Universe far. Eine Traumnovelle

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Universe far. Eine Traumnovelle
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Ankalina Dahlem







Universe far







Eine Traumnovelle

















1. Auflage 2019



© Edition Faust, Frankfurt am Main 2019



Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.







www.editionfaust.de







Alle Zeichnungen in diesem Buch: Ankalina Dahlem



Lektorat: Elvira M. Gross



Druck: druckhaus köthen GmbH & Co. KG



Printed in Germany



ISBN 978-3-945400-71-5



eISBN 978-3-945400-67-8




Inhalt





Universe far







Über den Autor








Für meinen Vater





Ich habe bis jetzt niemanden getroffen, der so gut erzählen kann. Wie zappelnde Fische holt er die Geschichten mühelos aus einem nie leer werdenden Netz. Wir sind miteinander um die Wette geschwommen, bis es am Horizont keine Wolke mehr gab

.






„Ich glaube an die zufällige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“





André Breton





Ich hatte wieder diesen Traum. Die Sonne schien durch die weißen Vorhänge, und der Wind blähte sie in Richtung des Bettes auf. Als würde sich in diesem Zimmer jemand verstecken. Die Einzige, die sich hier verkrochen hatte, war ich.



„Kleine Snackgurken, zwei Bund Dill, grobes Meeressalz, drei Knoblauchzehen, ein Teelöffel Pfefferkörner ins Einmachglas gesteckt und mit Wasser aufgegossen“, dachte ich und schloss die Augen, um erneut einschlafen zu können. Ich fühlte mich schwer vor Müdigkeit wie eine eingelegte Gurke.








Gründlich sortierte ich die Bilder in meinem Kopf. Ich sah wild drehende ausgestreckte Windmühlenflügel, über denen weit oben am Firmament die Möwen kreisten. Dort blitzten hell ihre Federn wie leuchtende Sterne. Ich hörte verzerrte Stimmen, deren Worte ich nicht verstand. Ein Gesicht pendelte über allem. Als ich es anfassen wollte, griffen meine Hände ins Leere. Verstört wachte ich auf.



Ich bin Holländerin. Womöglich erschienen darum in meinem Schlaf die Windmühle und die Möwen. Es gibt aber auch zahlreiche Kühe bei uns zu Hause. Doch in meinen Träumen hatte ich keine gesehen. – Noch nicht mal ein Kälbchen. Auch zu Geisterstimmen fiel mir nichts und niemand ein. Auf der Suche nach realen Bezügen rätselte ich weiter. Schließlich dachte ich an meinen Vater. Er ist Fischer und wünscht sich inniglich, dass ich bald nach Holland zurückkomme.



Inzwischen war ich wach. Ich stand auf und huschte die kleine graue Marmortreppe zur Küche hinunter. An der Pinnwand neben dem schweren Holztisch fand ich eine Notiz meiner Tochter.



Sie hatte das Papier unter ihr Foto gesteckt. Darauf war sie zwei Jahre alt und lag auf mir in der Badewanne. Schon damals glichen wir uns wie ein Ei dem anderen. Mein Vater unkte bei ihrer Geburt: „Großer Fisch und kleiner Fisch.“








Auf dem Zettel stand:



Mamele, du hast fest geschlafen. Ich bin für die nächsten Wochen bei meinem Vater. Ruf mich an

.





Dicken Kuss!





Darunter ein Smiley.



Ich schüttelte ungläubig meinen Kopf. Wollte sie die kommende Zeit auf dem Friedhof verbringen? Aber der Mann war ja nur für mich tot. Seine Existenz hatte ich abgelegt – ganz vorn direkt hinter dem Haupteingang des Zentralfriedhofs. In der braunen Erde lagen die wenigen Erinnerungen an ihn begraben, und der Kalk tat sein Übriges, auch sie zu zersetzen.



„Ein leeres Kapitel in meinem Leben.“ Ich setzte mir seufzend einen Kaffee auf und ging ins Bad. Unter der Dusche dachte über einen weiteren Traum von heute früh nach.



Ich erinnerte mich an einen Mann, den ich vor etlichen Jahren am Strand von Acapulco getroffen hatte. Wir waren zusammen in meinem Hotelzimmer. Sex hatten wir nicht. Schließlich war er verheiratet. Das hatte ihn aber nicht daran gehindert, mir inbrünstig die Fußsohlen zu küssen. Bestimmt war er Katholik. Für mich war das interessant, da ich die Praktik nicht kannte. Weder vorher noch nachher hatte ein Mann so an meinen Füßen geschnäbelt. Ich weiß noch, dass ich in diesem Moment mit einem wohl wonnigen Lächeln an Holland dachte: „Richtige Kaasquanten.“








Er ist ein berühmter Fernsehstar. Wenn andere von ihm und seinen Filmen schwärmen, erinnere ich mich an meine abgeschlabberten Sohlen. Ob er wild nach holländischen Käsefüßen war – gar französische mochte oder die schweizerischen vorzog? Vielleicht hatte er diese Vorliebe nur für meine? Ich weiß es nicht. Warum träumte ich von ihm heute Nacht?








Nach dem Duschen trocknete ich mich ab, warf mir den Bademantel über, kämmte mein Haar, baute mir aus einem kleinen Handtuch einen Turban auf dem Kopf, tuschte die Wimpern, prüfte mit ein paar Grimassen im Spiegel mein Gesicht: „Oh, ah, ih, uh!“ Dann holte ich meinen Kaffee. Mit der Tasse in der Hand schlenderte ich zufrieden zum Teich im Innenhof meines Hauses. Gerade wollte ich mich auf die kleine Mauer am Beckenrand setzen, da entdeckte ich Sammy in Seitenlage auf dem Wasser treibend. Ich erstarrte, ich schrie. Ich weiß es nicht. Mit dem Tod meines allerliebsten und einzigen Gefährten war meine Welt auseinandergefallen wie die weiße Espressotasse, die jetzt nutzlos in zwei Stücke zerbrochen auf dem Boden lag.



Dann heulte ich hemmungslos um Sammy und obendrein um mich. Ich spürte, dass meine Wunde an der Oberlippe heftig zu pochen begann. „Keine Aufregung!“, hatte der Doktor mir geboten.



Mein Leben zeigte mir klar, wie allein ich war. Durchlässig kam ich mir vor, als trüge ich eine Papiertüte mit Obst in der Hand. Darin lagen ausschließlich meine Früchte. Es blieb auch nicht viel Zeit, den Beutel mit anderen Erträgen zu füllen. Ein Behältnis aus Papier, das sich über die Jahre wie unter Wasser liegend aufgelöst hatte. Es war weich geworden. Für anderes Obst gab es jetzt wohl keinen Platz mehr.



„Zum Schluss gehe ich zu meinem Planeten zurück. Dort werden sie mich fragen, wie es unter Menschen war. Wenn ich erst mit meiner Schilderung zu Ende gekommen bin, werden sie weinen und mich in den Arm nehmen!“ Dabei flennte ich noch verzweifelter.



Und jetzt auch noch Sammy. Ich zog den siebenundsechzig Zentimeter großen und neun Kilo schweren Fisch aus dem Bassin und legte ihn auf meine nackten Oberschenkel. Zärtlich liebkoste ich seinen weißen Rücken mit den karminroten Feuerflecken. Der erste Farbklecks auf seinem Hinterkopf sah aus wie eine in Aquarell gemalte, vierblättrige rote Tulpe. Der zweite auf seinem Rücken erinnerte an einen Frauentorso. Der dritte Tupfen, vor seiner Rückenflosse, sah aus, als hätte ihm jemand noch schnell ein rotes Herz fixiert.

Kōhaku – Cyprinus carpio

. „Mein treuester Freund!“ Er war immer zu klein für sein Alter und eine Spur zu leicht. Aber zweifellos war er bereits über siebzig Jahre alt und weltweit der Betagteste seiner Art. Meine Mutter hatte ihn im Krieg gegen ein Stück Brot mit Butter und Salz getauscht. Das ist eine Weile her. Mein Vater schenkte ihn mir zum abgeschlossenen Studium. Seinetwegen hatte ich überhaupt Meeresbiologie studiert und arbeitete nach meinem Abschluss in einem internationalen Forscherteam. Auf einem Kutter im Golf von Mexiko, zehn Meilen vor Key West, entdeckten wir in einem Netz einen fünf Meter großen Koboldhai. Einen

Tengu

.








Das ist ein Mischwesen aus Vogel und Mensch. Die Art ist sehr selten und lebt in einer Meerestiefe von eintausenddreihundertundfünfzig Metern. Ein Ungeheuer! Vor seinen Augen trug der

Tengu

 ein langes Horn, als hätte er sich zu einem schaurigen Maskenball verabredet. Aus seiner gestreckten Schnauze ragten Zähne, spitz wie frisch gefeilte Metallnägel. „Hässlicher als meine Schwiegermutter!“



Trotz seiner Monstrosität tat mir das Wesen leid. Man hätte es gewiss getötet und seziert. Deshalb wälzte ich das fleischfarbene Scheusal mit all meiner Kraft zurück ins Wasser. Das Tier tauchte sofort in die Tiefe des Meeres ab.



Paradoxerweise waren mein Vater und Sammy die Einzigen, die dafür Verständnis hatten. Sammy blubberte etwas von: „Wä weiß, woofürr wür iahn noch braucken!“ Ganz habe ich ihn nicht verstanden. Es lag wohl daran, dass er diesen Satz Insekten in seinem Fischmaul kauend hervorbrachte. „Ein Fisch sollte wirklich nur dann reden, wenn er das Maul nicht zu voll nimmt.“

 



Nach diesem Vorfall war ich für die Wissenschaft unbrauchbar geworden, und man schloss mich aus der Forschergemeinde aus. Daraufhin begann ich Illustrationen von Fischen anzufertigen. Mittlerweile bin ich in einem Kreis von Sammlern weltweit bekannt geworden. Sie schicken mir Fotos ihrer Fische zu. Diese male ich großformatig in Öl auf Leinwand.



Ich strich meinem Sammy liebevoll über seine seidigen Schuppen, die mit ihrer weißen und roten Farbigkeit nicht an die Luft passten.



„Ein Leben ohne Fisch Sammy ist nicht vorstellbar.“



Meine Oberlippe hämmerte. Hoffentlich würde sich die Wunde nicht öffnen. Es passierte vor fünf Wochen. Damals hatte ich meinen Vater zu Hause besucht. Seine Augen sahen mittlerweile mindestens so schlecht, wie seine Ohren hörten. Leider blieben meine laufenden Beschwörungen diesbezüglich erfolglos. Weder Brille noch Hörgerät durften den Verrat des Alters an ihm bezeugen.



Nach einem guten Frühstück (ich liebe

Hagelslag op Brotje

) gingen wir ans Meer. Er wollte mir seine neuste Angel vorführen. Wie gewöhnlich warf er die Rute im weiten Bogen zum Fischen aus. Unglücklicherweise landete der Haken auf meiner Oberlippe. Er zog und zog in der Annahme, er hätte einen Fisch an der Angel. Nein, meine Schmerzensschreie vernahm er nicht. Der Angelhaken riss meine Lippe entzwei. Ich blutete wie ein frisch geschlachtetes Schwein. Mein Mundrand war geöffnet wie ein aufgeschlitzter Fischbauch. Erst als ich ihn wie ein tollwütiger Hund schlug, sah er zu mir und verstand, was passiert war.



Wie Joop Zoetemelk radelte der Alte mich nach Den Burg. Ich hockte auf dem Gepäckträger und umklammerte fest seinen Bauch. Dabei hinterließ ich auf dem Asphalt eine schmale Blutspur. Die runden Tropfen sahen aus wie winzige leuchtende Planeten.



Irgendein holländischer Metzgerarzt nähte mir die Lippe notdürftig zu. Es sah schlimm aus. Zu allem Unheil infizierte sich die Wunde. Doch vorgestern behob der hoch geschätzte israelische Schönheitschirurg Raphael Boiko den Schaden mit dem Versprechen, dass alles wieder gut werde.



Deswegen sitze ich in diesem Haus tagaus, tagein. Mein Vater ruft dreimal am Tag an und erkundigt sich nach meinem Heilungsprozess.



Er hat ein schlechtes Gewissen. Bestimmt denkt er, dass ich – jetzt entstellt – keinen Mann auf der Welt finden werde, der mich nimmt. Dabei hatte ich nach dem Eingriff in einer Tageszeitung gelesen, Sex mit Behinderten gelte als besonders attraktiv.



Der zweiseitige Artikel handelte von einer gehbehinderten Frau, die ihre große Liebe getroffen hatte. Der Mann saß im Rollstuhl, und sie haben es ohne Unterlass gemacht. Nach Monaten kochte sie ihm in ihrer behindertengerechten Küche sein Leibgericht. Die aufgewärmten Rouladen drohten zu verbrennen. In Panik geraten, zog sie die heiße Pfanne vom Herd und schmiss sie dem Mann auf den Schoß. Der Kerl brüllte wie am Spieß und sprang von seinem Rollstuhl auf. Erst da begriff sie, dass er den Invaliden nur gespielt hatte. Sicherlich hätte jemand wie ich naiv gedacht: „Den hast du geheilt!“



So ist das mit Wundern. Meine Tränen fielen lautlos auf Sammy. An Feuchtigkeit mangelte es ihm nicht. Da begannen seine weißen Flossen zu zappeln. „Sammy!“ Schnell, aber behutsam setzte ich ihn in seinen Teich zurück.



„Ein Leben mit Sammy!“ Der Fisch blinzelte mir zu und rief: „Da habe ich dir einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Du solltest ein Bild von mir malen. Aber als Erstes meine gebrochene Schwanzflosse reparieren. Ich bin zu schnell um den Stein geschwommen.“



Damit hatte er für die nächsten Jahre genug gesprochen. Er redet ausschließlich im Notfall. Ob es Faulheit ist? Ob er besonnen mit Wörtern umgehen möchte? Oder ob er etwas Besonderes sein will? Das habe ich in unserer gemeinsamen Zeit noch nicht herausfinden können.



Ich wischte mir die Tränen ab und ging in die Küche. Im Kühlschrank fand ich bereits geschnittene Wassermelonenstücke auf einem Teller, den ich auf den Tisch stellte. Im Regal gab es eine Packung Streichhölzer, eine Handvoll Haushaltsgummis, eine Zange und ein paar Dutzend Büroklammern. Die exakten Maße von Sammy kannte ich, und so machte ich mich ans Werk.



Ich brauchte achtzehn Streichhölzer, die ich mit drei Gummiringen und mit neun gebogenen Büroklammern in der Zange zu einer Konstruktion zusammenführte. Wieder mal fiel mir auf, wie logisch die Welt der Mathematik ist.



18 = 3 x 6.



Die Hälfte von achtzehn = neun.



Drei weniger als neun und schon hat man ein Drittel.



Während ich mein Werk betrachtete, steckte ich mir genüsslich die Melonenstücke in den Mund. Dann brachte ich die Arbeit mit dem Obstteller in der Hand zum Fisch.



„Sammy!“ Das Tier tauchte augenblicklich aus dem Wasser auf. Verständig nahm es seinen Platz am Beckenrand ein, auf dem ich saß.



„Dann schauen wir mal!“



Ich brachte fachmännisch die Schiene an. Zu meiner Freude saß sie wie eine Eins. Er hatte auch hinlänglich Platz zum Wedeln mit der jetzt versorgten Flosse.



„Fertig!“ Sammy drehte seinen Kopf zu mir. Wir schauten uns an. Dann schwamm er mit einem Ruck davon. Jetzt würde sich meine Konstruktion beweisen müssen. Ich sah ihn nicht mehr im tiefen Teich. Als ich ungeduldig ein Melonenstück in das Wasser warf, tauchte er auf. Offensichtlich und zu meiner allergrößten Freude hatte es geklappt. F

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