Teilchenbeschleunigung

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Teilchenbeschleunigung
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Teilchenbeschleunigung, Abschluss der Nikola-Rührmann-Trilogie, ist wie seine Vorgänger eine Momentaufnahme, die den multidimensionalen Charakter der Hafenstadt Hamburg einfängt – manifestiert in der Figur der Physikerin Dr. Nikola Rührmann. Zahlenfixiert und zitierwütig wie eh und je stapft und stolpert die bindungsscheue und doch an Freunden reiche Einzelgängerin durch ihre Stadt, die sich wie sie verändert hat.

Für mich reflektiert die Stimmung Hamburgs genau den Geist der Zeit, was diese Krimi-Chronik besonders reizvoll macht: Im ersten Roman Freitags isst man Fisch schillert ein Hamburg des Lebensfrühlings. Nichts ist festgelegt, es wimmelt von Konzepten und Ideen, deren Beständigkeit heiter unklar bleibt. Es ist das Ende der 1980er, und die »Szene« (Uni, Kneipen, Autonome, Musiker), in die Nik eintaucht, brodelt vor Ideologien und Einmischlust. Im zweiten Roman Kein Durchkommen, der eine Dekade später spielt, zeigt nicht nur das den Plot prägende Wetter mehr Grautöne. Kurz vor dem Millennium hat der Einfluss der Medien stark zugenommen. Nik und ihre Freunde sind mit Weichenstellen befasst – Arbeit, Forschung, Kinder –, während der Puls der Stadt mechanischer schlägt; Kunst, Musik und Drogen sind härter, fieberhafter geworden. Und nun, wiederum zehn Jahre später, kommt eine illusionslose Nikola zurück in ein strengeres, kälter glitzerndes Hamburg. Der Siegeszug von PR- und Dienstleistungsgesellschaft hat sich fortgesetzt, Jobs sind ein rares Gut, Wissenschaft und Forschung stehen unter Erfolgsdruck. Die prestigeträchtige Suche nach einer »Physik jenseits des Standardmodells« verschafft Nik einen Auftrag am renommierten Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY – nur leider nicht als Physikerin, sondern als Schnüfflerin und Frau fürs Grobe. Also begibt sie sich mit Vollgas auf sozialen und kriminalistischen Kollisionskurs, getreu dem Motto: Je schneller sich ein Teilchen bewegt, desto länger ist seine Halbwertszeit …

Else Laudan

Ann-Monika Pleitgen, Managerin, Ehefrau und Co-Autorin des Schauspielers Ulrich Pleitgen, schrieb schon als Kind leidenschaftlich gern. Ihr Sohn, der Physiker Dr. Ilja Bohnet, arbeitete bis 2012 am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY), inzwischen ist er zur Dachorganisation von DESY in die Geschäftsstelle der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren gewechselt. Beim Schreiben des Kriminalromans Freitags isst man Fisch (nominiert für den GLAUSER 2010 als bestes Debüt) entdeckten Mutter und Sohn ihre Autorenteam-Fähigkeiten und schufen die eigenwillige Protagonistin Nikola Rührmann.

BOHNET PLEITGEN

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BESCHLEUNIGUNG

Ariadne Krimi 1191

Argument Verlag

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Bohnet Pleitgen bei Ariadne:

Freitags isst man Fisch (Ariadne Kriminalroman 1177)

Kein Durchkommen (Ariadne Kriminalroman 1183)

Teilchenbeschleunigung (Ariadne Kriminalroman 1191)

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2012

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlaggestaltung: Martin Grundmann

Fotomotiv: © enzo9110 – Fotolia.com

Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549325

Erste Auflage 2012

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Für Folker, Ida und Jan

Dieses Buch ist frei erfunden. Selbstverständlich würde das echte DESY niemals einen derart zwielichtigen Sonderauftrag vergeben.

Cover

Anmerkung

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

Prolog

Die Ankunft

Das Vorstellungsgespräch

DESY

Flurfunk

Mahlzeit

Hotel Royal

Die Rotarier

Geister und Teilchen

Nacht mit Hindernissen

Bürogeflüster

Im Rathaus ist guter Rat teuer

Informanten

Sirenen und Fanfaren

Der Hehler

Sprung ins Nass

Blankenese am Morgen

Blutspuren

Sondierungsgespräche

Der Kontrollraum

Hotelmenagerie

Der Leuchtturm

Die Evaluation

Die Villa

Der Tunnel

Closed Session at High Noon

Schlussakkord

Epilog

Ceci n’est pas une pipe – noch ein Nachwort

Danksagung

Fußnoten

Je begreiflicher uns das Universum wird, umso sinnloser erscheint es auch. Doch wenn die Früchte unserer Forschung uns keinen Trost spenden, finden wir zumindest eine gewisse Ermutigung in der Forschung selbst. Die Menschen sind nicht bereit, sich von Erzählungen über Götter und Riesen trösten zu lassen, und sie sind nicht bereit, ihren Gedanken dort, wo sie über die Dinge des täglichen Lebens hinausgehen, eine Grenze zu ziehen. Damit nicht zufrieden, bauen sie Teleskope, Satelliten und Beschleuniger, verbringen sie endlose Stunden am Schreibtisch, um die Bedeutung der von ihnen gewonnenen Daten zu entschlüsseln. Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen tragischen Hauch von Würde.

Steven Weinberg

Teilchenphysiker und Nobelpreisträger

Prolog

Mittwoch, der 12. August 2009, 4:09 Uhr

Noch ist es nicht zu spät. Ich hetze die metallischen Treppenstufen im Eingangsportal des alten Elbtunnels hinunter, vorbei an stoisch dreinblickenden Porträtbüsten an der gefliesten Wand. Kein Mensch weit und breit. Die vier Fahrkörbe für die Autos schlafen noch. Nur das Klacken meiner hohen Absätze ist zu hören. Der Aktenkoffer aus Aluminium wiegt schwer in meiner linken Hand. Wie viel Geld wohl drin ist? Die Handschelle schneidet ins Fleisch. Großartiger Einfall, mich bei dem Gerangel ums Geld an den Koffer zu ketten. Mein linker Arm ist ganz lahm vom Tragen, und die Handschelle lugt verdächtig unter dem Ärmel meiner Bluse hervor.

Ob der Kerl tot ist? Ich hab ihm einen kräftigen Schlag gegen den Kopf versetzt, dass er an den Bettpfosten krachte. Aber davon stirbt man doch nicht.

Unten angekommen, blicke ich auf die beiden Tunnel mit je einer Fahrspur in der Mitte und schmalen Gehsteigen rechts und links. Ich bin allein. Ich nehme die rechte Röhre. Die schmiedeeisernen Wandleuchten werfen ein warmes Licht auf die Steinzeugreliefs, die in regelmäßigen Abständen die gekachelten Tunnelwände zieren.

 

Gestern Abend hab ich ihn aufs Hotelzimmer gelockt und so lange bezirzt, bis er mir schließlich erzählt hat, wo sich der Laptop mit der Analyse des Physikers befindet. Irgendwo im Freihafen. Auf der LA PALOMA. Dort erwartet ihn der Hehler um halb fünf. Hat mich ganz schön Kraft gekostet, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Bett sitzend das heiße Weibchen zu spielen, um das aus ihm rauszukitzeln.

Ich haste weiter durch den leicht gewölbten Tunnel. Das Licht der Wandleuchten links und rechts vereinigt sich an seinem Ende. Fern, noch sehr klein, sehe ich eine Gestalt. Kommt sie näher? Ich gehe weiter auf sie zu. Oder hinter ihr her? Ich zerre den Ärmel der Bluse über meine gefesselte Hand. Die Erscheinung wird größer, kommt näher. Scheiße. Wer ist das? Wir laufen aufeinander zu. Das Klackern meiner High Heels vermischt sich mit dem Hall seines Stechschritts. Unsere Echos verschmelzen zu einem Rhythmus. Diese akustische Einheit wird lauter und lauter. Schon kann ich das Gesicht erkennen. Blond. Jung. Hart. Ich starre geradeaus, schaue dem Mann nicht in die Augen, damit er mich nicht anspricht. Dicht vor mir bleibt er stehen, zeigt auf den Koffer und sagt: »Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand.« Dann geht er weiter.

Ich kremple den Ärmel hoch, straffe mein Kreuz und weiß, dass ich die LA PALOMA im Freihafen finden werde.

Als ich wenig später auf der anderen Elbseite auf die Straße trete, dämmert der Morgen. Am Horizont verdichten sich Zirruswolken zu rosaroten Streifen. Ich blicke mich um. Wo liegt mein Schiff? Ich entscheide mich für den Fährkanal. Ich stakse über graues Kopfsteinpflaster, knicke mit meinen High Heels um. Jetzt reicht’s. Ich kicke die Schuhe von den Füßen und haste barfuß weiter. Ein Lkw rumpelt über die Straße, im Schlepp fliegt der Auflieger hinterher. Das Gefährt pustet rußige Abgase in die frische Morgenluft und verschwindet hinter der Biegung der Straße. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig läuft die Karikatur eines Seemanns: Ringelpullover, weite Hose, weißer Backenbart, blaue Wollmütze mit rotem Bommel. Ich mache dem Mann Zeichen, damit er stehen bleibt, die High Heels schlackern beim Winken in meiner linken Hand, die Handschelle rasselt auf dem silbern glänzenden Koffer.

»Entschuldigen Sie«, sage ich höflich und versuche meine Atemlosigkeit zu unterdrücken. »Ich suche einen Stückgutfrachter namens LA PALOMA.«

Er bleibt stehen und mustert mich. »Aha.« Sein Blick fällt auf den Koffer.

»Wissen Sie vielleicht, wo das Schiff angelegt hat?«

»Aha«, wiederholt er bedeutungsvoll und starrt weiter auf den Koffer.

»Da ist nur Geld drin«, erkläre ich geduldig.

»Und der Typ, von dem Sie’s haben, is’ vermutlich dot«, sagt er in schnoddrigem Hamburgisch.

»Vermutlich«, antworte ich. Woher weiß der das, verdammt. »Was ist? Wissen Sie nun, wo ich die LA PALOMA finden kann?«

»Stückgut wird noch am Grevenhofkai umgeschlagen, am Ende der Straße rechts«, antwortet er und wendet sich ohne ein weiteres Wort von mir ab. Genau wie es dieser Max Frisch eben gesagt hat: Die Wahrheit glaubt einem sowieso niemand, sie ist die beste Tarnung. Aber der Typ, von dem ich den Koffer habe, ist vermutlich wirklich tot. Ganz sicher sogar. Ein Schauder ergreift mich. Ich habe das Bild vor Augen, wie er ausgestreckt auf dem Boden liegt. Der leblose Körper. Die klaffende Kopfwunde. Ich habe ihn umgebracht. Kaltblütig erschlagen. Was habe ich getan? Warum habe ich mich bloß auf diesen verfluchten Sonderauftrag eingelassen? Mission impossible!

Ich schaue auf meine Armbanduhr – 4:29 Uhr. Herrje, ich komme zu spät zum Treffpunkt.

Immerhin weiß ich jetzt, wo die LA PALOMA liegt. Sonst aber nichts. Dass Edu auch gar nichts sagt! Ich zwinge mich zur Ruhe, zurück auf Eins, denke ich, während ich auf nackten Füßen die Straße runterhetze und mir der Schweiß von der Stirn läuft, zurück auf Eins. Wie bin ich nur in diesen Schlamassel geraten? Wie hat diese blöde Geschichte überhaupt angefangen? Vor zwei Tagen. Am Montag um neun Uhr.

Die Ankunft

Montag, der 10. August, 9:02 Uhr, um genau zu sein

Exakt zu dieser Zeit lief der Zug aus Berlin in den Hamburger Bahnhof Dammtor ein. Ich stand an der Waggontür und spähte durchs Fenster. Auf dem Bahnsteig tummelten sich Geschäftsleute mit Handy am Ohr, gepäckbeladene Familien, ein altes Männchen im Jogginganzug, Verliebte, die sich lange Abschiedsküsse gaben, und andere, die mit gespannten Blicken den einfahrenden Wagen folgten. Das waren keine Reisenden, sie erwarteten Gäste, Verwandte, liebe Freunde. Ich selber durfte kaum damit rechnen, abgeholt zu werden. Ich bin nicht der Typ, der aus der Ferne alte Freundschaften pflegt. Nicht mal aus der Nähe. Und in Hamburg hatte ich mich seit acht Jahren nicht blicken lassen.

Verdamp lang her, verdamp lang, verdamp lang her, hörte ich aus dem Jenseits den niederrheinischen Singsang meines Großvaters Edu. Dass er ausgerechnet jetzt BAP zitierte, war nicht anders zu erwarten.

Die Bahnhofshalle mit ihren gleisumspannenden Stahlträgern musste in der Zeit meiner Abwesenheit aufwendig restauriert worden sein. Die Sandsteinmauern des Gebäudes leuchteten hellgelb im Morgenlicht. Mit einer gewissen Genugtuung stellte ich fest, dass die Uhr an meinem Handgelenk mit der auf dem Bahnsteig auf die Sekunde genau übereinstimmte. Hinter mir hatte sich inzwischen eine kleine Schlange Mitreisender gebildet, die zur Tür gewandt auf den Halt des Zuges wartete. Aus dem Lautsprecher tönte die sächselnde Stimme des Schaffners: »Unser nächster Halt ist Hamburg-Tammdor! Our next stop is Hamburg-Tammdor.« Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen, und ein Koffer landete in meiner Kniekehle.

»Pardon!«, sagte dicht hinter mir der Mann, zu dem der Koffer gehörte. Ein Aktenkoffer aus Aluminium von enormer Schwere, wie meine Kniekehle schmerzhaft registrierte. Schon vorhin im Abteil hatte dieser Mann meine Phantasie in Unruhe versetzt. Er war von untersetzter, rundlicher Gestalt, hatte lockige graue Haare und buschige schwarze Brauen. Es waren seine flinken Augen im dunklen Gesicht, die in mir den Eindruck erweckt hatten, einem ganz gerissenen Typ gegenüberzusitzen, vielleicht sogar einem Mafioso, unterwegs von Palermo nach Hamburg, um dort einen einträglichen Auftrag zu erfüllen. Zwischenzeitlich hatte er sich auf die Abteiltoilette verzogen, ohne den Aluminiumkoffer aus der Hand zu lassen, und war mit einem Kollar um den Hals zurückgekommen, dem weißen Kragen des Priesters, aber beruhigte mich das?

Hinter mir knurrte jemand ungeduldig: »Knopp drücken!« Typisch Berliner Schnauze.

»Knopf drücken kann jeder«, rief ich zurück. »Hier geht’s darum, es im richtigen Moment zu tun.« Die grüne LED-Anzeige des Türöffners leuchtete auf. Ich drückte auf den Knopf, und zur Erleichterung aller öffnete sich kurz darauf die Waggontür des ICE. Doch als ich die schmalen Stufen runterkraxeln wollte, verhakte sich der Riemen meines Rucksacks in der Schnalle des Aluminiumkoffers. Ich wurde zurückgerissen und prallte gegen den runden Bauch des Priesters.

»Pardon!«, murmelte er geistesabwesend, dabei meinte ich aus seiner rauen Stimme einen leichten italienischen Akzent herauszuhören, was meine These verfestigte, dass ich es mit einem Mafioso im Priestergewand zu tun hatte.

»Warten Sie, wir müssen unser Gepäck kurz absetzen. Aber nicht direkt vor der Wagentür. Dort drüben vielleicht.« Ich wies auf den gelb umrandeten Raucherbereich. Der Priester nickte zurückhaltend. Und so tippelten wir wie siamesische Zwillinge ein paar Schritte beiseite.

»Pardon!«, wiederholte er nun schon zum dritten Mal, als wir unsere Gepäckstücke endlich entkoppelt hatten. Dann senkte er den Kopf. Kam jetzt die vierte französische Entschuldigung? Nein, er lächelte nur verhalten und schritt würdevoll davon.

Er hätte zum Abschied zumindest Amen sagen können, dachte ich, und Edu schob noch die Empfehlung Geh mit Gott, aber geh! hinterher. Die Mitreisenden liefen auseinander, der Bahnsteig leerte sich, der Zug fuhr wieder an, seinem Endbahnhof Altona entgegen. Zu meiner Überraschung wurde ich plötzlich von hinten umarmt. Ich befreite mich und drehte mich um.

»Doktor Nikola Rührmann zurück in Hamburg!« Taxi-Christian lachte, dass sein Adamsapfel hüpfte. Sein Fusselbärtchen war ergraut, aber seine Brillengläser glänzten verschmiert wie eh und je. »Herzlich willkommen!«

»Krischaan! Unglaublich, dass du mich tatsächlich abholst.«

»Nik, altes Haus, deine erste Kutschfahrt in Hamburg nach so vielen Jahren, die überlasse ich doch keinem anderen.«

Wir drückten uns innig.

»Unfassbar, dass du wieder da bist«, sagte er und hatte tatsächlich kleine Schluchzer in der Stimme. »Aber so ist unsere Nik. Da hört man jahrelang nichts von ihr und dann kündigt sie ihre Ankunft so unvermittelt an wie …« Er suchte nach einem Vergleich.

»Wie Bianca Castafiore per Telegramm ihren Besuch auf Schloss Mühlenhof?«, half ich ihm weiter.

Christian zückte sein Handy, schaute aufs Display und las: »Ankomme 10.08.2009 Hamburg-Dammtor um 9:00 Uhr. Nikolaus.« Er steckte das Handy zurück in die Hosentasche. »Die SMS ist von gestern Abend.«

»Es hat prompt nicht gestimmt. Der Zug hatte zwei Minuten Verspätung.«

»Immer noch so zahlenfixiert?« Er betrachtete mich, nahm meine weiße Bluse in Augenschein, das Jackett und den züchtigen Rock, und stupste mich dann in die Seite. »Gut siehste aus.«

»Den Kampfanzug trage ich nur, weil ich mich für einen Job vorstellen muss.«

Christian griff nach meinem Rucksack.

»Und?«, fragte ich. »Wie ist es dir inzwischen ergangen als …«, ich holte tief Luft, um die folgende Substantivierung zu bewältigen, »als Groß-Raum-Taxi-Unternehmer?« Anerkennend klopfte ich gegen sein kleines Bäuchlein, das der Rollkragenpullover nur ungenügend versteckte. »Hunger zu leiden scheinst du ja nicht.«

»Hey, Drag King, gefalle ich dir etwa nicht?«

»Hey, taxi driver, you are talkin’ to me?«, gab ich zurück, während wir die Bahnsteigtreppen runterliefen.

»Hey, Butch Cassidy!«

»Hey, Crackpot!«

Wir traten aus der Bahnhofshalle. Die Wipfel der Bäume in Planten un Blomen wiegten sich im Wind. Ich blickte auf das Radisson Hotel und den Fernsehturm, die in den strahlend blauen Himmel stachen.

»Tja. Nu’ hat Hamburg mich wieder.«

»Das musst du erst noch beweisen, du Quiddje.«

Am Ende des Taxistands wartete eine weiße Stretch-Limousine. Ein paar Taxifahrer hatten sich neugierig um sie geschart und warfen, die Hände respektvoll hinterm Rücken verschränkt, einen Blick ins Innere der Prachtkarosse.

»Voilà!« Mit einladender Geste öffnete Christian mir die hintere Autotür und half mir galant beim Einsteigen. Die Kollegen verzogen sich stillschweigend.

»Das ist ja wohl ein Scherz!«, entfuhr es mir. »Eine Ziehharmonika auf Rädern?«

»Nein, eine Übergangslösung«, sagte Christian. »Meine übrigen Taxen sind auf Schicht oder in Reparatur.«

Ich ließ mich in das weiche Polster fallen, und Christian schloss behutsam die Tür. Sie dankte es ihm mit einem sanften Klack. Christian rutschte hinters Steuer und startete die Limousine.

»Sapperlot, bist du weit weg«, rief ich ihm von meinem Platz aus zu, während ich neugierig alles um mich herum betrachtete. Goldfarbene Leisten glitzerten an den Wänden und Brillantimitationen in den Mittelarmlehnen der Sofasessel. Ein Kühlfach mit Silberbechern für den Champagner fehlte ebenso wenig wie ein Humidor samt Zigarrenabschneider. »Ich bin beeindruckt!« Ich drückte vorwitzig einen Knopf am eingelassenen Seitenfach meines Sitzes, woraufhin eine von innen beleuchtete Acrylglas-Kugel unaufdringlich Parfüm verströmte. Na ja.

»Wohin soll denn die Reise gehen?«, bellte Christian von vorne.

»Direkt zum DESY, lieber Extra Long Vehicle Driver. Ich bin schon spät dran.«

»Zu diesem Forschungszentrum in Bahrenfeld? Was willst du denn dort?« Die Limousine schnurrte los. Vom Motor war nur ein harmonisches Summen zu hören. Ich fühlte mich wie in einer sanft schaukelnden Wiege.

»Da wartet vielleicht ein neues Aufgabenfeld auf mich. Als Wissenschaftsreferentin. Forschungspolitik und so weiter. In …«, ich schaute auf meine Uhr, »51 Minuten beginnt das Vorstellungsgespräch.«

»Na, das hört sich endlich mal seriös an.«

»Weiß ich nicht. Es geht auch um Geld. In dem Einladungsschreiben war sogar von einem Sonderauftrag die Rede.«

 

»Das klingt allerdings mysteriös. Nach Geheimwaffen und Plutoniumschmuggel«, brummte Christian. Ich sah im Rückspiegel, wie seine Augen hinter der Nickelbrille aufgeregt blinzelten.

»Quatsch«, wiegelte ich ab. »Hinter dem Sonderauftrag verbirgt sich vermutlich was ganz Harmloses. DESY ist ein staatlich finanziertes Zentrum der Grundlagenforschung zur Untersuchung der Struktur der Materie. Was die Welt im Innersten zusammenhält und so.«

»Die machen da doch Materie und Antimaterie.«

»Die Physiker dort versuchen mit ihren Experimenten den Urknall im Labor zu simulieren.«

»Das ist sicherlich hypergefährlich. Beim Urknall ist doch schon damals alles auseinandergeflogen.«

»Ach Unsinn, Krischaan. Außerdem schaffen sie es bei ihren Experimenten sowieso nicht ganz zurück zum Ursprung. Dazu fehlt ihnen die Energie. Aber immerhin kommen sie bis auf eine Pikosekunde an den Big Bang heran.«

»Eine Piko was? «

»Ein Millionstel eines Millionstels einer Sekunde nach dem Urknall. Das sind die Bedingungen, die man in den Experimenten der Hochenergiephysik künstlich erzeugen kann.«

Christian überlegte kurz. Dann fragt er: »Wie lange ist der echte Urknall her?«

»Etwa vierzehn Milliarden Jahre.«

»Wenn man der Bibel glauben darf, war es ein Montag«, bemerkte Christian trocken. »Und was haben die fleißigen Physiker sonst so rausgefunden?«

Sieh mal an, unversehens mitten im Physikunterricht? »Materie, lieber Krischaan, besteht mehr oder weniger aus leerem Raum, in dem winzige Wellenpakete herumfliegen. Zeit und Raum sind keine konstanten physikalischen Größen, sondern relative. Das Universum dehnt sich aus, und zwar mit wachsender Geschwindigkeit. Unsere Sonne ist nur eine von etwa zehntausend mal Millionen mal Millionen mal Millionen von Sternen. Und mehr als zehn Milliarden Jahre brauchte das Universum, bis Leben auf der Erde entstanden ist.«

»Und was ist mit den schwarzen Löchern? Daran arbeiten deine Grundlagenforscher doch bestimmt auch.«

»Na klar!«

»Um daraus Bomben zu bauen.«

»Jetzt sei doch nicht närrisch. Grundlagenforschung ist …«, ich suchte nach einem passenden Begriff, »im Grunde genommen eine besondere Form der Kulturarbeit. Sie verfolgt keinen konkreten Produktionszweck, verstehst du?«

»Nö«, sagte Christian nur. »Für irgendwas muss sie doch gut sein?«

»Auf genau solch eine Frage soll der Physiker Michael Faraday einem englischen Ministerialbeamten mal geantwortet haben: Ich weiß nicht, für was meine Arbeit einmal gut sein wird. Aber ich weiß, dass Sie Steuern darauf erheben werden.« Ich lachte über mein gelungenes Zitat. Christian nicht. »Aber natürlich strahlt die Grundlagenforschung stark auf Wirtschaft und Gesellschaft aus«, dozierte ich weiter Richtung Fahrersitz. »Der Kühlschrank, die Tischlampe, CD-Player und Computer, letztlich alle Technik basiert auf Grundlagenforschung. Indirekt sorgt sie also für die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität.«

»Auch für die der Waffenindustrie? Im Rahmen eines Sonderauftrags.«

»Ach, Krischaan.« Er blieb einfach unbelehrbar. Ich sank erschöpft in die Polster der Sitzbank zurück und blickte aus dem Fenster.

Wir fuhren an den neuen Messehallen vorbei, in großem Bogen auf die Fruchtallee und im Mahlstrom des Berufsverkehrs in den Westen der Stadt. Hamburg hatte sich verändert. Wie alles sich verändert mit der Zeit. In kleinen, unmerklichen Schritten. Unaufhörlich. Unentwegt.

»Wie geht es Esthie?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

Christian zuckte traurig die abfallenden Schultern und lehnte sich, die Arme steif ausgestreckt, vom Steuer zurück. »Esthie will bald in die Schweiz fahren.«

»Das ist doch schön. Hast du was gegen die Berge?«

»Leider will sie nicht mit mir fahren, sondern mit einer Freundin.«

»Hin und wieder braucht eine Frau so was wie eine Auszeit, das ist normal«, murmelte ich mechanisch. Ich war in Gedanken schon im Forschungszentrum. Ob ich den Job bekommen würde? Ich konnte ihn gut gebrauchen. Seit Beginn der Finanzkrise war ich ohne feste Arbeit. Berlin hatte mir schon lange nichts mehr zu bieten. Wie unglaublich frei ich jetzt war. Aber was nützte mir das? In diesem Land konnte ich überallhin, aber bedauerlicherweise nicht mehr raus.

In der Fruchtallee klaffte in einer Häuserzeile eine Lücke. Was hatte an dieser Stelle mal gestanden? Ich konnte mich nicht erinnern.

»Leider fällt ausgerechnet mein Geburtstag in Esthies sogenannte Auszeit«, kläffte Christian nach hinten. »Für so viel Gleichgültigkeit kann ich wirklich kein Verständnis aufbringen.«

»Wenn wir die Frauen verstehen könnten, ginge viel von ihrem Zauber verloren«, erwiderte ich und schaute seitlich zum Fenster raus. Eine flanierte gerade auf der anderen Straßenseite über den Bürgersteig. Ihr kurzes Kleid flatterte im Wind. »Sie sind hier viel modebewusster als in Berlin«, stellte ich fest.

Christian manövrierte die Stretch-Limousine souverän durch den dichten Autoverkehr, wechselte lässig die Spuren, als würde er nicht dieses überdimensionale Ungetüm lenken, sondern einen schnittigen Zweisitzer.

»Wie geht es Jan N Punkt?«, fragte ich.

»Weiß nicht. Seit der Trennung von Xiao-hong hab ich ihn nicht mehr gesehen. Du weißt doch davon?«

»Ja, ja.« Asphalt-Wilfried hatte mir bei seinem Besuch vor anderthalb Monaten in Berlin davon erzählt. Ich war damals in einer verdammt melancholischen Stimmung gewesen. Und die Nachricht von Jans Trennung hatte mich weiter runtergezogen. Du hast die Midlife-Crisis, ming Mädsche, hatte Edu mir von seiner Wolke heruntergebetet. Aber das war es nicht. Ich fand es bloß hart, wie sich alles veränderte. In kleinen, unmerklichen Schritten. Unaufhörlich. Unentwegt.

»Und hast du was von Wilfried gehört?«, fragte Christian.

»Nein«, log ich. Dieser verfluchte Alkohol. Diese verdammte Midlife-Crisis. Und diese verdammte Missionarsstellung. Da ist die Chance, schwanger zu werden, am größten …

»Heute im Zug saß ich einem Priester gegenüber«, sagte ich rasch, um auf andere Gedanken zu kommen. »Erst habe ich ihn für einen Mafioso gehalten. Bis er sich das Kollar angelegt hat, du weißt schon, diesen Priesterkragen, da sah er plötzlich ganz seriös aus, komisch, nicht? Das heißt, ich finde das eher beunruhigend als komisch.«

»Meine Schwester Rosi hat mir mal ein Priestergewand zum Fasching geschneidert. Auf dem Fest hatte ich damit aber kein Glück bei den Frauen.«

»Lässt sich denken.«

Während sich Christian in einer umständlichen Beschreibung der Herstellung des Priestergewands erging, ließ ich die Bilder der Stadt am Autofenster vorbeiziehen und gab mich der Vorstellung vom bürgerlichen Leben als Forschungsreferentin in Hamburg hin. Daran würde ich mich erst noch gewöhnen müssen.

»Alles wird dann nur noch mit der Nähmaschine zusammengenäht«, beendete Christian seinen Vortrag, als wir in eine Toreinfahrt einbogen.

»So eine Nähmaschine ist seit langem mein größter Traum«, murmelte ich.

Wir waren angekommen. Von außen wirkte das Labor recht unspektakulär. Die zwei- bis dreistöckigen Gebäude machten nicht den Eindruck, als wären sie Brutstätte einer hochkomplizierten wissenschaftlichen Zukunft. Die Pförtner winkten uns einfach durch.

»Normalerweise muss man sich an dieser Stelle als Besucher anmelden«, wunderte sich Christian, zuckte die Achseln und fuhr durch die offene Schranke.

»Dein Long Vehicle ist eben so eindrucksvoll, dass sich niemand traut, uns anzuhalten.« Zwar kein Fahrzeug, um inkognito von A nach B zu kommen, aber zweifellos eines, mit dem man ankam.

Die Stretch-Limousine hielt großartig vor dem Hauptgebäude des DESY, auf dem Werksgelände blieben Leute staunend stehen, sogar aus den Fenstern schauten einige heraus. Christian sprang aus dem Auto, um mir die Tür aufzuhalten. Ich prüfte im Spiegel Frisur, Teint und Outfit. Alles so weit okay. Ich konnte mich sehen lassen. Lippenstift wollte ich keinen auftragen. Ich entstieg der Limousine und warf mir meinen Rucksack auf den Rücken.

»Viel Glück bei deinem Sonderauftrag, Nik Knatterton!«

»Danke, Krischaan. Ach, und hier noch eine kleine Rechenaufgabe, die dich von trüben Gedanken ablenken wird.«

Christian stöhnte auf. »Nee, nich al wedder.«

»Nur eine klitzekleine Aufgabe«, beruhigte ich ihn. »Was ist zwölf Millionen dreihundertfünfundvierzigtausend sechshundertneunundsiebzig mal neun?« Ich sagte die Zahl wie zum Mitschreiben auf. »Nein, du musst die Lösung nicht gleich ausrechnen. Gib sie mir bei unserem nächsten Treffen.«

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