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«Man betrachte alle diese Dinge in dem Museum mit rechten Augen und bedenke dann die erstaunlichen Mengen gleichartiger Dinge, die notwendig in Gebrauch gewesen sind; man denke an die Millionen Teller, die während des hier vergegenwärtigten Zeitabschnittes hergestellt und in Gebrauch genommen werden mussten; danach erwäge man den Zugriff aller vorstellbaren zerstörenden Ursachen auf diese unermessliche Anzahl von Stücken; man denke an die Tonnen Scherben, an die Trümmerberge, die zu dem, was übriggeblieben ist, hinzuzurechnen sind; man denke an die Sterblichkeitsquote all dessen, was zerbrechlich ist; an die wahrscheinliche Lebensdauer einer Untertasse oder einer Gemüseschale…



Nichts gleicht dem bis zum heutigen Tage angehäuften Kapital unserer Kenntnisse, unserem Haben im Buche der Geschichte so, wie diese Sammlung von Dingen, die der Zufall uns erhalten hat. All unser Wissen ist wie sie ein Rückstand. Unsere Geschichtsurkunden sind Strandgut, das ein Zeitalter einem anderen überlässt, wie es der Zufall will, und in vollem Durcheinander.



Doch kundige und fromme Hände heben da und dort auf, was von diesen Überbleibseln übriggeblieben sein mag, ordnen sie nach bestem Wissen und Können und setzen sie, so gut sie es eben vermögen, zu einem Gesamtbild zusammen, das uns ans Denken bringt und Umrisse erkennen lässt. Wenn wir sagen: ‹Stil Louis XV›, geben wir in Wirklichkeit nur einer dieser Zusammenstellungen von Reliquien und immer wiederkehrenden Wiederholungen einen Namen – mit all der Willkür, die dazu gehört.



Wie viele Lücken! Sicherlich. … Doch lasst uns ein wenig weiterdenken: wir werden dann alsbald finden, dass, hätten wir das Ganze, wir damit ganz und gar nichts anzufangen vermöchten. Es gäbe nämlich dann für unseren Geist nichts zu tun.»



Paul Valéry: Variationen über die bebilderte Keramik, in: ders.: Über Kunst. Essays, Frankfurt a. M. 1959 , S. 158–165, hier 163f.




Inhalt





Einleitung







Anhäufen







Platzprobleme um 1910







Debatte über die Mengenbildung







Handhabung der Fülle







Blick auf spätere Mengenverhältnisse







Forschen







Die Einführung von Nachweisakten 1937







Auf der Suche nach der «inneren Geschichte» der Objekte







Durchsichtige Sammlungsstücke







Forschen in den 1930er- bis 1960er-Jahren







Erhalten







Jüngere Geschichte statt alternde Altertümer um 1970







Konservierung der stofflichen Seite der Dinge







Gegenwartsbezogene Vermittlung von historischem Wissen







Erhalten im neuen Jahrtausend







Schluss







Dank







Anhang







Anmerkungen







Abkürzungsverzeichnis







Bibliografie







Abbildungsverzeichnis








Einleitung



Das erste Sammlungsstück, das die Besucherinnen und Besucher des Schweizerischen Nationalmuseum zu sehen bekommen, ist eine Postkutsche. Sie steht seit der Eröffnung des Museums 1898 am Eingang. Die Eidgenössische Postdirektion hatte das Gefährt damals dem Museum geschenkt, worauf die Museumsleitung es an diesem prominenten Platz aufstellte. Heute ist auf dem beigestellten Schild zu lesen, es sei die alte Gotthardpost, die 1842 bis 1882 am Gotthardpass im Einsatz war (Abb. 1 und Abb. 2).

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Ganz woanders befindet sich die «Weisse Masse in Glasbehälter»,

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 ebenfalls ein Objekt aus der Sammlung des Schweizerischen Nationalmuseums. Es liegt im Sammlungsdepot des Museums in Affoltern am Albis. Vermutlich hatte eine Hilfskraft den Glasbehälter mit dem undefinierbaren Inhalt Anfang des neuen Jahrtausends gefunden und dann unter der Klassifikation «Objekt unbestimmt»

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 inventarisiert. Damals wurden die über die Stadt Zürich verstreuten Depots des Nationalmuseums aufgehoben, die darin aufbewahrten Sammlungen wurden mit Strichcodes neu erfasst und in das ausgebaute Depot nach Affoltern am Albis verlegt (Abb. 3).

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Die zwei Objektbeispiele lassen erahnen, dass am Schweizerischen Nationalmuseum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Sammlungstätigkeiten ausgeübt wurden und auch ganz unterschiedliche Protagonisten daran beteiligt waren. Um diese vielfältige Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Nationalmuseums geht es in diesem Buch.



Mit dem Sammeln von «Altertümern»

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 wurde in der Schweiz auf bundesstaatlicher Ebene 1886 begonnen. Bald darauf beschlossen die eidgenössischen Räte, für die wachsende Sammlung ein Museum in Zürich zu gründen.

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 Die Museumseröffnung im Jahr 1898 fiel in eine Zeit, in der das nationalstaatliche Sammeln in Europa äusserst populär war. Die meisten Länder hatten während des 19. Jahrhunderts Nationalmuseen und historische Museen errichtet.

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 Weder die Krisen noch die Kriege der folgenden Jahrzehnte setzten den Sammlungstätigkeiten ein Ende. Beim Schweizerischen Nationalmuseum ist der Objektbestand von den anfänglich 8227 Objekten der ersten angekauften, archäologischen Sammlung auf gegenwärtig über 840 000 Objekte angewachsen.

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Weshalb bestehen diese Museen noch? Weshalb wurden Energie, Zeit und Geld in sie gesteckt? Wer engagierte sich für ihr Weiterbestehen? Und wie? Welche Tätigkeiten waren prägend? Und was für eine Rolle spielten die Sammlungsstücke dabei? Diesen Fragen will ich am Fall des Schweizerischen Nationalmuseums nachgehen und daraus allgemeine Schlüsse zur Geschichte der Nationalmuseen im 20. Jahrhundert ziehen, methodologisch verstanden als eine Verallgemeinerung innerhalb eines Falls.

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 Ich werde die musealen Tätigkeiten während des 20. und 21. Jahrhunderts schildern sowie die Beweggründe für das stetige Weitersammeln und den Fortbestand des Schweizerischen Nationalmuseums aufzeigen.








Abb. 1: Eingang mit alter Gotthardpost, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Postkarte, 1900, SNM Dig. 19731.








Abb. 2: Gotthard-Postwagen beim Eingang des Schweizerischen Landesmuseums Zürich, 2012, Foto Anna Joss.








Abb. 3: Weisse Masse in Glasbehälter, LM-Nr. 108140, Sammlungszentrum, Affoltern am Albis, 2011, Foto Anna Joss.





Sammlungstätigkeit als historiografischer Gegenstand



Im Zentrum meiner Untersuchung steht die Geschichte der Sammlungspraxis des Schweizerischen Nationalmuseums und folglich die Geschichte jener Tätigkeiten, die eng verbunden sind mit der Objekte-Sammlung des Museums. Mit diesem praxeologischen Zugang will ich einen neuen Blick auf die Geschichte der Nationalmuseen werfen. Bisherige Untersuchungen zu diesem Museumstyp beschränkten sich zumeist auf die musealen Repräsentationsformen, speziell die Inszenierungen in den Ausstellungsräumen der Museen, und die damit verbundene Frage nach den Identitäts- und Nationalitätskonstruktionen.



Die Forschungsergebnisse zu den Museen, welche die «Nation» im Namen tragen, besagen, dass diese Museen in enger Verbindung zur Nationalstaatenbildung des 19. Jahrhunderts stehen. Diese Institutionen seien vom Bürgertum für die jungen Nationen geschaffen worden mit dem Ziel, als Orte der nationalstaatlichen Identitätsbildung zu fungieren, als Stätten der Repräsentation und nationale Gedächtnisräume.

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 Dieses Narrativ prägt auch die Geschichtsschreibung über das Schweizerische Nationalmuseum.

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 Mich interessiert dagegen, wie die Geschichte eines Nationalmuseums und seiner Sammlung aussehen könnte, welche nicht nur vom Geschehen in den Ausstellungsräumen handelt, sondern von allen Tätigkeiten rund um die Sammlung berichtet. Daher untersuche ich auch, was in den anderen Räumen des Museums geschah: in den Büros der Museumsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen, in den Objektdepots, in den Werkstätten und in den Forschungslabors des Museums.

 



Dass praxeologische Fragestellungen neue Ergebnisse hervorbringen und andere Facetten der Museumsgeschichte zeigen, haben die wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen zu den naturhistorischen Museen und Universitätssammlungen deutlich gemacht, die im Zuge der historischen Wissenschaftsgeschichte entstanden sind.

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 Sie hatten ab den 1980er-Jahren damit begonnen, «über die Wissenschaft im Machen»

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 zu forschen. Um zu verstehen, wie Theorien, Wissen und Erkenntnisse entstehen, analysierten sie die Praktiken der Forschung: Laboruntersuchungen etwa oder das Sammeln und Klassifizieren von Objekten.

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Die Wissenschaftsgeschichte und die Wissensgeschichte (ihre jüngere «Verwandte») benennen im Voraus den Inhalt der Praktiken, die sie untersuchen, als «Wissenschaft» oder «Wissen».

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 Ich gehe demgegenüber von der These aus, dass sich der Inhalt, zusammen mit den Praktiken, stark veränderte und daher eine solche theoretische Fixierung die Untersuchung unproduktiv beschränkt. Ich stelle daher keine Behauptung an den Anfang meiner Arbeit über die Absichten der Akteure und die Inhalte ihrer Tätigkeiten am Schweizerischen Nationalmuseum und will nicht von der Annahme ausgehen, dass sie «Nation» oder «Wissen» herstellten. Stattdessen formuliere ich meine Fragestellung so offen wie möglich und frage: Welche Praktiken gab es, und was entstand dabei?





Praxis «Sammeln»



Was ist unter «Sammlungspraktiken» und einem praxeologischen Forschungszugang zu verstehen, und wie unterscheidet er sich von den bisherigen historischen Forschungen zum Nationalmuseum und historischen Museum? Die beiden eingangs erwähnten Sammlungsstücke, die Postkutsche und die «Weisse Masse in Glasbehälter», dienen mir als Exempel, um die Eigenheiten und Differenzen zu zeigen. Die klassischen Fragen, die im Rahmen einer historischen Untersuchung zum Nationalmuseum gestellt werden könnten, wären etwa Folgende: Weshalb bildet eine Postkutsche aus dem 19. Jahrhundert, die über den grossen Alpenpass Gotthard fuhr, über so lange Zeit den Auftakt des Museumsbesuchs? Was repräsentiert sie? Welches Ausstellungsprogramm stand und steht dahinter? Welche Rolle hat die Gotthardpostkutsche im Prozess der symbolischen Hervorbringung der Nation gespielt? Wandelte sich diese im Lauf der Zeit? Über welches identitätsstiftende Potenzial verfügt die Kutsche? Was trägt sie zur nationalen Selbstfindung bei?

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 Die Untersuchung der Sammlungspraktiken bringt andere Fragen mit sich, beispielsweise: Wie kamen die Postkutsche und weitere Objekte in die Sammlung des Nationalmuseums? Wie wurde über ihre Erwerbung beschlossen? Was geschah danach mit den Objekten im Sammlungsalltag? Welche Stationen durchliefen sie im Museumsbetrieb? Wie kümmerten sich die Museumsmitarbeitenden während der mehr als 100 Jahre um sie? Steht die Kutsche seit ihrer Erwerbung draussen, oder war sie zwischenzeitlich auch anderswo aufgestellt? Wer hat wann die Tafel mit den Erklärungen zur Kutsche geschrieben und die Kette um die Kutsche gespannt? Gibt es weitere Dokumente, und wo sind diese aufbewahrt? Weshalb leuchtet die gelbe Farbe der alten Kutsche so? Wurde sie kürzlich restauriert? Gibt es weitere Kutschen? Wo sind diese, und wie ist der Umgang mit ihnen? Diese Fragen führen in alle Hallen, Zimmer, Kammern und Keller des Museums, wo sich einem eine wenig bekannte, aber äusserst spannende Museumswelt auftut. Hier stiess ich auch auf die «Weisse Masse in Glasbehälter». In einem «Objektbüro» genannten Zimmer mit Computerarbeitsplätzen und einem Tresor voller wertvoller Inventarbücher habe ich den ersten Hinweis auf sie gefunden. Auf das Sammlungsstück bin ich in der internen Objektdatenbank des Landesmuseums gestossen, als ich herauszufinden versucht habe, wie am Landesmuseum die Objekte inventarisiert und klassifiziert wurden. Ich habe mir die «Weisse Masse in Glasbehälter» dann auch noch von Nahem angesehen im Sammlungsdepot in Affoltern am Albis. Was dieses Ding genau ist, konnte ich nicht herausfinden. Doch erfuhr ich mehr über die Geschichte des Erwerbens, Inventarisierens und Klassifizierens am Landesmuseum, wie ich noch berichten werde.



In dieser Arbeit erzähle ich aber nicht die Sammlungsgeschichte von Einzelobjekten, sondern die Geschichte der Sammlungspraktiken. Im Fokus stehen damit die Tätigkeiten der Museumsmitarbeitenden hinsichtlich verschiedener Sammlungsstücke sowie die Bewegungen der Objekte und die Stationen, die sie am Schweizerischen Nationalmuseum durchlaufen haben.

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 Diese Praktiken subsumiere ich unter dem Begriff «Sammeln», um zu betonen, dass es bei diesen Tätigkeiten um den direkten Umgang der Museumsmitarbeitenden mit der Sammlung geht. «Sammeln» meint nicht das Zusammentragen von Dingen im engen Sinn, sondern ganz verschiedene Tätigkeiten, die beim Anlegen und Betreuen einer Sammlung ausgeübt werden: Objekte kaufen, schenken, aufbewahren, ausleihen, weggeben, wegwerfen, ordnen, inventarisieren, dokumentieren, erforschen, restaurieren, ausstellen, einlagern und so weiter. Diesen Tätigkeiten ist gemeinsam, dass sie im institutionellen Rahmen des Schweizerischen Nationalmuseums ausgeübt wurden.



Zum Schweizerischen Nationalmuseum gehören verschiedene Häuser an unterschiedlichen Standorten in der Schweiz. Die Gesamtbezeichnung für sie war bis 2009 im deutschen Sprachgebrauch «Schweizerisches Landesmuseum».

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 Ab dann wurde mit «Landesmuseum» nur noch der Sitz in Zürich bezeichnet und für die Bezeichnung aller Häuser der Begriff «Schweizerisches Nationalmuseum» verwendet. Zürich ist der Standort des ersten Museumsbaus für die staatliche Sammlung, dient bis heute als Ausstellungsort sowie Ort der Verwaltung und war für viele Sammlungstätigkeiten stets der hauptsächliche Schauplatz. Dementsprechend wird sich meine Sammlungsgeschichte auch besonders auf diesen Ort konzentrieren. Zwischendurch wird aber immer wieder auch von den anderen Standorten berichtet, die während des 20. Jahrhunderts zum Museum in Zürich hinzukamen und teilweise wieder abgestossen wurden.

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 Ich werde jeweils die zeitspezifische Bezeichnung verwenden, die in den Quellen vorkommt, und deshalb meist vom Schweizerischen Landesmuseum sprechen (Abb. 4).



Meine Sammlungsgeschichte ist keine Institutionsgeschichte. Der Schwerpunkt wird nur auf einen gewissen Bereich der institutionellen Tätigkeiten gelegt: auf die unmittelbaren Sammlungspraktiken. Die personelle und finanzielle Verwaltung und die administrativen Arbeiten im Austausch mit der Bundesverwaltung werden nur am Rand behandelt. Viel Gewicht erhalten hingegen die Praktiken, die sich an den Grenzen des institutionellen Handlungsraums, im Austausch mit externen Personen und Institutionen, abspielten, wie etwa die Objektauswahl, die für das Verständnis der Konstitution der Sammlung wichtig ist.

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Die Protagonisten: Menschen und Dinge



Das Museum versammelt Menschen genauso wie Dinge.

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 Der Geschichte der Sammlungspraxis gehören demnach zwei Gruppen von Protagonisten an: die Sammler/Sammlerinnen und die Sammlungsstücke. Ich will ihre beiden Rollen in der Praxis vorstellen.



Ganz unterschiedliche Sammlerinnen und Sammler waren an der Sammlungspraxis beteiligt: Museumsdirektoren, Donatorinnen, Antiquitätenhändler, Mitglieder der Bundesbehörden, Handwerker, Restauratoren, Konservatoren und so weiter. Die Konservatoren (bis 1961 waren es ausschliesslich Männer) waren diejenigen, die den Museumsdirektor bei der Objekterwerbung unterstützten, die Sammlungstücke inventarisierten, ordneten und halfen, sie auszustellen. Üblicherweise verfügten sie über eine akademische Ausbildung in Kunstgeschichte oder Ur- und Frühgeschichte, später auch über andere geschichtswissenschaftliche Ausbildungen.

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 Die Konservatoren wurden auch einfach nur «wissenschaftliche Beamte»

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 genannt und an anderen Museen Kustoden.

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 Ab den 2000er-Jahren wurden sie dann als Kuratoren bezeichnet. Die Restauratoren wurden zuerst «technische Beamte»

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 und dann später «Konservatoren/Restauratoren»

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 genannt. Sie hatten anfänglich eine künstlerische oder handwerkliche Ausbildung, zu der sie autodidaktisch die nötigen Verfahren und Handgriffe für den Museumsbetrieb dazulernten; später gab es die Möglichkeit einer professionellen Ausbildung als Restaurator, als Restauratorin.

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 Mich interessiert ihr spezifisches Handeln als Zuständige für die staatliche Sammlungstätigkeit. Ich werde mich nicht speziell mit den Einzelbiografien der Sammlerinnen und Sammler auseinandersetzen. Ihr Handeln hat persönliche biografische sowie gemeinschaftliche und gesellschaftliche Anteile: Der persönliche Anteil betrifft die individuell beschränkte Wahrnehmung und das limitierte Wissen der einzelnen Sammlerinnen und Sammler. Gemeinschaftlich war ihre Tätigkeit, weil sich ihre Handlungen in der Interaktion, in Aushandlungsprozessen mit der sozialen Umgebung, in gemeinsamen Praxiszusammenhängen und in Handlungsgefügen abspielten. Gesellschaftlichen Charakter hatten ihre Aktivitäten, weil ihren Handlungen ein staatlicher Auftrag zugrunde lag, der einer regelmässigen politischen Legitimierung bedurfte.

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Abb. 4: Schweizerisches Landesmuseum in Zürich, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, Zürich um 1898, SNM Scan.



Im Anschluss an bestehende Theoreme stellt sich dabei die Frage, mit welchen praktischen Fähigkeiten, stillen Fertigkeiten (tacit skills)

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 und fachlichen Kompetenzen die am Sammeln Beteiligten ausgestattet waren, wie auch die Frage, über welches Handlungswissen (Wissen-wie) und über welchen Habitus (Bourdieu) diese Personen verfügten.

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Die Praxis besteht aus Handlungsgepflogenheiten, Ritualen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Wissen.

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 Aber im Handeln vollzieht sich nicht einfach nur das, was die Sammlerinnen und Sammler vorab gedacht und entschieden haben, wie es etwa die Soziologen Karl Hörning und Julia Reuter beschreiben.

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 Vielmehr ist hervorzuheben, dass der Gebrauch von Dingen sowie von Wörtern, Bedeutungen, Sinn, Ordnungen, Ideen, Wissen und Strukturen auch Praktiken legitimieren, verändern oder neu schaffen kann. Diese sind in die Tätigkeiten eingebunden und befinden sich nicht ausserhalb von ihnen. Das ist die Erkenntnis der Vertreterinnen und Vertreter der wissenschaftshistorischen Forschungen sowie ein Ergebnis aus den Bereichen der jüngeren mikrogeschichtlichen Forschung und der historischen Anthropologie.

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Jakob Tanner schlägt ein praxeologisches Geschichtsverständnis vor, das Wiederholung und Wandel zusammen denkt unter dem Gesichtspunkt der beiden Konzepte «Ereignis» und «Aneignung». Die Wiederholung bildet erstens die Möglichkeitsbedingung für das singuläre Erlebnis. Zweitens entsteht aus ihr die Veränderung, weil alltägliche Routinen immer wieder angeeignet und gefestigt werden müssen, die Aneignung aber keine identische Wiederholung oder exakte Kopie sein kann, sondern immer auch Neues mit sich bringt.

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 Eine praxeologisch orientierte geschichtswissenschaftliche Arbeit muss folglich Kontinuität und Wandel berücksichtigen: die Veränderungen und ungewöhnlichen Handhabungen der Protagonisten wie auch die Wiederholungen, die routinierten Aktivitäten im Sammlungsalltag. Denn Praxis ist zugleich wiederholend und erneuernd, zugleich regelmässig und regelwidrig, zugleich strategisch und zufällig.

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Zuletzt ist zu den Sammlerinnen und Sammlern als Protagonisten noch zu bemerken, dass die wenigsten Forschungsarbeiten sich eingehender mit der Gruppe der Museumskonservatoren und -restauratoren befassten, die im musealen Sammlungsalltag eigentlich am meisten mit der Sammlung zu tun haben. In der umfangreichen Forschung zu Sammlerpersönlichkeiten geht es häufig um Privatsammlerinnen und -sammler oder um die Donatoren und Donatorinnen und deren individuellen Einsatz für die öffentlichen Museen. Wenn einmal von den Museumsangestellten die Rede ist, dann wird entweder eine Direktorenbiografie erzählt oder das Kollektiv betont und beschrieben, wie mehrere Personen zusammen eine Sammlung aufgebaut haben, für eine Gemeinschaft und in ihrem Namen.

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 Die Museumsangestellten des 20. und 21. Jahrhunderts passen aber weder zum Bild der Privatsammler als Besitz ergreifende und Objekte hortende Spezies,

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 noch entsprechen sie dem Typus des Donators oder der Donatorin, die sich für die öffentlichen Museen mit Objekt- und Geldschenkungen und Freiwilligenarbeit engagieren und deren in der Logik des Hortens rätselhafter Einsatz gemeinhin damit erklärt wird, dass sie sich davon als Gegenwert «symbolisches Kapital» (Bourdieu) erhoffen.

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 Mit meiner Arbeit will ich ein differenziertes Bild der Museumsangestellten und ihrer Tätigkeiten aufzeigen.

 



Die Sammlungspraxis wurde aber nicht nur von Menschen geprägt, sondern auch von den gesammelten Dingen. In den soziologischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Studien zur Museums- und Sammlungsgeschichte wurde den gesammelten Dingen lange bloss eine passive Rolle zugebilligt als Zeichenträger, welchen von den Sammlerinnen und Sammlern oder den Museumsbesuchenden Bedeutungen zugeschrieben oder abgesprochen wurden.

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 Die wissenschaftsgeschichtlichen Ansätze, auf die ich mich beziehe, machen im Gegensatz dazu auch auf den unabdingbaren Anteil der Dinge, Materialien, Techniken und Medien beim Generieren von Erkenntnissen, Bedeutungen und Wissen aufmerksam. Diese müssen verkörpert und vervielfältigt werden, um einer Gesellschaft verfügbar zu sein. Sie formieren sich, indem sie zwischen verschiedenen Bedeutungsund Wissensgebieten und gesellschaftlichen Sphären zirkulieren, an verschiedenen Orten aufgegriffen sowie um- und neugestaltet werden. Die Dinge, Materialien, Techniken und Medien sind dabei nicht nur Träger von Bedeutungen, die ihnen zugedacht oder aberkannt werden. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass Bedeutungen, Wissen und Erkenntnisse sich formieren und zirkulieren können.

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 Für die Sammlungspraxis heisst dies, dass die Gegenständlichkeit der Dinge, also ihr Volumen, ihre Form, ihre Grösse und ihre Materialität, die Möglichkeiten der Sammelpraxis mitbestimmen. Ihr entsprechend werden etwa Aufbewahrungs- und Ausstellungsräume konzipiert, Transporte organisiert und Klassifikationen vorgenommen. Weiter haben die Dinge ihre eigene Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, welche die Praxis prägen. Die Materialität der Sammlungsstücke verändert sich, sie kann zerfallen und vergehen.



Zur Untersuchung des Anteils der Dinge an Praktiken eignet sich als Denkfigur nach wie vor besonders Bruno Latours Konzept der «anthropologie symétrique»,

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 auf dem seine Studien beruhten, die er in den 1980er- und 1990er-Jahren verfasste. Der Wissenschaftsforscher zeigte auf, wie Dinge, Instrumente, Werkzeuge und Apparate innerhalb der wissenschaftlichen Praxis wichtige «Akteure»

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 werden bei Erkenntnisprozessen. Ja, Bruno Latour ging damals so weit, zu sagen, dass die Dinge den Menschen gleichwertige Handlungspartner seien. Mit dem Konzept der «symmetrischen Anthropologie» versuchte er eine Alternative zum von ihm kritisierten modernistischen Fortschrittsparadigma zu entwickeln.

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 Latour fragte nach der Möglichkeit einer Anthropologie, die nicht nur das Wissen über die Dinge (das ist das Moderne), sondern auch die in den Objekten verborgenen Informationen über den Menschen berücksichtigen kann. Eine solche Anthropologie wäre nach ihm symmetrisch, und nur die Betrachtung beider Informationsrichtungen würde eine Objektivität ermöglichen, die dem Selbstanspruch der Moderne gerecht wird.

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 Latour wollte damit die herkömmliche Trennung von forschendem Subjekt und erforschtem Objekt aufheben zugunsten einer Sichtweise, die das Forschungsgeschehen als «ganzheitlichen» Prozess versteht.

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 Entscheidend seien seiner Meinung nach die Relationen, Austauschprozesse und Vermischungen, die stattfinden zwischen den Menschen und den «nicht-menschlichen Wesen», wie er die Dinge nennt.

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Sein Konzept der «symmetrischen Anthropologie» ist aus den folgenden Gründen immer noch interessant für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung einer Sammlungspraxis: Erstens ist es offener als andere Ding-Konzepte. Das Konzept von Latour beschränkt sich nicht auf bestimmte Praxisfelder oder Arten von Dingen, wie es museums- und sammlungstheoretische Ansätze vorschlagen. Diese qualifizieren Sammlungsstücke in der Regel als statische Objekte innerhalb eines Sammlungsverbandes, ohne zu berücksichtigen, dass die Sammlungsstücke verschiedene Stationen im Sammlungsalltag durchlaufen und sich dabei in Interaktion mit den Sammlerinnen und Sammlern auch verändern. Vertreterinnen eines solchen Ansatzes sind beispielsweise Anke te Heesen und Petra Lutz. Sie definieren «museale Dinge» als Objekte, die in das Museum kommen, «wenn sie abgeschlossen und ‹fertig› sind, mögen sie noch so bruchstückhaft oder zerstört aussehen».

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 Dinge würden im Museum nicht generiert, sondern zueinander (und zum Betrachter) in Position gebracht. Im Museum habe man es mit einem materiellen Gegenüber zu tun, «das man in seiner Substanz nicht verändert (lediglich weiter konserviert), aber in seiner Wirkung und Bedeutung in eine bestimmte Richtung lesen und lenken kann».

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 In ihrer Definition geht es te Heesen und Lutz vor allem darum, die «musealen Dinge» vom Konzept der «epistemischen Dinge»,

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 das der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger vorgeschlagen hat, abzugrenzen.

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 Im Museum seien «Anschaulichkeit, Zugänglichkeit und Haltbarkeit»

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 die bevorzugten Kriterien, schreiben sie, nicht aber bei den epistemischen Dingen. Die epistemischen Dinge sind nicht unbedingt eine abgrenzbare, dreidimensionale, materiell und visuell zu identifizierende Entität wie die musealen Dinge, sondern können ein Konglomerat von Entwicklungen und Konjunkturen, von Institutionen und Instrumenten sein, bei denen das Objekt das Zusammenspiel von Erkenntnis suchenden Menschen und den materialen Bedingungen einer wissenschaftlichen Praxis bezeichnet. Diese Dinge seien in erster Linie im Forschungsprozess epistemisch, im Nachhinein nicht mehr.

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Ganz klar, die Dinge im Museum sind nicht die Gleichen wie die in biowissenschaftlichen Laborarbeiten involvierten Objekte. Doch die Sammlungsstücke sind nicht «abgeschlossenen». Am augenfälligsten ist es bei der materiellen Substanz der Objekte. Die Materialien altern. Gerade bei den verschiedenen Praktiken, die sich um den materiellen Erhalt der Dinge kümmern, den Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten, geht es nicht ohne Eingriffe in die Materialität der Dinge und damit auch nicht ohne Substanzveränderungen.

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 Deshalb ist es sinnvoll, ein Dingkonzept wie dasjenige von Bruno Latour zu wählen, das den Dingen nicht von vornherein bestimmte Eigenschaften wie Anschaulichkeit, Zugänglichkeit und Haltbarkeit zuschreibt.

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 Der zweite Grund, der Latours Konzept für das Verfassen einer Sammlungsgeschichte interessant macht, ist der Perspektivenwechsel, den er mit der symmetrischen Anthropologie vorschlägt: Wenn man die Sammlungsstücke statt (nur) als Objekte auch als Subjekte betrachtet und die Praxis von den Sammlungsstücken her zu beleuchten versucht, so fällt der Kurzschluss weg, dass sie immer auch der Gegenstand, das Ziel und der Sinn der Sammlungspraxis seien. Der Perspektivenwechsel bietet die Grundlage für die offen formulierten Fragen danach, welche Praktiken es gab und was dabei entstand. Der Blick wird auf das Dazwischen gelenkt, zwischen den Menschen und den Dingen, Menschen und Menschen, Dinge und Dinge, «in the blind spot»,

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 wie es Latour nennt. Eine Sammlungsgeschichte zu schreiben, heisst demzufolge, die Vorgänge, Verbindungen und Beziehungen in diesem Dazwischen zu betrachten.

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 Anders als in der praxeologisch orientierten Forschung der letzten Jahre stehen folglich in dieser Arbeit nicht die Dinge im Fokus, sondern die Praxis selbst.

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Eine Sammlungsgeschichte zu schreiben, heisst demzufolge, die Verbindungen und die Konstellationen zwischen den Menschen und den Dingen zu betrachten. Der Perspektivenwechsel ist aber immer nur als Denkfigur möglich. Im Gegensatz zu Latour will ich nicht von den Dingen als Akteuren sprechen.

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 Die Dinge tun nichts, als da zu sein, und je nach materieller Substanz verändern sie sich, zersetzen sie sich oder zerfallen sie schneller oder langsamer. Das alles ist nicht wenig, wenn man sich die beträchtliche Überzahl der Dinge gegenüber den Menschen vor Augen hält, die in die Sammlungspraktiken am Nationalmuseum involviert sind. Sie sind Teil der Praxis, und ihre Gegenständlichkeit schafft bestimmte Handlungsmöglichkeiten.

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 Die begriffliche Konsequenz davon ist, dass ich mich auf keinen fixen Terminus beschränken werde, um das Sammlungsgut des Nationalmuseums in toto zu benennen. Stattdessen wähle ich je nach Konstellation die Bezeichnung: Wenn es um uns