm aber eher weckte als besänftigte.

Da bemerkte er die Frau. Sie hockte vor einem der verbrannten Häuser auf der Erde. Ihr Kleid war zerrissen und in den wirren Haaren klebte Blut. Sie hatte ein Bündel im Arm, das sie fest umklammert hielt. Als er näher kam, sah er, dass es ein Säugling war. Die Tücher, in die das Kind gewickelt war, waren von Staub und Ruß geschwärzt, der Kopf war unnatürlich zur Seite verdreht, die Augen weit aufgerissen und leer. Die Frau wiegte das Kind sanft und streichelte ihm über das bleiche Gesicht.

Der Graf band das Pferd an einen Baum und ging auf die Frau zu. Sie sah ihn nicht und zeigte auch keine Reaktion, als er sanft ihre Schulter berührte. In den Trümmern eines der umliegenden Häuser fand er eine noch brauchbare Schaufel. Am Rand der zerstörten Gartenmauer hob er ein kleines Grab aus. Dann kniete er sich vor die Frau hin und streckte stumm die Arme nach dem Kind aus. Die Zeit schien ihm sehr lang, bis sie ihn endlich ansah und ihm zögernd das Bündel übergab. Als er sich mit dem toten Kind erhob, folgte sie ihm. Er schloss dem Kind die Augen und legte es in die provisorische Vertiefung. Die Frau half ihm mit bloßen Händen, Erde über den Körper zu decken. Zum Schluss formten sie gemeinsam aus den herumliegenden Steinen der Gartenmauer ein kleines Kreuz. Das Gesicht der Frau war immer noch ausdruckslos, der Blick leer. Der Graf sprach ganz leise ein Gebet:

„Requiem aeternam dona eis, Domine.

Et lux perpetua luceat eis.

Requiescat in pace … Ruhe in Frieden.

Amen.“

Die letzten Worte sprachen ihre Lippen mit.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Der Mond war über dem Wald aufgegangen.

Schließlich sagte er: „Ich muss gehen.“

Die Frau sagte nichts. Das Pferd hatte sich selbständig gemacht und graste auf einer Wiese zwischen den Ruinen. Er fing es ein und schwang sich in den Sattel. Erst jetzt erkannte er im helleren Mondlicht, dass an der Dorflinde auf dem Platz drei Menschenleiber aufgeknüpft waren, zwei Männer und eine Frau. Ihn schauderte. Nun fand er gar keine Worte mehr für die einsame Frau. Er lenkte sein Pferd auf den Weg und grüßte nur kurz mit der Hand. Die Frau stand steif und erst, als er schon fast wieder im Wald auf der anderen Seite des Tals verschwunden war, erhob sich ihre Hand zu einem Winken.

Der Graf ritt ein Stück auf dem Weg, der nach Rinteln führte, aber er fühlte sich nicht sicher. Immer wieder sah er Gestalten in den Schatten, die das Mondlicht warf, und hörte Pferdegetrappel, doch sowie er sein Pferd anhielt, umgab ihn die Stille. Als der Wald etwas lichter wurde, entschloss er sich, den Weg lieber zu verlassen. Zu groß war die Gefahr, sich unvermittelt einer Schar der Söldner gegenüber zu sehen. Er saß ab und zog das Pferd durch das Unterholz. Auf dem Kamm der Hügelkette fand er einen Pfad, der recht gut ausgetreten war. Teilweise konnte er sogar aufsitzen und das Pferd ging willig im Mondschein. Er hielt sich parallel zum Extertal und hoffte, die Richtung nach Norden weiterhin einzuhalten. Mit etwas Glück musste er bald den Flecken Bösingfeld vor sich sehen.

Das Pferd trottete langsam und die Gedanken des Grafen wanderten wieder zu seinem Schwiegervater. Als mutigen Ritter hatte er diesen bisher nicht kennengelernt. Er war ihm zwei oder drei Mal bei einer großen Jagd begegnet. Da war er ihm behäbig und langweilig erschienen, ein beleibter alter Herr, der zwar ein Auge für die Schönheiten von Gottes Natur hatte, aber an der Jagd nicht wirklich interessiert war. Er ritt zur Jagd, ohne ein Jäger zu sein. Das konnte der Graf nicht verstehen. Seit er mit Möllenbeck zum ersten Mal ein Tier erlegt hatte, war diese Spannung in ihm, dieses Fieber, der Zwang, schneller, leiser und listiger zu sein als ein Tier, der Zwang, das Jagdglück immer wieder herauszufordern …

Im Moment allerdings war eher er der Gejagte …

War da nicht etwas? Zum wiederholten Male meinte er, ein Geräusch vernommen zu haben. Er saß ab und lauschte angestrengt. Vorsichtig ging er mit dem Pferd am Zügel weiter. Der laue Wind trug ihm aus der Ferne Rufe zu und einen Knall wie der Schuss aus einer Feuerwaffe. Da sah er sie unten im Tal: ein riesiges Lager der fremden Söldner mit Dutzenden von großen Feuern, an denen Schweine und Schafe an langen Spießen gegart wurden. Er schätzte sie auf mindestens zweihundert Mann, auch Frauen waren dabei, die laut kreischend lachten. Das Beste wäre ohne Zweifel, sich möglichst schnell davon zu machen. Aber der Graf blieb wie angewurzelt stehen. Was konnte er ausrichten? Allein gegen diese Meute? Er musste nach Schaumburg! Aber er rührte sich nicht vom Fleck. Er glaubte, am Bach auf einer umzäunten Weide viele Tiere zu erkennen, wahrscheinlich die Allmende von Bösingfeld. Einige Kühe liefen unruhig hin und her, waren wohl durch den Schuss aufgeschreckt, ihr angstvolles Muhen wurde vom Wind zu ihm heraufgetragen. Sicher eine halbe Stunde stand er dort oben und beobachtete das Lager. Die Stimmen wurden langsam leiser, die Feuer kleiner. Die Tiere auf dem Anger hatten sich längst wieder beruhigt. Der Graf fasste einen Entschluss und führte Hilperts Pferd am Zügel den Pfad hinab bis nach Bösingfeld. Auch hier schlug ihm wieder Brandgeruch entgegen, der das Dorf schützende Hag war an vielen Stellen angebrannt oder niedergewalzt, die Gärten zertrampelt, die Dächer zerstört. Der Graf seufzte, er irrte eine Zeitlang durch die Gassen des Dorfes, fand dann trotz der Dunkelheit den Weg am Bach entlang.

 

Magisch zog ihn das Lager der Fremden an. Er hätte am Morgen noch die Weser erreichen können und wäre bald auf dem anderen Ufer in Sicherheit gewesen. Er hätte Kanzler Möllenbeck und den Grafen von Schaumburg treffen und mit ihnen beraten können, was zu tun sei. Stattdessen trieb er sich auf einem breiten Talweg Richtung Süden herum, auf dem ihm in jedem Moment ein mehr oder weniger betrunkener, auf jeden Fall bewaffneter Söldner entgegentreten musste. Ohne zu wissen, was er ausrichten konnte gegen diese riesige Truppe, ging er ihnen Schritt für Schritt entgegen. Als er meinte, sich etwa auf halber Strecke zwischen dem Dorf und dem Lager zu befinden, band er das Pferd an einen Baum, sprach ihm gut zu und schlich allein weiter. Durch die Bäume sah er den Widerschein der erlöschenden Feuer. Da schlug er sich ins Unterholz und folgte dem Weg in einigem Abstand, dabei auf der Hut, möglichst kein Geräusch zu verursachen.

Er roch die Wachen, bevor er sie sah. Der enorme Bierdunst ließ darauf schließen, dass sie zumindest einiges von dem kühlen Nass einfach verschüttet hatten. Sie lehnten direkt an dem Gatter zum Anger und schnarchten leise, hinter ihnen ihre langen Spieße. Der Graf zog sein Messer und ohne weiter zu überlegen, stach er es dem Ersten direkt in die Herzgegend. Der Wächter öffnete mit erstauntem Blick die Augen, griff nach dem Knauf des Messers und wollte mit seinen Lippen noch eine Frage formen. Da aber sank er in sich zusammen. Der Graf spürte das pulsierende warme Blut an seiner Hand, als er das Messer wieder herauszog. Der zweite Wächter war erwacht, obwohl kein Laut zu hören gewesen war. Der Graf war bei ihm, bevor er schreien konnte. Es schien ein leichtes Spiel, der Mann war betrunken, sehr unsicher in seinen Bewegungen. Dennoch gelang es dem Grafen nicht, ihm mit einem einzigen Streich die Kehle durchzuschneiden. Der Wächter röchelte laut, sie rangen ein paar Sekunden, die dem Grafen wie eine Ewigkeit vorkamen, aber endlich gelang ihm doch der entscheidende Messerstich in den Hals. Auch der zweite Mann kippte zur Seite und rührte sich nicht mehr.

Der Graf setzte sich zwischen die beiden Toten und strich sich die Locken, die an der Stirn klebten, mit dem Ärmel aus dem Gesicht.

Als er wieder zu Atem gekommen war, öffnete er das Gatter weit. Wo waren die Pferde? Wenn er zumindest die Pferde entführen könnte, wäre das schon ein gelungener Schlag gegen die Söldner. Hatte er nicht von oben auch Pferde ausgemacht? Er musste sich beeilen! Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und erhellte den Anger. Und dann wollte er seinen Augen nicht trauen. Am Bach stand eine Gruppe von mehr als einem Dutzend der edelsten Rösser beisammen, hoch gewachsen, mit schlanken Fesseln, eines Ritters würdig. Einer der Hengste schien gerade seine Witterung aufgenommen zu haben und schaute ihm aufmerksam entgegen. Der Graf näherte sich vorsichtig und sprach leise und beruhigend auf das Tier ein. Der Hengst ließ zu, dass er ihn am Hals und an der Flanke tätschelte. In diesem Augenblick bekam der Graf einen fürchterlichen Schlag über den Schädel und verlor die Besinnung.

Als er wieder zu sich kam, hing er hilflos in den Armen zweier Soldaten, die ihn über einen dunklen Weg schleppten. Trotz des dröhnenden Kopfschmerzes versuchte er, sich zu befreien, war aber viel zu benommen und im Nu hatten sie ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt und zwangen ihn, weiter zu laufen.

Sie schleppten ihn vor einen Hauptmann, der mit bloßem Oberkörper vor einem der Feuer saß. Ein massiger Mann, vielleicht fünfzig Jahre alt. Er war glatzköpfig, dafür wurde das Gesicht ganz von einem grauen Bart eingenommen. Der Bauch quoll über den Gürtel und die Füße steckten in hohen, ledernen Stulpenstiefeln.

„Herr Hauptmann, mit Verlaub“, erstattete der eine Söldner Bericht, während der andere dem Grafen sein Schwert vor den Hals hielt, „diesen Burschen hier haben wir bei der Allmende aufgegriffen. Wir sollten doch Henke und Dietz ablösen. Die beiden fanden wir erstochen am Gatter in ihrem Blute und dieser hier …“, sie schoben den Grafen näher ans Feuer, damit der Hauptmann ihn richtig sehen konnte, „… der wollte gerade die Pferde stehlen, hatte das Gatter schon weit geöffnet und machte sich an den Ritterpferden zu schaffen!“

„So, so, ein Bauernlümmel, der hier nachts herumschleicht?“

Der Hauptmann hatte einen eigentümlichen Dialekt mit scharfem, rollendem R, wie ihn der Graf noch nie zuvor vernommen hatte.

„Und wo ist das Messer, das ihr ihm habt abgenommen?“

Widerstrebend fingerte der zweite Söldner in seiner zerlumpten Kleidung und übergab das Messer des Grafen dem Hauptmann. Dieser prüfte mit dem Daumen die Schärfe und steckte es zufrieden in seinen Gürtel. Dann winkte er einem Dritten:

„Voicek, nimm ein paar Männer und such Gegend ab, möchte nicht noch mehr Überraschungen erleben. Und nun zu dir …“, der Hauptmann erhob sich mühsam und kam auf den Grafen zu.

„Möchtest gern Abenteuer erleben? Hättest du dich besser uns angeschlossen, ein mutiger Kerl, den können wir immer gebrauchen, hättest du einen guten Söldner abgegeben! Der Erzbischof hat reiche Beute versprochen! Schade drum, aber bei Pferdediebstahl kennen meine Männer keinen Spaß, haben wir doch die Tiere gerade erst selbst kon-fis-zierrrt!“

Die Männer am Feuer brachen in lautes Gelächter aus.

„Ein Seil!“, rief der Hauptmann, „Dort an dem einzelnen Baum am Wege, dort knüpft ihn auf, damit die Dorfbewohner morgen sehen, dass wir mit Viehdieben und Mördern kurzen Prozess machen!“

Immer mehr Söldner drängten sich neugierig heran, froh um die unerwartete Abwechslung am späten Abend. Die Frauen ließen ihre Töpfe an den Feuerstellen im Stich, auch sie wollten einen Blick auf den Eindringling werfen. Eine drängte sich durch die Menge vor bis zum Hauptmann, der gleich besitzergreifend den Arm um sie legte.

„Sieh nur, schöne Susanna, hübscher Bursche, leider kann ich ihn dir nicht schenken, die Männer wollen ihn hängen, musst mit mir Vorlieb nehmen!“

Die Söldner brüllten vor Lachen, als er ihr einen solchen Klaps auf den Hintern gab, dass sie drei Schritte auf den Grafen zu stolperte.

Der Graf lächelte sie über das Schwert vor seinem Hals hin an. Im Schein der Lagerfeuer leuchtete ihr dunkelrotes, langes Haar. Eine vollbusige Schönheit, nicht mehr ganz jung, aber wohlproportioniert. Ihre Röcke waren so zerrissen, dass man leicht einen Blick auf ihre schönen Beine werfen konnte, wenn sie sich bewegte.

In dem Moment öffnete sich eins der etwas abseits stehenden Zelte und ein junger Mann trat heraus, den man der Kleidung nach nicht ohne weiteres in einem Söldnerlager erwartet hätte.

Der grün-weiß gestreifte weite Mantel aus edlem Samt flatterte im Wind, als er schnellen Schrittes auf den Kreis der Gaffer zukam. Die Männer ließen ihn ohne zu murren durch und gerade, als man Bernhard unter den freistehenden Baum gezerrt hatte, rief der junge Edelmann:

„Haltet ein, ich glaube, ich kenne den Mann.“

Bernhard drehte sich um und erkannte Jürgen Spiegel zu Peckelsheim, einen Landadeligen jenseits der südlichen Grenze des Lipperlandes, Vasall des Grafen von Waldeck. Er war verwirrt. Offensichtlich war Spiegel kein Gefangener der Söldner. Was verschlug ihn hierher?