Juniluft

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Juniluft
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Anna Kosak

Juniluft

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Impressum neobooks

Kapitel 1

Lily schwitzte. Als sie sich mit der Hand über die Schläfe wischte, schimmerten Schweißperlen auf ihrer Fingerspitze. Verstohlen warf sie einen Blick auf Camilla. Lily beneidete ihre Freundin darum, stets erfrischt und sauber zu erscheinen, als kenne sie das Wort Hitze oder Schweiß noch nicht einmal. Ein leichter Duft ging von ihr aus, ähnlich dem frisch gewaschener Wäsche. Lily zupfte verstohlen an ihrer Bluse. Ob man wohl riechen konnte, wie heiß ihr war?

Camilla bemerkte die Unruhe ihrer Freundin und drückte sacht deren Hand. Lily seufzte innerlich. Selbst Camillas Hand fühlte sich angenehm kühl an.

Der Pfarrer redete immer noch. Trotz der Mittagssonne, die auf seine Glatze schien, hielt er seine Rede und es schien nicht, als ob er bald zum Ende kommen würde.

Vor Lilys Augen begannen die Konturen zu zerfließen. Flirrend stand die Hitze über dem Friedhof und ließ die dunkle Figur des Pfarrers verschwimmen. Sie konnte einen Schweißtropfen spüren, der sich zwischen ihren Brüsten bildete und dann das Dekolleté hinunter lief. Sehr viel länger würde sie das nicht durchhalten.

„Milla?“, wisperte sie ihr zu. „Ich kann langsam nicht mehr!“

„Es ist gleich vorbei“, beruhigte Camilla sie. „Da, der Pfarrer spricht den abschließenden Segensspruch.“

Tatsächlich bewegten sich jetzt die Leute vor ihnen und traten einer nach dem anderen an das Grab.

„Milla, lass uns gehen!“

„Was?“

„Ich kann nicht. Ich halte das nicht aus, vor ans Grab zu gehen! Bitte!“ Lilys Tonfall hatte etwas Flehendes angenommen. „Lass uns jetzt gehen!“

Camilla sah die aufgerissenen Augen ihrer besten Freundin, den feinen Schweißfilm, der sich auf der Oberlippe gebildet hatte, die ganze Unruhe, die sie ausströmte. Camilla nickte.

„Also gut, lass uns gehen.“

Georg Jasper beobachtete die zwei Frauen, wie sie sich von der Gruppe entfernten, und langsam den Weg hinab gingen, vom Grab weg und auf den Ausgang zu. Die eine, mit den lockigen blonden Haaren und dem teuer aussehenden Kostüm, ergriff den Arm ihrer Begleiterin und schien sich regelrecht an ihr festzuhalten.

Als sie sich ins Auto setzte, war es immer noch warm. Der Mai war so gut wie vorbei und legte die Messlatte in Sachen Sommerhitze für seine Nachfolger sehr hoch. Camilla fuhr die Fenster herunter und genoss den kühlen Fahrtwind. Als sie das Ortschild passierte und Richtung Autobahn einbog, merkte sie, wie sehr ihr Herz immer noch raste. Die Anspannung fiel erst langsam von ihr ab. Die selbstsichere und distanzierte Fassade, die sie nach außen trug und mit den Jahren perfektioniert hatte, bröckelte jetzt. Mit jedem Meter, den sie zwischen sich und ihre Heimatgemeinde brachte, beruhigte sie sich mehr.

Lily trat auf den Balkon hinaus und zündete sich eine Zigarette an. Es war eine von Camillas dünnen Tabakstängeln, die mehr einem Accessoire als einer Zigarette glichen. Während sie rauchte, blickte sie auf das Feld, das sich hinter dem Haus ausbreitete, und lauschte den abendlichen Tiergeräuschen und dem fernen Summen der Autobahn.

Camilla war jetzt sicherlich bald zu Hause. Wie gerne würde sie, Lily, jetzt auch in die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung fahren, die sie seit einem Jahr bewohnte. Dort hätte sie sich ein Glas Wein gegönnt, eine Kleinigkeit gegessen und diesen Tag dann aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Tatsächlich würde sie aber die Nacht bei ihrer Mutter verbringen, im kleinen Gästezimmer am Ende des Flurs, und erst morgen Mittag abreisen.

Lily drückte die Zigarette aus und zündete sich noch eine an. Diese Dinger waren wirklich schwach, kaum zu vergleichen mit denen, die sie sonst rauchte.

Im Haus konnte sie ihre Mutter rumoren hören. Trotz ihrer siebzig Jahre war Shannon Delevigne noch sehr rüstig und, wie ihr Hausarzt zu sagen pflegte, kerngesund. Lily erinnerte sich noch an die Zeit kurz nach dem Tod ihres Vaters: Die ersten zwei Tage nach seinem tödlichen Schlaganfall hatte Shannon Delevigne nur im Bett verbracht. Am dritten Tag war sie aufgestanden, hatte sich geduscht und angezogen, ihre fünfzehnjährige Tochter ins Auto gepackt und war mit ihr ans Meer gefahren.

Von plötzlicher Zuneigung erfüllt, drückte Lily die Zigarette aus und ging wieder hinein. Fast freute sie sich auf den Abend zu Hause.

Kapitel 2

„Wir würden gerne nochmal den zwölften Juni rekonstruieren“, begann Georg Jasper. „Bitte schildern Sie uns den Tag aus Ihrer Sicht.“

„Das habe ich doch bereits hunderte Male getan!“

„Bitte, Frau Delevigne.“

Lily seufzte und verschränkte die Hände im Schoß. Der Kommissar wartete.

„Also. Ich bin um sechzehn Uhr, also eher sechzehnuhrfünfzehn, von der Schule nach Hause gekommen. Dann habe ich auf André gewartet, der mich gegen… ja, gegen siebzehn Uhr abholen wollte. Er kam aber nicht.“ Sie sprach ruhig, die Finger hatte sie jedoch immer noch im Schoß verkrampft. „André tauchte also nicht auf und hinterhertelefonieren wollte ich ihm aus Stolz auch nicht. Da das Wetter immer schlechter wurde, bin ich daheim geblieben.“

„Sie haben also den ganzen Abend das Haus nicht mehr verlassen!? Sind auch nicht zum Wigands Fels hoch, wo er vielleicht auf Sie hätte warten können?“

„Nein“, antwortete sie entschieden. „Meine Mutter kann das bezeugen.“

Als sie aus der Mittagspause zurückkam, stapelten sich auf Camillas Schreibtisch bereits die Notizen ihrer Assistentin. Rasch sah sie alles durch und noch bevor sie sich am Computer wieder angemeldet hatte, kam Laurent herein.

Laurent Gainsbourg war der Museumleiter und durch die nun bereits zweijährige Zusammenarbeit hatte Camilla eine große Abneigung gegen ihn entwickelt.

„Na, Kollegin?“ Er grinste breit und ließ sich in den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. „Ausgiebig Mittagspause gemacht?“

Sie antwortete kühl:

„Ich wüsste nicht, was Sie meine Mittagspause angeht.“

Er grinste immer noch und lümmelte sich tiefer in den Stuhl. Er machte Camilla aggressiv. Etwas zu heftig haute sie ihr Passwort in die Tasten.

„Womit kann ich Ihnen dienen, Laurent?“

„Oh, da fiele mir eine ganze Menge ein“, sagte er anzüglich, wurde dann jedoch geschäftlich und beugte sich vor. „Hat Heidegger sich bereits zur zweiten Statue geäußert?“

„Sie meinen die Muse Thalia?“ Camilla kontrollierte sicherheitshalber ihre E-Mails. „Nein, bisher noch nicht. Hat er Ihnen auch nichts geschickt?“

„Kein Sterbenswörtchen.“

„Mist.“

Laurent zählte an den Fingern auf:

„Wir brauchen die Zusage für die Muse, wir müssen den Transport der anderen Statue noch klären und die Verträge sind auch noch nicht fertig! Plus“, seine finstere Mine hellte sich auf, „wir müssen natürlich noch Vasen begutachten!“

Camilla runzelte die Stirn.

„Ich dachte, das hätte Lydia bereits getan?“

Lydia Koch war eine der Gutachterinnen des Museums. Eigentlich hatte sie die für die Ausstellung wichtigen Vasen untersuchen sollen, welche Heidegger, ein privater Sammler, dem Museum zur Verfügung stellte.

„Lydia ist krankgeschrieben und deshalb werden wir beide, Signorina Weiss, zusammen nach Rom fahren und dort mit Marco alle Leihgaben von Heidegger abwickeln!“

Camilla verdrehte innerlich die Augen. Eine Reise? Jederzeit gerne! Zusammenarbeit mit dem italienischen Gutachter Marco Renzi? Super! Eine Reise mit Laurent Gainsbourg? Grauenhaft! Eine Reise mit Laurent Gainsbourg zu dem eingebildeten Gecken Franz Heidegger? Ein Albtraum!

Sie schaffte es, ihren Kollegen hinaus zu bugsieren, ohne sich eine Klage wegen Körperverletzung einzuhandeln. Als das Telefon klingelte, meldete sie sich recht unwirsch.

 

„Weiss!?“

„Milla? Hier ist Lily.“

Beim Klang der Stimme ihrer besten Freundin entspannte sie sich unwillkürlich.

„Hallo Liebes, wie geht‘s dir?“

Lily schien ein Mal tief durchzuatmen.

„Die Polizei war gerade bei mir.“

Georg Jasper rieb sich nachdenklich über die Stirn. Vor ihm lag sein Notizblock, darauf seine kleine, an Fliegenfüßchen erinnernde Handschrift.

„Kaffee?“

Köster hielt ihm die Kanne hin. Dankend lehnte Jasper ab. Bei der Hitze war es ihm ein Rätsel, wie sein Kollege auch noch heißen, viel zu starken Kaffee trinken konnte.

„Es ist mir ein Rätsel, wie Sie bei so einer Hitze auch noch heißen Kaffee trinken können!“, sprach es Kochalski, der andere Kollege, laut aus.

„Was war Ihr Eindruck von Elke Meyer?“, fragte Jasper ihn.

Falko Kochalski, ein fähiger Kriminalbeamter von vierzig Jahren, mit dem Jasper bereits in vergangenen Fällen zusammen gearbeitet hatte, dachte kurz nach und kratzte sich am Kopf.

„Die Nachbarin? Hm… Waschweib. Tratscht gerne. Aber nicht unehrlich! Die typische Sorte älterer Hausfrau, die gerne und gut ihre Nachbarn beobachtet und bewertet. Aber nicht unbedingt bösartig, auf ihre Weise war sie mir ganz sympathisch.“

„Hab‘ mir übrigens mal den vorläufigen Bericht der Spurensicherung angeschaut“, brummte Gustav Köster aus der Ecke. „Des is‘ Mord.“

„Das ist bisher nur eine Vermutung. Die Pathologie ist noch zu keiner endgültigen Aussage gekommen!“, begehrte Kochalski auf.

„Ich muss ihm leider zustimmen, Gustav“, sagte Jasper. „Er könnte auch am Sturz gestorben sein. Bei dem Abhang nicht ganz unrealistisch. Und wenn nicht, könnte es auch nur ein Totschlag sein, nicht gleich ein Mord.“

Er wartete, ob Köster noch etwa hinzufügen würde, doch sein wortkarger Gegenüber schien alles gesagt zu haben. Unglücklicherweise stimmten die Einschätzungen des Kollegen meistens.

„Mir gefällt diese ganze Schule nicht!“, sagte Jasper dann, um seine Gedanken zu ordnen, „die Edelburgh-Schule. Die war damals schon so eine Neureichen-Schule mit verzogenen Kids und versnobten Eltern.“

„Mein Patenkind ist auf der Schule“, entgegnete Kochalski, „aber grundsätzlich stimme ich dir zu. Allerdings ist das Niveau auch sehr hoch; es gibt eine Unmenge an Angeboten und die Schüler gehen mit einem hochqualifizierten Abitur ab!“

„Ja ja“, brummte sein Vorgesetzter, „Sie haben ja Recht. Nehmen Sie es mir nicht übel!“

„I wo... Was denken Sie denn vom Schulfreund des Opfers, Timo Gehrke?“

„Mir gefällt er nicht, undurchsichtige Type. Schien uns schnell wieder loswerden zu wollen. Ach, hat Benfer inzwischen den zweiten Klassenkameraden ausfindig machen können?“

Genau in diesem Moment kam ihre Kollegin Pia Benfer herein.

„Wenn man vom Teufel spricht!“, grinste Kochalski.

„Ich habe ihn!“, entgegnete die junge Frau und wedelte mit dem Hefter, den sie in der Hand hielt. „Lars Gilles, Mitschüler und Fußballfreund des Opfers. Dreiunddreißig Jahre, wohnhaft in einer kleinen Stadt in Norddeutschland und Sportlehrer von Beruf.“ Sie reichte ihrem Vorgesetzten die Unterlagen und schielte dann zur Kaffeekanne hinüber. „Habt ihr Kaffee gekocht?“

„Wenn Sie Kösters Plörre trinken wollen, bitte, bedienen Sie sich.“

Während Kochalski seine Cola und Benfer und Köster ihren Kaffee tranken, hörten sie dem Kommissar zu, der sie auf den neuesten Stand brachte.

„Und die damalige Freundin des Opfers, wie war das Gespräch mit der?“, fragte Benfer neugierig. „Die Schauspielerin. Die interessiert mich ja am meisten! Habt ihr ihren letzten Film Winterkinder gesehen? Der war super!“

Köster machte ein undefinierbares Geräusch, sagte aber nichts.

„Mit Lily Delevigne habe ich heute Vormittag gesprochen“, fuhr Jasper fort. „Ihre Eckdaten sind: zweiunddreißig, geboren im gleichen Jahr wie das Opfer und auch im selben Ort aufgewachsen. War mit ihm zwei Jahre zusammen, bevor er spurlos verschwand. Ging dann mit achtzehn auf die Schauspielschule und hatte bereits mit zweiundzwanzig ihre erste große Rolle. Lebt nun hier in der Stadt, alleine, kein Mann oder Kinder, wenn sie nicht gerade auf Dreharbeiten ist.“

„Und?“ Die junge Kollegin blickte ihn gespannt an. „Was hat sie so gesagt?“

Jasper legte seine Notizen beiseite und seufzte.

„Nicht viel. Sie schien leicht nervös zu sein, konnte es aber ganz gut hinter Distanziertheit und Höflichkeit verstecken. Hat nichts gesehen oder gehört und hat das Haus am zwölften auch nicht mehr verlassen… Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich von ihr halten soll.“

Pia ließ sich die Worte ihres Chefs nochmal durch den Kopf gehen.

„Weshalb war sie nervös?“

„Wer?“

„Na, Lily Delevigne. Die Freundin unseres Opfers.“

Falko beobachtete neidisch, wie sie sich eine Zigarette anzündete und genüsslich inhalierte.

„Willst du auch eine?“

„Nein, ich halte es schon aus! Bin schon zwei Wochen rauchfrei!“

„Wie du meinst.“

Sie setzten sich auf eine Bank im Innenhof des Präsidiums, eine der wenigen Schattenplätze. Pia zog die Jacke aus und krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch.

„Die Uniform ist so verdammt heiß!“ Sie nahm noch einen Zug und wiederholte dann ihre Frage. „Warum sollte sie nervös sein?“

Ihr Kollege zuckte die Schultern.

„Dafür gibt’s viele Gründe. Die meisten Leute sind in Gegenwart der Polizei nervös, vor allem diejenigen, die ein reines Gewissen haben.“

„Verrückt, oder!?“

„Dabei sind wir doch der Freund und Helfer“, grinste er.

„Aber wenn es wirklich Mord oder Totschlag war, dann ist’s vorbei mit der Gemütlichkeit!“ Sie drückte unvermutet heftig ihre Zigarette mit dem Stiefelabsatz aus. „André Güter war so alt wie mein Bruder jetzt, als er starb!“

Als der Applaus aufbrandete, war alles vergessen. Die Angst, die Trauer, die Sorge; alles weggespült vom berauschten Publikum. Lily verbeugte sich ein letztes Mal, dann schloss sich der Vorhang und die Aufführung war vorüber.

In ihrer Garderobe war es kühl und ruhig. Durch die Wand konnte sie ihre Kollegen in der Nachbargarderobe hören. Lily war auf vertraute Weise müde und aufgekratzt zugleich, wie nach jeder Theateraufführung. Sie setzte sich in den Sessel und goss sich ein Glas Sekt ein.

Genau dafür hatte sie immer gekämpft.

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