Die Geschichte der Elster

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Die Geschichte der Elster
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Anna Schilasky

DIE GESCHICHTE DER ELSTER

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Covergestaltung Milan Ziebula

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Geschichte der Elster

Als es für sie noch einen Beruf gab, der für andere nützlich war, hatte die Leserin Dinge getan, an die sie sich kaum noch erinnern konnte. Sie wusste nur, dass es langweilig und ermüdend gewesen war und sie von der Lautstärke und Größe anderer Menschen umringt. Es war um Bücher gegangen, die verkauft werden sollten, leider war es ihr nur selten gelungen. Dies hatte dann dazu geführt, dass sie gekündigt worden war.

Der Verkäuferinnenjob war ihr letzter gewesen. Von nun an wurde sie regelmäßig von einer Frau ins Arbeitsamt eingeladen, die nett zu ihr war, weil sie ihr immer aufmerksam zuhörte. Dies brachte sie auf den Gedanken, von jetzt an nur noch Dinge zu tun, die ihre volle Aufmerksamkeit erforderten. Sie überlegte, was sie aus ihrem früheren Leben übernehmen könnte. Es war nicht viel, lediglich die Struktur. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf und schrieb ihren letzten Traum auf. An gewöhnlichen Tagen enthielten ihre Träume Splitter und Fetzen aus ihrem früheren Leben. Es kamen darin Männer und Kinder vor, die sie längst verlassen hatten oder die sie verlassen hatte. In diesen Träumen wusste sie, dass sie träumte, da es in ihnen nicht so hell und alles ein wenig verschwommen war. Außerdem gelang es ihr nie, in diesen Träumen das Licht anzumachen.

An besonderen Tagen jedoch träumte sie immer vom Fliegen. Dann stand sie auf der Dachterrasse ihrer Wohnung, machte ein paar Schritte und befand sich schon schwebend über dem Innenhof. Sie wusste, dass die anderen Menschen sie so nicht sehen konnten und dass ihr Zustand völlig ungefährlich war. So nutzte sie es aus und wurde neugierig. Zunächst zoomte sie sich an die Fenster ihrer Nachbarn heran und blickte in deren Fenster hinein. Erstaunlicherweise konnte sie durch Gardinen, Jalousien und Rollos hindurchblicken.

Heute erblickte sie ihren Nachbarn, der jeden Abend laut in sein Handy schrie, still, nackt und betrübt in seinem Bad. Er stand dort leicht gebeugt vor einem großen Spiegel und hatte den Kopf auf die Brust gesenkt, kratzte sich dort, wandte den Kopf zum Fenster hin, schaute ihr geradewegs in die Augen, aber durch sie hindurch. Das erschien ihr gruselig, ihr war nun klar, dass sie träumte und er sie nicht sehen konnte. Sie war erstaunt, dass er so korpulent und behaart an Brust und Beinen war und so ein kleines Geschlechtsteil hatte. Dann sah sie, wie Tränen über sein Gesicht liefen. Sie fühlte sich hilflos und beschloss, woanders hineinzuschauen.

Am neugierigsten war sie auf die Leute, die über ihr wohnten. Dort waren laute Rufe und Geräusche zu hören. Sie sah einen kleinen Jungen, der sich, in eine Decke gewickelt, über den Boden rollte. Nun wusste sie endlich, was dieses häufige Knarzen auf den Dielen über ihrer Wohnung zu bedeuten hatte. Als er zum Fenster schaute, hatte sie für einen Moment den Eindruck, dass er sie sah. Aber das konnte gar nicht sein. Sie beschloss, aufzuwachen und den Traum aufzuschreiben.

Als sie aufwachte, war es genau fünf Uhr wie zu der Zeit, als sie noch Bücher zu verkaufen versuchte. Damit war sie sehr zufrieden. Während sie den Traum aufschrieb, stellte sie fest, dass es im Haus noch still war. Anschließend braute sie sich einen Mocca in einem kleinen türkischen Kupferkännchen. Sie wusste, dass sie sich diesen Mocca nicht mehr lange würde leisten können, da sie kaum Geld hatte. Deshalb genoss sie dieses Ritual ausführlich und rührte sehr lange, ließ den Mocca mehrfach aufschäumen, ehe sie ihn in den Becher goss.

Dann drehte sie sich eine Zigarette, rauchte sie aber nicht, da sie damit aufgehört hatte, seit sie nicht mehr auf Arbeit ging. Sie legte die Selbstgedrehte zu den anderen auf den Tisch und stellte fest, dass es schon ganz schön viele waren. Für alle Fälle, dachte sie, falls ich mal wieder arbeiten muss.

Nun wäre es an der Reihe gewesen, ihre E-Mails zu checken, doch ihr Telefon- und Internetanschluss war bereits seit Wochen abgeklemmt. Sie klappte nur den Deckel ihres Laptops hoch und gleich wieder runter. In den ersten Tagen hatte sie den Computer noch hochfahren lassen.

Dann ging sie in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Das Brot war alle, die Bananen waren alle, im Kühlschrank lag noch eine angefangene Tube Ketchup. Seit sie nicht mehr rauchte, hatte sie morgens Hunger. Da sie die Wohnung noch etwas länger halten wollte, ging sie einmal in der Woche zur Tafel. Das nächste Mal würde erst morgen sein. Sie beschloss, zum ersten Mal in ihrem Leben zu stehlen. Brot. Eigentlich würde das ganz einfach sein. Oft war sie in den Bäckerladen gegangen, um mit der Bäckersfrau zu schwatzen, ohne etwas zu kaufen. Wenn sie kurz nach halb sieben ginge, wäre der Laden leer. Die Bäckersfrau wäre zu dieser Zeit meistens hinten, um Ware auszuräumen. Sie hängte sich die Satteltasche vom Fahrrad über die Schulter, es würde überhaupt nicht auffallen.

Der Laden war leer, sie schnappte sich ein kleines rundes Brot und warf es in die Satteltasche. Vor lauter Anspannung musste sie lachen. Die Bäckersfrau kam vor und fing auch an zu lachen. Da sah sie an sich herunter und stellte fest, dass sie noch ihren Schlafanzug anhatte. Irgendwie kommt grade alles richtig durcheinander, dachte sie. Zum Glück war es ein dunkelblauer Männerschlafanzug. Immerhin hatte sie Straßenschuhe an. „Es tut mir leid“, sagte sie. Und dachte: Das ist der erste Mensch, mit dem ich seit Tagen gesprochen habe.

„Was?“, fragte die Frau.

„Ich habe kein Geld mit“, antwortete sie und erwartete, mit dem gestohlenen Brot erwischt zu werden.

„Ein kleines Rundes?“, fragte die Frau und griff nach dem Brot ins Regal. „Geben Sie mir das Geld ein andermal. Wir kennen uns doch.“ Sie steckte das zweite Brot ein. „Es tut mir leid, dass ich gelacht habe“, sagte die Frau. „Aber der Schlafanzug. Ist etwas passiert?“

„Ja, danke für das Brot“, sagte sie und ging.

Zurück in der Wohnung legte sie beide Brote nebeneinander auf den Tisch. Sie schnitt sich von jedem einen Kanten ab, aß und trank dazu ein Glas Wasser. Als sie sich die Zähne geputzt und geduscht hatte, fühlte sich alles an wie immer.

Auf dem Esstisch neben den Broten lagen verschiedene Bücher, die sie sich gestern Abend ausgesucht hatte. Sie nahm drei davon und steckte sie in die Fahrradtasche. Für den Rest des Jahres hatte sie noch die Jahreskarte für den Zug, der sie immer in die Stadt gebracht hatte, in der sie Verkäuferin gewesen war. Also konnte sie noch bis zum Ende des Jahres weiter Zug fahren. Sie stieg in dieser Stadt aus und auf der anderen Seite in den nächsten Regionalzug wieder ein, der nach Hause fuhr, und so fort bis zum Abend, an dem sie in den Zug um 18 : 36 Uhr stieg, mit dem sie auch früher von der Arbeit nach Hause gefahren war.

Peinlich war das nur, wenn sie im Zug ehemalige Kolleginnen traf. Weil sie doch in ihrem Job nicht gerade gut gewesen war. Sie fragten dann auch: „Was machst du in diesem Zug?“ Oder: „Hast du einen neuen Job?“ Manchmal behaupteten sie auch, sie sähe gut oder schlecht aus, so, wie sie sich selbst gerade fühlten, schien ihr. Wenn sie ihre früheren Kolleginnen im Zug traf, stellte sie sich die auf ihrem Stubentisch aufgereihten selbst gedrehten Zigaretten vor und, dass sie sich jetzt gleich eine im Zug anzünden würde, und fühlte sich dann besser.

Am liebsten hatte sie es, wenn sie keine und keiner erkannte. Dann fühlte sie sich wie eine wahrhaftige Verweigerung und hatte das Gefühl, endlich einmal machen zu können, was sie wollte. Weshalb sie dafür noch eine Struktur brauchte, war ihr nicht so ganz klar. Aber vielleicht würde sich ja auch das noch geben. Sie wollte endlich frei sein von irgendwelchen Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen und nicht immer Erfolg haben müssen.

Auch ihre Freundinnen, mit denen sie sich lieber seit Längerem schon nicht mehr traf, hatten immer von nützlichen Dingen erzählt. Sie wusste nicht so genau, ob sie überhaupt noch Freundinnen hatte. Sie waren ihr so fremd mit ihrem jämmerlichen Mitleid und guten Ratschlägen vorgekommen. Nachdem sie: „Keinen Mann, keinen Job und das Kind kommt auch auf keinen grünen Zweig, das ist kein Leben, du Ärmste!“, gehört hatte, stellte sie fest, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Sie winkte einfach nur und ging. Sie war nicht einmal wütend, eher erleichtert. Als dann auch das Telefon abgestellt worden war, blieben auch die Einladungen zu üppigen Abendessen aus. Das war ihr egal, sie wollte sowieso kein Fleisch mehr essen.

Sie fuhr mit dem Rad zu ihrem Zug um 7 : 41 Uhr und wartete geduldig mit den anderen Reisenden auf den regelmäßig verspäteten Regionalzug. Sie liebte die alten Regionalzüge, sie waren so unvollkommen, außen rot und innen verdreckt. Sie liebte es schon, wenn die Bremsen beim Einfahren entsetzlich quietschten. Sie setzte sich immer ins Fahrradabteil und blockierte so manchmal den Platz für weitere Fahrräder. Das war ihr egal, Hauptsache, sie musste nicht in den Abteilen sitzen, wo die Menschen schon morgens viel redeten.

 

Das mit dem Reden war überhaupt so eine Sache. Ihr war aufgefallen, dass sie inzwischen nur noch mit der Bäckersfrau sprechen konnte, deren Namen sie nicht einmal kannte. Ihren Sohn hatte sie schon seit Längerem nicht mehr angerufen.

Sie hatte sich im Fahrradabteil gleich auf mehreren Sitzen breitgemacht und die Beine hochgelegt. Damit der Schaffner sie deshalb nicht maßregeln würde, hatte sie sich große Kopfhörer aufgesetzt. Natürlich hörte sie keine Musik, aber es war besser so, so musste sie nicht einmal ihre Jahreskarte herauskramen, der Schaffner winkte nur und ging weiter. Ihr fiel ein, dass sie das im nächsten Jahr auch so machen könnte, und sie war erleichtert. Man vertraute ihr, sie war fünfzehn Jahre auf dieser Strecke gefahren. Es würde keine zeitliche Begrenzung für solch ein Leben geben.

In den ersten Wochen ihrer Berufslosigkeit hatte sie nur aus dem Zugfenster geschaut, den ganzen Tag, weil sie sich für keines der drei ausgewählten Bücher hatte entscheiden können. Da nicht immer die gleichen Schaffner im Zug waren, war es auch nicht aufgefallen, dass sie den ganzen Tag unterwegs war. Alles, was sie jetzt noch hatte, waren Bücher, Zeit und diese Jahreskarte.

Jetzt war sie so weit, dass sie mit geschlossenen Augen in die Fahrradtasche greifen und ein Buch herausziehen konnte. Manchmal las sie aber auch nicht, dachte nach und träumte. Sie war vollkommen glücklich. Sie wusste, die Frau auf dem Arbeitsamt würde noch eine Weile Geduld mit ihr haben. Sie wusste auch, dass sie eines Tages wieder ihre Freundinnen anrufen und mit ihnen sprechen würde, ja, sie stellte sich vor, wie sie ihnen die Meinung sagen würde über ihr blödes Mitleid. Sie würde ihnen erzählen, dass sie davor und danach nie glücklicher gewesen war als gerade jetzt. In einer Zeit, in der es nicht darauf ankam.

Sie dachte an die Geheimnisse, die sie hatte. Daran, dass ihr Männer immer ein wenig fremd geblieben waren und es ihr nicht leidtat, sich getrennt zu haben. Dass sie stolz auf ihren Sohn war, weil er machte, was er wollte, und nicht immer nach dem Ziel fragte. Dass sie Frauen viel schöner fand als Männer, vor allem eine. Dass sie eigentlich keine Verkäuferin sein wollte, sondern Leserin. Dass sie, wenn alles so weiterging, nächstes Jahr mit der Jahreskarte Beschiss machen würde. Sie dachte, dass sie alles der Bäckersfrau erzählen würde, wenn sie zu Hause war, auch das mit dem gestohlenen Brot.

Eines Tages hatte sie die Frau auf dem anderen Bahnsteig bemerkt, die genauso wie sie fast um die gleiche Zeit, jedoch nur in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Es war, als schaute sie in einen Spiegel, obwohl ihr schon klar war, dass sie ihr überhaupt nicht ähnlich sah. Sie konnte nicht sagen, weshalb dieser Eindruck entstanden war. Vielleicht waren es nur ihre Bewegungen. Manchmal bildete sie sich ein, dass die andere auch zu ihr sehen würde, war sich an anderen Tagen jedoch völlig sicher, dass diese sie nicht wahrnahm. Sie bekam immer mehr Lust, dieser Frau einfach nur zuzusehen, wie diese langsam auf und ab ging. Sie stellte sich ihre Stimme vor: Bestimmt war sie höher als ihre eigene und sehr klar. Sie beobachtete, wie die Frau auf dem anderen Bahnsteig manchmal zu Leuten ging, mit diesen sprach und dann weiterschlenderte. Es waren meistens Leute mit Fahrrädern, einmal borgte sie sich eine Luftpumpe. Sie stellte sich vor, dass die andere ebenso wie sie den ganzen Tag hin und her fuhr.

Diese Frau gefiel ihr ungemein. Sie war sehr schmal und trug recht unspektakuläre Kleidung, die manchmal viel zu groß zu sein schien. Manchmal, so fand sie, passten nicht einmal die Farben zueinander. Es kam ihr so vor, als seien dieser Frau die Anziehsachen völlig egal, und sie begann sich über sich selbst zu wundern. Wieso war es ihr immer so wichtig gewesen, dass die Stoffteile, die sie auf dem Körper trug, perfekt zueinander passten? Diese Frau da drüben schien Röcke nicht zu mögen. Sie hatte sehr lange Haare.

Heute Morgen – und dies hatte sie völlig durcheinandergebracht – hatte sie ihr wie zum Abschied zugewunken, bevor ihre jeweiligen Züge kurz nacheinander eingefahren waren. Sie fühlte eine Mischung aus Erschrockensein und Freude. Sie hatte sich immer eingebildet, die andere würde sie nicht bemerken, und jetzt das.

Jetzt saß sie im Zug und stellte sich vor, wie die andere mit in diesem Abteil säße und sie ihr vorläse. Sie begann laut zu lesen. Da bemerkte sie, dass ein paar Sitze entfernt von ihr jemand saß, der Schaffner. Er grinste. Offenbar hatte er die ganze Zeit zugehört.

„Ich übe für eine Lesung“, sagte sie.

„Es gefällt mir, Sie schreiben schöne Geschichten“, erwiderte er. „Sonst hören Sie ja immer Musik.“

Sie nickte. „Aber es sind nicht meine Geschichten.“

„Na egal, mir gefallen sie trotzdem.“

Als sie ihre Jahreskarte herausholen wollte, winkte er nur ab.

Ich frage mich manchmal, was mit der Frau in der letzten Zeit los ist, die häufig zum Schwatzen in meinen Laden kommt. Sie sieht so aus wie eine, die sich was ganz Tolles vornimmt und es dann trotzdem nicht macht. Es kommen viele Leute einfach nur zum Reden in den Laden, kaufen nur ein kleines Gebäck und bleiben dann lange. Es macht mir Spaß, direkte Fragen zu stellen und auch gestellt zu bekommen. Bei dieser Frau jedoch nicht. Da warte ich immer ab, bis sie von sich aus erzählt. Viel habe ich noch nicht erfahren. Dass sie allein lebt und offenbar dafür bezahlt wird, den ganzen Tag mit der Regionalbahn zu fahren. Das ist mir ein Rätsel. Ist sie so eine, die Befragungen im Zug macht? Die vorsichtige Frage, ob sie eine Zugbegleiterin sei, hat sie schon verneint.

Eines Morgens schien sie völlig durcheinander zu sein. Da hatte sie noch ihren Schlafanzug an, als sie den Bäckerladen betrat. Manchmal fühle ich mich selbst so verloren. Dann tue ich noch so, als sei alles in Ordnung, und bin geschwätzig. Vielleicht ist meine Schwatzhaftigkeit auch eine Tarnung? Mein Problem ist, dass ich es nicht aushalten kann, allein zu sein. Ich bleibe immer extra lange im Laden, weil ich nicht nach Hause gehen will, wo sowieso keiner ist. Außerdem liebe ich den Geruch der frischen Brote. Heute Morgen hat die Frau – nennen wir sie einfach die Frau mit dem blauen Schlafanzug – lange an dem Brot gerochen. Das hat mir sehr gefallen, da ich das hinten, wenn ich die Ware ausräume, auch oft heimlich mache.

Den Wecker musste sie nicht mehr stellen. Sie wachte nun immer kurz vor fünf Uhr auf. So konnte sie sich ihre Träume auch besser merken. Manchmal waren es Katastrophenträume von Zügen, die ihr vor der Nase wegfuhren oder bei denen alle Türen mit jenen gelben Zetteln beklebt waren, dass diese Zugtüren defekt seien, und sie rannte am noch stehenden Zug entlang und hoffte, eine intakte Tür zu finden, aber vergeblich. Die Leute in den Abteilen blickten erstaunt durch die schmutzigen Scheiben ihrer Eile nach, der Zug rollte an und sie blieb allein zurück. Sie schaute dann zum anderen Bahnsteig hinüber und sah die Frau, sie winkte ihr zu. Dann wachte sie jedes Mal auf.

Ein andermal war sie in einem stockfinsteren Labyrinth gefangen, konnte sich nur an den glatten dunklen Wänden entlangtasten und es schien, als wüchsen die Wände dicht an sie heran, so dicht, dass sie sich kaum noch hindurchzwängen konnte. Sie versuchte den Lichtschalter zu finden, auch das vergeblich.

Noch ein anderes Mal war ein großes Flugzeug abgestürzt und begann vor ihren Augen zu schrumpfen, je näher es auf sie zufiel. Sie wusste, es würde genau vor ihr aufkommen. Sie streckte die Arme weit nach vorn wie zum Auffangen eines Balles und fing ein kleines, verkohltes, schwarzes Holzflugzeug auf, das mit der Berührung ihrer Finger zu zerbröseln begann.

Heute jedoch war sie selbst geflogen, hoch über der eigenen Stadt. Zunächst sah sie unter sich das rote Dach ihres Hauses, unterließ es aber, diesmal hinunter und dicht an die Fenster zu fliegen, obwohl sie nun wusste, dass niemand sie sehen konnte. Sie flog hinüber zur Bahnstrecke und sah gerade den roten Doppelstockzug einfahren, mit dem sie jeden Morgen unterwegs war. Schade, dachte sie noch, heute habe ich meinen Zug verpasst.

Sie flog dichter an den Bahnhof heran, um die Bahnsteige besser überblicken zu können. Sofort erkannte sie die Frau vom gegenüberliegenden Bahnsteig, die dort ganz allein mit ihrem Fahrrad stand und auf ihren Zug wartete. Sie begann, sich in Gedanken mit ihr zu unterhalten, stellte ihr Fragen und beschloss, ihr einen Brief zu schreiben. Normalerweise endeten ihre Träume vom Fliegen immer damit, dass sie irgendwo landete. Diesmal landete sie auf dem begrünten Flachdach eines Hauses gleich gegenüber vom Bahnhof und der Traum war nicht zu Ende. Sie wollte gern der wartenden Frau zusehen, die ihr so gefiel. Dies ging ja nun wirklich nur im Traum. Erfreut glaubte sie, zu bemerken, dass die andere mit den Blicken den gegenüberliegenden Bahnsteig absuchte. „Mein Zug ist doch schon längst weg!“, rief sie. Sie hörte ihre eigene Stimme im Traum und erschrak. Aber die andere hörte nicht auf, hin und her zu schauen und schob schließlich ihr Fahrrad in den Fahrstuhl.

Sie beschloss nun, der anderen lieber keine Fragen zu stellen. Vielleicht würde sie sich morgen auf den falschen Bahnsteig stellen, mit dem falschen Zug in die verkehrte Richtung fahren, sich wie zufällig neben sie setzen und sich mit ihr verabreden. Wenn man es darauf anlegte, ergaben sich immer Gespräche mit anderen Bahnreisenden. Sie würde sich etwas ausdenken müssen, wohin sie führe.

Aber das war jetzt ihr geringstes Problem. Ihr Traum hielt sie fest und sie kam nicht vom Dach herunter. Zum Glück hatte sie selbst im Traum immer Schreibzeug dabei, klappte ihr Notizbuch auf und begann zu schreiben. Als sie sich kurz über den Rand des Flachdachs beugte, sah sie die andere unten vorbeiradeln, dicht gefolgt von einem anderen Fahrrad, und begann sich schon auf den nächsten Morgen zu freuen.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, sie sei verliebt. Na ja. Jeden Morgen kommt sie mit diesem entrückten Blick in den Laden und überlegt mir einfach zu lange, bevor sie mir Antwort gibt, was sie will. Das Geld für das Brot hat sie auch vergessen. Halb so wild. Manchmal geschehen mit den Leuten verrückte Dinge. Ich hoffe nur, es ist was Gutes.

Das mit ihrer Tochter, oder besser, ihrem Sohn, hat sie mir schon angedeutet. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll und ich verstehe nichts von solchen Dingen. Aber eins ist schon einmal klar: Das Kind wird es schwer haben. Ich habe mich gar nicht getraut zu fragen, ob sich das Kind jetzt operieren lässt. Ich habe von solchen Sachen gehört. Ich will es mir gar nicht vorstellen. Ich kenne nur das Mädchen, als Junge habe ich ihr Kind noch nicht gesehen. Er habe kurze Haare und heiße jetzt Valentin. Ich hätte selbst auch gern Kinder gehabt. Aber ich weiß nicht, ob ich so etwas gekonnt hätte.

Sie blickte ihr noch eine ganze Weile nach, wie sie davonradelte. Die andere fuhr langsam und schlenkerte ein wenig beim Fahren. Das Rad war viel zu groß für die kleine Frau, ein Herrenrad, wie sie jetzt sah, mit riesigen Lenkern. Sie fühlte sich restlos ruhig und glücklich, als sie der anderen nachblickte.

Sie schrieb: „Liebe Unbekannte.“ – Sollte sie „liebe“ schreiben, wenn sie sie doch gar nicht kannte? Egal, sie würde erst einmal den Brief schreiben und ihr den Brief nicht geben müssen. Sie würde in den falschen Zug steigen, für den sie dann eine Fahrkarte brauchte, und sie würde sich zu ihr ins Abteil setzen. Und dann würde sich alles wie von selbst ergeben.

Daraufhin begann sie in ihr Notizbuch zu schreiben, alles verschwamm vor ihren Augen und sie wusste nun, dass der Traum zu Ende ging.

Viele Leute behaupten, transidente Menschen fühlten sich im falschen Körper. Das trifft für mich nicht zu. Als ich den Artikel für die „Zeit“ geschrieben habe, habe ich viel Leserpost bekommen. Es gab Leute, die mir Glück wünschten, auch bei meinen Plänen, das Studium fortzusetzen. Manche Leute haben verständnislos reagiert. Transidente Menschen fühlten sich im falschen Körper und basta. Ich bin immer noch verärgert darüber.

Mit meiner Mutter stimmt zurzeit etwas nicht, aber sie hat mir versichert, dass es nichts mit mir zu tun hätte. Sie kommt mir ziemlich durcheinander vor und weniger aufmerksam mir gegenüber. Das habe ich ihr auch gesagt. Als es mir so schlecht ging und ich auch nicht mehr in die Uni gehen konnte, hat sie mich oft besucht und mir lange zugehört. Ich glaube nicht, dass sie alles verstanden hat. Sie hat gesagt, dass ich sein könne, wie ich sein wolle, und jetzt eine Studienpause machen solle.

 

Das habe ich dann auch getan und mich anschließend für ein paar Wochen bei ihr aufgehalten. Dort konnte ich lange und tief schlafen und musste nicht weiter mit meinen Freunden über meine Identität diskutieren. Ich habe mich gefühlt, als sei ich viel jünger, ein kleines Kind noch. Manchmal habe ich dann laut geschrien und zum Schluss gesungen. Damals hatte sie noch ihre Arbeit und wenn sie dann spät kam, habe ich ihr einige Male eine Szene gemacht, dass sie schon immer so wenig Zeit für mich gehabt habe und während meiner ganzen Kindheit so oft so spät von der Arbeit gekommen sei. Sie hat versucht sich zu rechtfertigen, ich habe ihr nicht richtig zugehört und dann haben wir beide jedes Mal geheult. Schließlich habe ich beschlossen, meinen Vater in Texas zu besuchen. Natürlich war sie nicht begeistert, aber was sollte sie machen.

Ich war dann für eine längere Zeit in Amerika und während dieser Zeit hat sie ihren Job verloren. Seitdem ist sie so verändert. Ich kann nicht glauben, dass es ihr jetzt besser geht, doch sie behauptet es. Aber ich kann es ja selbst nicht leiden, wenn andere Menschen immer alles besser wissen, wie ich mich fühlen müsste in einer bestimmten Situation.

Manchmal fand ich meine Mutter echt nervig. Wenn sie unendlich viel geplappert hat und sich bei keinem Spiel die Regeln merken konnte. Ihre grässlichen Brennnesselsuppen und vor allem ihre ständige Überbesorgtheit. Als ich bereits volljährig war, hat sie mir doch tatsächlich verbieten wollen, dass ich trampe! Als Kind hatte ich manchmal das Gefühl, sie sähe mich mit ihren großen Mutteraugen überall und beobachtete, was ich so mache. Inzwischen scheint sie so mit sich selbst beschäftigt zu sein, dass sie gar nicht dazu kommt, sich ständig um mich zu sorgen. Eigentlich eine gute Sache, wenn nicht ich mir jetzt Gedanken über sie machen müsste.

Als sie aufwachte, fiel ihr Blick auf das Notizbuch, das aufgeschlagen neben der Matratze auf dem Boden lag. Von oben konnte sie den Briefanfang lesen. Das ist nicht wahr, dachte sie, ich habe das doch nur geträumt. Und als so die Grenzen zwischen Traum und Tag verschwammen, wollte sie an wichtige Dinge denken, sich vergewissern, wie spät es war und welcher Wochentag. Sie glaubte, dass alles aus der Ordnung geriete, sobald sie einen Tag ausließe, vergäße. Es war kurz nach fünf Uhr, immerhin. Sie hatte, seitdem sie arbeitslos war, das Gefühl, die Zeit dehne sich. Und selbst die Tatsache, dass sie bemüht war, jedem Tag die vordem übliche Struktur zu geben, minderte nicht dieses Gefühl der Zeitausdehnung. Sie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Das Leben wurde länger, verlief wie in Zeitlupe, auch die schönen Dinge.

Da fiel ihr ein, dass sie heute unbedingt ihren Sohn anrufen musste. Das könnte sie auch vom Münztelefon am Bahnhof aus machen. Sie hatte keinen neuen Job gefunden, auch nicht aushilfsweise. Er müsste seinen Bafögantrag neu stellen, sie könnte ihm kein Geld mehr geben. Das war der einzige Grund, weshalb sie es bedauerte, ihren früheren Job nicht mehr zu haben. Ansonsten glaubte sie, gut auf solche Jobs verzichten zu können. Sie spürte, dass sie eine Pause bräuchte, bevor sie etwas Neues anfinge, und eigentlich wollte sie nicht mehr länger etwas tun, was ihr überhaupt keinen Spaß machte.

Als sie die Frau auf dem Arbeitsamt nach einer Umschulung gefragt hatte, hatte diese nur den Kopf geschüttelt. Sie habe einen guten Beruf, in dem man auch Arbeit fände. Bis jetzt war es ihr jedes Mal gelungen, bei allen Vorstellungsgesprächen einen so unvorteilhaften Eindruck zu machen, dass sie nicht genommen wurde. Sie hatte zu große und nicht zueinander passende Kleidung getragen und kaum gesprochen.

Heute war kein Vorstellungsgespräch und sie konnte Zug fahren. Sie packte nur ein Buch ein für alle Fälle. Heute würde sie in die andere Richtung fahren. Sie griff nach ihrem Notizbuch und las den Brief. Wann immer sie den auch geschrieben hatte, war ihr jetzt egal. Sie war überrascht, wie klar sie ihre eigenen Gefühle benannte und was sie der anderen alles mitzuteilen hatte. All das würde ihr heute wohl kaum über die Lippen kommen. Trotzdem, sie freute sich.

Sie radelte ein wenig eher los, da sie für den falschen Zug noch eine Fahrkarte brauchte. Als sie auf den Bahnhof kam, war es dort ganz still. Keine Menschen. Auf beiden Gleisen standen rote Doppelstockzüge. Auf allen Türen klebten von innen jene gelben Zettel. Sie ging auf beiden Bahnsteigen an beiden Zügen entlang, als müsse sie eine verschlüsselte Botschaft entziffern. Doch es stand immer dasselbe drauf. Es waren keine Menschen in den Zügen, niemand, nichts, kein Geräusch. Sie wusste nicht so recht, was sie jetzt tun sollte, und beschloss, erst einmal abzuwarten.

Sie stellte fest, dass sie verschlafen hatte. Es war bereits nach neun Uhr. Es war ganz still. Sie lauschte, ob sie über sich in der Wohnung das Hüpfen des Kindes auf den Dielen hören könnte, aber nichts, nicht einmal ein leises Knarzen. Sie musste sich darauf besinnen, welcher Wochentag heute war, was sie vorhaben würde. Vorstellungsgespräch, die Tafel oder Zugfahrt? Da fiel es ihr wieder ein. Natürlich, sie hatte ihren Zug verpasst. Oder besser: den Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis. So musste sie ihr Vorhaben verschieben. Sie blätterte die letzte beschriebene Seite ihres Notizbuches auf. Ein Eintrag von vorgestern. Was war mit dem gestrigen Tag?

Sie beschloss, ihre Wohnung aufzuräumen und zu säubern. Da gab es nicht viel. Sie hatte fast alle Möbel ihrem letzten Freund überlassen. Hier lag noch eine Matratze auf dem Boden mitten im Raum, dahinten standen ein kleiner runder Tisch, zwei Stühle, das Klavier. An den Wänden lehnten Büchertürme, auf dem Boden ragten Bücherinseln, ihre Kleidungsstücke lagen in zwei großen offenen Körben. Zunächst begann sie die Bücherinseln an die Wände zu schieben, nahm jedes Buch einzeln in die Hand und packte es auf einen der Stapel an der Wand.

Sie bekam Hunger und schaute in den Kühlschrank. Ein fast leer gegessener Joghurt und sonst nichts. Ein Haufen Bücher und nichts zu essen, dachte sie. Das Brot war auch alle, ebenso der Mocca. Sie trank ein Glas Wasser, griff nach einer Selbstgedrehten auf dem Tisch. Wenn sie rauchen würde, hätte sie keinen Hunger mehr, das wusste sie. Auch, dass sich eine alleinstehende arbeitslose Frau keine Wohnung leisten konnte, die fast sechzig Quadratmeter groß war und eine riesige Dachterrasse hatte.

Sie trat auf den Balkon hinaus und rauchte. Blickte in den fast wolkenlosen Himmel. Sah einen roten Ballon mit unkenntlicher Aufschrift, an dem eine lange Schnur baumelte mit kleinen runden Dingern dran. Sie stellte sich vor, dass sie ein Fernglas hätte, um zu sehen, was an der Schnur baumelte. Sie zoomte ihren Blick dicht heran und erkannte, dass es ein dickes Seil war, auf das kleine runde Brote wie Perlen aufgefädelt waren. Aber ja, natürlich, dachte sie, die Brotkette. Sie stellte sich vor, dass das letzte Brot vom Seil herabrutschte und auf ihren Balkon fiel, direkt vor ihre Füße. Das Brot baumelte aber immer noch da oben, es würde eine Weile brauchen bis zu ihr. Außerdem schien es, als flöge der Ballon höher.

Es war mild, windstill und warm. Hinter ihr klapperte es leise. Sie wandte sich um und sah, wie sich eine Elster an einem losen Dachziegel zu schaffen machte. Sie schien sich nicht daran zu stören, dass hier eine Frau stand. Na, so was, dachte sie, ganz schön zahm. Irgendwas versteckt dieser Vogel doch.

Sie war immer noch müde, daher holte sie sich die Decke aus der Stube, wickelte sich darin ein und legte sich auf den Balkon. Bevor sie die Augen schloss, sah sie ein winziges rotes Pünktchen genau über ihrem Kopf schweben. Als sie die Augen geschlossen hatte, zerfloss es zu einem rötlichen Strahlenkranz, der ihre Stirn wärmte.

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