WattenAngst

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SIEBEN

„Wir sind den Fall los“, begrüße Kai Christensen Wiebke, als sie gut zwei Stunden später das Revier an der Poggenburgstraße erreichten. Petersen war wortkarg im Büro verschwunden, das er sich seit Jahren mit Wiebke teilte.

Eigentlich hatte sie sich nur kurz im Büro ihres Vorgesetzten zurückmelden wollen, den Kopf durch die Tür stecken. Doch in Anbetracht dieser Nachricht trat Wiebke ein. Leise drückte sie die Tür hinter sich zu. Sie wunderte sich ein wenig über Kai Christensens betroffene Miene.

„Jetzt schon?“ Wiebke runzelte die Stirn.

Christensen seufzte. „Die Kollegen aus Flensburg haben den Berger-Mord nun ganz offiziell übernommen.“

Wiebke betrachtete ihren Vorgesetzten. Wie immer trug er einen Anzug. Eine feine Note seines After-

shaves hing im Raum. Dennoch sah er müde und schwach aus.

Jetzt lächelte er matt zu ihr auf. „Trotzdem gibt es Arbeit für uns.“

„Immerhin kann sich die Mordkommission jetzt mit der Staatsanwaltschaft herumärgern, nehme ich an?“ Der Ansatz eines schadenfrohen Grinsens stahl sich in ihr Gesicht.

Der Kripochef nickte. „Sowieso. Hast du mit Jan die ersten Erkenntnisse in Hockensbüll zusammengetragen?“

Wiebke nickte. „Allerdings ist das in Anbetracht der kurzen Zeit vor Ort nicht allzu viel, fürchte ich.“

„Wie dem auch sei, ich bin sicher, dass ihr gute Vorarbeit geleistet habt, danke. In einer Stunde gibt es ein Meeting mit den Kollegen im Konferenzraum. Ich habe die Büros oben schon herrichten lassen.“

„In Ordnung. Ich werde Jan berichten, vielleicht ist er dann ein wenig motivierter.“

Kai Christensen schien Petersens ablehnende Haltung gut nachvollziehen zu können. „Es geht ihm gegen den Strich, dass die Kollegen des K 1 ihm die Arbeit abnehmen, was?“

„Es geht ihm sogar gewaltig gegen den Strich“, stimmte Wiebke ihm zu.

„Er soll nicht traurig sein, ich habe schon neue Arbeit“, wiederholte Kai Christensen.

„Ein Fahrraddiebstahl?“ Wiebke konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen, doch der Kripochef ging nicht darauf ein.

„Eine vermisste Person“, eröffnete Christensen ihr. Er beugte sich vor und faltete die Hände auf dem Schreibtisch, fast so, als wolle er beten. „Kerstin Möller, 36 Jahre alt, ledig, aus Husum. Sie kam gestern Abend vom Joggen nicht nach Hause.“

„Meldet wer?“ Wiebke zog sich den Besucherstuhl heran und ließ sich darauf sinken. Sie zückte ihren Block und einen Stift.

„Ihre Vermieterin, eine alte Dame. Sie zeigte sich äußerst besorgt, da sie Kerstin Möller als sehr zuverlässige Person beschrieben hat.“ Christensen nestelte an der dunkelblauen Krawatte, die hervorragend mit seinem himmelblauen Hemd korrespondierte, herum. Er nahm einen Schnellhefter aus der Schreibtischschublade und hielt ihn hoch. „Hier steht alles drin, musst also nicht mitschreiben.“

Wiebke legte den Stift neben den Block und lehnte sich entspannt zurück. „Wo können wir bei der Suche nach Kerstin Möller ansetzen?“

„Spaziergänger haben heute Morgen in einem Waldstückchen bei Mildstedt herrenlose Sportbekleidung gefunden. Die Kleidung stammt von einer weiblichen Person, Konfektionsgröße 38.“ Christensen blätterte in den Unterlagen, während er redete. „Und auf dem angrenzenden Parkplatz steht ein Kleinwagen, Marke Kia. Die Halteranfrage hat bereits ergeben, dass das Fahrzeug auf die vermisste Kerstin Möller zugelassen ist.“

Für Wiebke gab der Fall nicht allzu viele Rätsel

auf. „Vermutlich ein Sexualdelikt“, vermutete sie spontan.

Christensen zuckte die Schultern. „Möglich. Von der Besitzerin der Bekleidungsstücke fehlt jede Spur. Es gibt wohl Schleifspuren im Morast. Möglicherweise hat jemand auf die Frau gewartet und sie außer Gefecht gesetzt und entführt.“

„Dann sehe ich mir das gleich mal vor Ort an.“

Christensen erhob sich und trat an das Bürofenster. Auf der gegenüberliegenden Seite rollte ein Güterzug in gemächlichem Tempo in Richtung Bahnhof vorbei. Die Eisenbahnbrücke wirkte trist an diesem Morgen, fand Wiebke, die dem Blick ihres Vorgesetzten folgte.

„Ich schau mir das an und fahre dann weiter zur Vermieterin der Frau.“

Christensen nickte, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Versuch mal, einen DNA-Abgleich zu bekommen, Piet ist schon vor Ort.“

„Wird gemacht.“

Der Kripochef wandte sich um, trat an den Schreibtisch und reiche Wiebke den Schnellhefter. „Hier steht alles drin“, sagte er.

Wiebke schob Block und Stift zurück in die Jackentasche und erhob sich. Sie freute sich, dass es einen neuen Fall gab, und hatte nicht vor, dass sich die Flensburger Mordkommission noch einmal einmischte. Noch war Kerstin Möller nur als vermisst gemeldet. „Bin schon unterwegs.“

Als das Telefon auf Christensens Schreibtisch klingelte, nutzte sie die Gelegenheit, das Chefbüro zu verlassen.

*

Es waren knapp fünfzehn Beamte der Kripo Husum und der Kollegen aus Flensburg, die sich eine Stunde später unter dem Dach des Polizeireviers zusammengefunden hatten, um ihre Erkenntnisse auszutauschen. Vor Kopf des langen Besprechungstisches unter der Schräge hatte sich Kai Christensen eingerichtet, neben ihm Hauke Jensen. Er hatte vorgeschlagen, dass sich die Kollegen des K 1 mit denen aus Husum austauschen sollten. Für Wiebke konnte das bedeuten, dass auch der Leiter der Flensburger Mordkommission einen Zusammenhang aller Fälle nicht ausschloss.

„Was haben wir am Tatort des Attentates an brauchbaren Spuren sichern können?“, fragte Jensen, nachdem er und Christensen die Runde eröffnet hatten.

Piet Johannsen räusperte sich. Die Blicke der Anwesenden waren erwartungsvoll auf den Kriminaltechniker gerichtet. „Ein erstes ballistisches Gutachten hat hervorgebracht, aus welcher Richtung geschossen wurde.“ Johannsen machte eine kleine Pause. „Nach unseren Erkenntnissen stand der Todesschütze an der linken der beiden Torsäulen. Die Überwachungskamera hat er mithilfe eines Tuchs unbrauchbar gemacht – die Glaskuppel des Objektivs wurde mit einem Tuch und einem Einmachgummi verhüllt.“

Jan Petersen, der Wiebke gegenübersaß, zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Er freute sich diebisch, dass seine ersten Vermutungen bei ihrem Eintreffen am Tatort sich bewahrheiteten.

„Ein einziger Schuss genügte, um das Opfer zu treffen“, fuhr Johannsen fort. „Es stand zum Tatzeitpunkt am Fenster, wohl, um nach dem Rechten zu sehen, wurde von einem Projektil getroffen und stürzte durch das Fenster in die Tiefe, die Falltiefe beträgt knapp viereinhalb Meter.“

„War der Schuss oder die Verletzungen infolge des Sturzes todesursächlich?“, hakte Christensen nach.

„Der Abschlussbericht der Kieler Rechtsmedizin steht noch aus“, bedauerte Johannsen. Er nahm die Nickelbrille von der Nase, zupfte ein Taschentuch hervor und reinigte umständlich die Gläser. „Aber wenn man sich das Gutachten des Notarztes ansieht, deutet viel darauf hin, dass der Schuss als Todesursache infrage kommt: Der Arzt stellte eine Schussverletzung in Brust-

höhe fest, unmittelbar neben dem Herz. Er geht davon aus, dass Berger verblutet ist – über die weiteren Verletzungen, die er sich beim Sturz zuzog, ist noch nichts bekannt. Ich gehe aber davon aus, dass wir den Obduktionsbericht noch heute vorliegen haben werden.“

„Gut“, nickte Jensen. „Bitte bleiben Sie dran.“

„Alles klar.“

„Gibt es weitere Spuren?“ Christensen hatte sich erhoben. Er war an das Flipchart getreten und kritzelte mit einem Edding darauf herum.

„Fingerabdrücke auf dem Einmachgummi oder dem Tuch, das die Kamera verhüllt hat – negativ.“ Johannsen setzte eine bedauernde Miene auf. „Aber ich konnte Fußabdrücke an der Stelle sichern, von der mit großer Wahrscheinlichkeit der Schuss abgegeben wurde. Es handelt sich um ein relativ grobes Profil einer Sohle der Schuhgröße 45.“

„Na toll“, entfuhr es Petersen. „Eine Allerweltsgröße. Das wird die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.“

„Langsam mit den jungen Pferden“, bremste Johannsen ihn aus. „Anhand des Profils konnte ich eine BKA-Datenbank zurate ziehen. Demnach gehört die Sohle zu einem hochwertigen Schuh, der in unserer Gegend nicht allzu oft verkauft wird.“

„Also kein Schuhdiscount?“, schaltete sich Wiebke ein. Ihre Neugier war erwacht.

„Nein, Wiebke.“ Johannsen schüttelte den Kopf. „Offenbar stammt der Schuh aus einem recht exklusiven Laden in Kampen auf Sylt.“

Petersen pfiff anerkennend durch die Zähne. „Also haben wir es mit einem wohlhabenden Schützen zu tun?“

„Wenn eine unserer Theorien darin besteht, dass es sich bei der Tat um einen Auftragsmord handelt, dann wissen wir, dass diese Täter oft fürstlich bezahlt werden“, gab Christensen zu bedenken. Wiebke wunderte sich ein wenig darüber, dass der Husumer Kripochef eine derart kühne Theorie zu verfolgen schien. Sie fragte sich, ob es dafür einen Anhaltspunkt gab.

„Am Schuhgeschäft sind die Kollegen auf Sylt“, bemerkte Johannsen. „Ich habe Nele Paulsen darauf angesetzt. Sie war schon dort und hat versucht, eine Art Kundenkartei zu bekommen. Wenn uns das gelingt, dann führt uns das möglicherweise zum Täter.“

„Was kann man zur Tatwaffe sagen?“, fragte Jensen.

„Die Patronenhülse konnte bereits sichergestellt werden, die Herkunft von Munition und Waffe ist unklar, aber ich werde gleich nach dem Meeting die Datenbanken durchforschen. Möglicherweise trat die Waffe bereits in der Vergangenheit bei einer Straftat in Erscheinung.“

„Bis jetzt hat es den Anschein, dass es sich um eine nicht registrierte Waffe handelt. Sie taucht nicht in unseren Datenbanken auf, aber ich bleib dran. Es ist ein Kinderspiel, sich eine Waffe aus dem Darknet zu beschaffen und sie mit Bitcoins zu bezahlen“, brummte Tadsen, ein wortkarger Kriminaltechniker vom K 6 in Flensburg. „Ich stehe bereits mit dem BKA in Kontakt und versuche, die Herkunft der Tatwaffe zu rekonstruieren.“

 

Jensen nickte zustimmend.

„Wer sagt denn, dass es sich um einen Auftragsmord handelt?“, wagte Wiebke einen Einspruch. Sie warf Christensen einen Blick zu. Der Kripochef hob dezent den Daumen.

„Der Backgroundcheck von Hans Olaf Berger gestaltet sich äußerst komplex“, bemerkte der Strohblonde, der sich vorhin knapp als Rick vorgestellt hatte. Wiebke wusste nicht, ob das sein Vorname war oder ein Familienname. „Wir alle wissen, dass unser Opfer“, Wiebke fand, dass er das unser Opfer seltsam betonte, „kein unbeschriebenes Blatt in der Gesellschaft war. Er war ein äußerst erfolgreicher und wohlhabender Geschäftsmann, nicht umsonst nannte man ihn den Fürsten von Husum. Möglicherweise war er nicht überall beliebt.“

„Reicht das für einen Auftragsmord?“, warf Tamme Gerdes ein. Der Ostfriesenbulle richtete sich im Stuhl auf. Er legte die mächtigen Pranken auf die Tischplatte. „Könnt ihr euch vorstellen, dass es sich bei dem Auftraggeber unseres angenommenen Killers um einen Mitbewerber handelt?“

„Möglicherweise auch um jemanden, der sich von ihm betrogen fühlte“, erwiderte Rick schnell. „Wie wir wissen, hat er in letzter Zeit zunehmend Grundstückeigentümer mit harten Bandagen bekämpft, hat sie mit Hilfe der Behörden enteignet, um an ihre Flächen zu kommen.“

„Da tun sich möglicherweise Abgründe auf“, stimmte Jensen seinem Mitarbeiter zu. „Unter Umständen haben sich im Zuge dieser Enteignungen Tragödien abgespielt.“

„Das werde ich prüfen“, versprach Rick und machte sich mit dienstbeflissener Miene Notizen.

„Er hat seine Frau hintergangen“, warf Petersen in den Raum. „Dass er sie betrogen hat, ist kein Geheimnis mehr. Und dass sich zum Tatzeitpunkt nicht seine Ehefrau, sondern die Geliebte bei ihm befand, dürftet sogar ihr Schlafmützen auf dem Schirm haben.“ Jan Petersen musterte die Flensburger Kollegen feindselig.

„Was wollen Sie uns damit sagen?“, erkundigte sich Jensen. Eine steile Sorgenfalte hatte sich auf seiner Stirn gebildet.

„Drei Möglichkeiten“, sagte Petersen. „Möglichkeit eins: Der Killer wurde von der gehörnten Ehefrau beauftragt, um den notorischen Fremdgänger aus dem Weg zu räumen. Die Ehe bestand nur noch auf dem Papier, und Karen Berger wollte endlich an das Erbe des Mannes, der sie bloßstellte, indem er sich mit anderen Frauen vergnügte.“

Niemand am Tisch hatte Einwände. Rick schrieb eifrig mit und unterbrach Petersen kein einziges Mal.

„Möglichkeit zwei: Der Schütze wurde ebenfalls von Karen Berger beauftragt, er sollte allerdings die lästige Geliebte aus dem Weg räumen. Wie wir wissen, ging das in die Hose.“

„Das ist eine gewagte Theorie“, warf Jensen jetzt ein. „Aber gut, wir sollten nichts außer Acht lassen.“ Er setzte sich, trommelte auf dem Tisch herum. „Und: Möglichkeit drei?“

„Möglichkeit drei wäre, dass der Mörder, wenn wir weiter davon ausgehen, dass es sich um einen Auftragsmord handelt, von der Geliebten des Opfers beauftragt wurde.“

„Das Motiv erschließt sich mir nicht“, kritisierte Jensen.

„Wenn es eins gibt, werden wir es herausfinden“, mischte sich jetzt Kai Christensen ein. „Was wissen wir denn über die Affäre des Opfers?“

„Annika Rüther, 38 Jahre, ledig“, sagte Wiebke, die sich mit der Vita der Geliebten von Hans Olaf Berger beschäftigt hatte. „Sie betreibt eine Wassersportschule in Westerland.“

„Wir sollten Klaus mit ins Boot holen“, schlug Christensen vor. Gemeint war Klaus Thomsen, der sympathische Kripochef auf Sylt. „Vielleicht können Nele und Peer der Dame mal auf den Zahn fühlen.“

Wiebke nickte und notierte sich ein paar Sätze. Spontan kam ihr die Idee, die Kollegen in Westerland erst dann ins Boot zu holen, wenn sie selber sich einen Überblick vor Ort verschafft hatte. „Die Saison ist ja vorbei“, sagte sie. „Annika Rüther dürfte die freie Zeit nutzen, um sich anderen Dingen zu widmen. Oder sie hält sich mit Aushilfsjobs über die Monate, bis die Kitesurfschule am Strand wieder öffnet.“

Petersen nickte ihr zu. Wiebke ahnte, dass er ihre Gedanken längst erraten hatte.

Kai Christensen nickte Jensen zu. „Das soziale Umfeld von Hans Olaf Berger habt ihr im Blick?“

„Wir sind dran“, meldete sich jetzt Tadsen zu Wort. „Ich habe mir die Rechner zur Brust genommen und checke gerade seine Kontakte. Das kann aber im Hinblick auf die lange Liste der Leute, mit denen er zu tun hatte, dauern.“

„Parallel haben bereits die ersten Befragungen begonnen“, berichtete sein Partner, Uli Baumann. Er hielt plakativ eine dicke Akte in die Höhe. „Wir arbeiten uns wacker hier durch.“

ACHT

Vergangenheit, Wenningstedt/Sylt

„Ich bin schwanger.“ Sie sagte das mit so einem zauberhaften Lächeln, dass er nicht wusste, ob sie sich wirklich freute. Hastig erhob er sich vom Tisch, nahm den dunkelblauen Kaffeepott und trat an die Arbeitsplatte, um die Kaffeemaschine einzuschalten. Er stierte mit klopfendem Herzen ins Leere. Sie kann nicht schwanger sein, schoss es ihm durch den Kopf. Schwer legte er seine Hände auf die Arbeitsplatte, umklammerte den Rand so fest, bis die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Er atmete durch, rang um Fassung und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, indem er aus dem Küchenfenster hinaus in die Dünenlandschaft hinter dem Haus blickte. Möwenrufe drangen durch das auf Kipp stehende Fenster an seine Ohren. In der Ferne sah er eine Handvoll Tiere durch die Luft taumeln.

„Freust du dich denn gar nicht?“, wagte sie hinter ihm einen zaghaften Versuch.

Am liebsten hätte er ihr den schweren Kaffeepott an den Kopf geschleudert. Doch er beherrschte sich. Schwieg und wartete darauf, was sie ihm noch zu sagen hatte.

„Doch, total“, antwortete er schließlich tonlos in das eisige Schweigen hinein. Draußen ging eine Familie mit Kindern vorbei. Der Vater zog einen hölzernen Bollerwagen hinter sich her. Wahrscheinlich machten sich die vier einen schönen Tag am Strand. Eine heile Welt, dachte er verbittert, als das unbeschwerte Kinderlachen erklang. Warum ist mir das nicht vergönnt?

Sie erhob sich vom Tisch, an dem sie bis eben noch gemeinsam gesessen hatten. Der Holzstuhl erzeugte ein hässliches schabendes Geräusch auf den Fliesen, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte.

„Wir wollten doch unbedingt ein Kind“, flüsterte sie, nachdem sie von hinten an ihn herangetreten war.

„Ja, das wollten wir“, stimmte er ihr zu, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Das war unser Traum.“

Ihm wurde übel. Er spürte, wie sich seine Kehle zuzog, schaffte es nicht, sich zu ihr umzudrehen. Es war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

Warum?, schrie alles in ihm. Warum nur?

„Eben. Und jetzt hat es geklappt. Ich bin schwanger“, wiederholte sie den alles entscheidenden Satz mit einem feierlichen Unterton in der Stimme.

Langsam schüttelte er den Kopf. „Das kann nicht sein.“

„Es ist aber so.“ Sie legte die Hände um seine Hüften und schmiegte sich von hinten an ihn. Er war versucht, ihre Hände fortzustoßen und sich aus der Umarmung zu lösen.

„Wir bekommen ein Baby. Ist das nicht wundervoll?“

Nein, ist es nicht, hätte er ihr am liebsten an den Kopf geworfen. Doch er sagte nichts, schüttelte nur den Kopf.

„Warum sagst du denn nichts?“, fragte sie jetzt. Ihre Stimme klang energischer, vorwurfsvoller.

Jetzt nahm er ihre Hände und schob sie fort. Er drückte sie von sich fort und wandte sich zu ihr um. Erschrocken blickte sie zu ihm auf, sah sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Von wem das Kind auch immer ist …“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

„Natürlich ist es von dir – wie kommst du darauf?“ In ihrer Stimme mischte sich Verzweiflung unter die aufkommende Wut. Mit einem unsteten Blick schaute sie zu ihm auf. Ihre Pupillen zuckten, Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Wir wollten ein Baby, und jetzt bekommen wir eines.“ Fast klang sie trotzig.

Er schüttelte langsam den massigen Schädel. Die Lippen hatte er zu schmalen Strichen zusammengepresst. „Nein“, sagte er verbittert. „Wir bekommen kein Baby. Du bekommst ein Kind.“

„Was soll das?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme. Ihr zierlicher Körper bebte.

„Es ist nicht unser Kind.“

„Warum nicht?“

„Weil ich keine Kinder bekommen kann.“ Er grinste. „Ich habe mich vor zwei Jahren schon sterilisieren lassen. Vasektomie, falls dir das etwas sagt. Ich wollte nie Kinder haben, mit dir hat sich das geändert, und insgeheim habe ich diesen Schritt damals längst bereut. Hilft uns jetzt aber auch nicht mehr. Mit wem auch immer du gevögelt hast, werd glücklich mit ihm.“ Seine Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen. „Und jetzt pack deine Sachen und verschwinde.“

*

Mildstedt, Gegenwart:

Der Ort, an dem Spaziergänger die Bekleidung gefunden hatten, lag am Rande des Wanderparkplatzes an der Straße nach Ostenfeld. Schon von Weitem sah Wiebke die Einsatzstelle. Die Zufahrt zum Parkplatz war mit blauweiß schraffiertem Absperrband gesichert, im Einfahrtsbereich standen zwei Streifenwagen und der Kastenwagen der Kriminaltechnik. Wiebke parkte den zivilen Dienstwagen am unbefestigten Rand der Landstraße. Das Waldstück, von dem Christensen gesprochen hatte, befand sich an ihrem Heimweg. Mehrmals täglich fuhr Wiebke hier vorbei. Umso betroffener war sie jetzt, dass sich hier ein Verbrechen abgespielt hatte.

Schnell war Wiebke versucht gewesen, durchzufahren, um kurz eine heiße Dusche zu nehmen, doch ihr Pflichtgefühl hatte überwogen.

Petersen war im Polizeirevier geblieben, um den lästigen Bericht zu schreiben. Er war frustriert, weil er nicht mehr aktiv in die Ermittlungen im Mordfall eingebunden war, und hatte schlechte Laune.

Fröstelnd zog Wiebke den Reißverschluss ihrer dick gefütterten Jack-Wolfskin-Jacke hoch und versenkte die Hände in den Taschen. Aus Richtung Ostenfeld näherte sich einer dieser großen Hightech-Traktoren. Eilig überquerte Wiebke die Landstraße und nickte dem uniformierten Beamten, der an der Absperrung Wache schob, zu. Man kannte sich vom Sehen.

Wiebke war gespannt, was Johannsen ihr sagen konnte. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Alles deutete darauf hin, dass Kerstin Möller einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Offensichtlich fehlte von ihr jede Spur. Was sollte sie der Vermieterin von Kerstin Möller später sagen?

„Allein unterwegs?“ Johannsen blickte auf, als er sah, dass Wiebke den schlammigen Parkplatz überquerte. Vom Regen in der Nacht hatten sich zahlreiche Pfützen in dem Schotterbelag gebildet.

„Jan ist mucksig“, nickte sie.

„Wegen der Konkurrenz aus Flensburg“, griente Johannsen.

„Das K 1 ist keine Konkurrenz, es ist der Auftrag der Kollegen, Mörder zu überführen“, murmelte Wiebke.

„Ich weiß das, ich weiß das“, nickte Johannsen. „Manchmal kommt man sich wie die zweite Wahl vor, wenn wir vorgeschickt werden, um die Drecksarbeit zu machen. Dann kommen die Kollegen, krempeln die Ärmel hoch und schieben uns aufs Abstellgleis – das ist frustrierend.“ Piet Johannsen nickte. „Ich kann Jan gut verstehen.“

„Ich ja auch“, räumte Wiebke ein, „trotzdem müssen wir weiter unsere Arbeit machen.“

„Apropos“, hakte der Kriminaltechniker ein. „Willst du dir den Fundort der Klamotten angucken?“

„Ja.“ Wiebke nickte und folgte dem Kollegen zu dem alten Hünengrab am Rande des Parkplatzes. Massive Steine waren zu einer historischen Grabstätte aufgeschichtet worden. Wiebke erinnerte sich daran, dass die Grabstätte in früheren Zeiten in der Nähe von Voßberg an der Landstraße nach Ostenfeld gestanden hatte. Doch das war lange vor ihrer Zeit gewesen. Vor rund vierzig Jahren hatte man das Hünengrab an diesem Parkplatz wiedererrichtet. Fünf massige Steinblöcke trugen einen sechsten Stein, der als Dach diente. Grünspan hatte die tonnenschweren Blöcke überzogen. Ein muffiger Geruch drang in Wiebkes Nase, als sie am Eingang in die Hocke ging, um einen Blick ins Innere des Grabes zu werfen.

Die Bekleidung wirkte modern und hochwertig. Ein pinkfarbenes Laufshirt, eine leichte Windjacke in Schwarz, die an den Ärmeln pinkfarbene Streifen aufwies, eine Art Leggins in Schwarz. Die modischen Sportschuhe in knalligem Pink, dazu weiße Socken, ein schwarzer Slip und ein Sport-BH, ebenfalls in Schwarz. Socken und die Unterhose waren auf links gedreht. „Sie scheint eine Vorliebe für Pink zu haben.“

 

Johannsen grinste schief. „Haben das nicht viele Mädchen und Frauen?“

„Ich nicht.“ Wiebke schüttelte den Kopf. „Blau ist meine Lieblingsfarbe.“ Sie zückte das Smartphone und fotografierte das seltsame Ensemble.

„Wie schön, das hebt dich von der Masse ab“, bemerkte Johannsen hinter ihr. „Ich habe das schon fotografiert.“

„Kann ich mir denken.“ Wiebke ließ das Handy verschwinden und stand auf. Sie beugte sich in die Grab-

stätte und überlegte, was hier passiert sein könnte. Alles deutete auf eine Entführung hin – oder ein sexuell motiviertes Gewaltdelikt. Beides gefiel ihr nicht.

Wiebke bemerkte, dass es am Ärmel der Windjacke ein Fach für das Smartphone gab. Die kleine, aufgenähte Tasche stand offen, das Fach war leer.

„Ein Smartphone hast du nicht gefunden?“, fragte Wiebke, ohne sich zu Johannsen umzublicken.

„Das hätte ich dir längst gesagt.“ Er wirkte ein wenig gekränkt. „Entweder hat sie es verloren, oder der große Unbekannte hat es mitgehen lassen.“

„Die Gegend muss abgesucht werden.“

„Dann veranlassen wir das.“

„In Ordnung.“ Alles wirkte, als hätte es jemand achtlos in die Grabstätte geworfen. Als hätte es jemand eilig gehabt, die Kleidung zu entsorgen. Von einem Versteck wollte Wiebke nicht reden – dafür hatte sich der Unbekannte zu wenig Mühe gemacht. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Kleidung mit dem herumliegenden Laub abzudecken und so auf den ersten Blick unsichtbar werden zu lassen. Wiebke schloss kurz die Augen und dachte nach. Es hatte den Anschein, als habe der Unbekannte geplant, dass die Sportsachen schnell gefunden wurden. Oder er wollte auf sich aufmerksam machen.

„Er hat sich keine Mühe gemacht, die Klamotten zu verstecken“, murmelte sie und stand auf. „Fragt sich, warum. War er in Eile, oder will er Aufmerksamkeit erregen?“

„Das herauszufinden ist dein Part“, grinste Johannsen schulterzuckend. „Ich werde die Dinge sicherstellen und einen DNA-Test im Labor machen.“

„Hast du etwas Auffälliges im näheren Umkreis der Fundstelle entdeckt?“, fragte Wiebke. „Was ist mit den Schleifspuren, die der Chef angesprochen hat?“

„Ich kann dir nicht sagen, ob hier wirklich ein Kampf stattgefunden hat“, räumte Johannsen ein. „Theoretisch könnte es auch sein, dass jemand einen Müllsack oder so etwas über den Boden gezogen hat. Wären da nicht diese Fußabdrücke.“ Seine Augen funkelten unternehmungslustig hinter den Gläsern der Nickelbrille. „Aber mit denen werde ich mich noch beschäftigen, vielleicht wissen wir dann mehr.“ Er deutete auf das Hünengrab. „Derzeit hat es den Anschein, als hätte der Täter die Kleidung einfach hier reingeworfen, um sich mit dem Opfer aus dem Staub zu machen – warum auch immer.“

„Ich will sämtliche Reifenspuren auf diesem Parkplatz haben“, sagte Wiebke.

„Das sind viele“, behauptete der Kriminaltechniker.

„Da musst du durch, fürchte ich.“ Wiebke versuchte sich vorzustellen, was hier passiert sein könnte.

„Auf diesem Parkplatz herrscht ständiges Kommen und Gehen: Spaziergänger, Hundebesitzer, Geschäftsleute, die hier im Gebüsch pinkeln gehen, was weiß ich. Man kann doch mit dem Auto fast bis an die Grabstätte heranfahren.“

„Vielleicht beabsichtigte unser Täter ja, dass die Bekleidung schnell gefunden wird.“

„Das spricht nicht gerade für seine Intelligenz.“ Wiebke betrachtete den Kriminaltechniker mit einem zweifelnden Blick. Piet Johannsen zuckten die Schultern. Er nahm die markante Nickelbrille ab und polierte sie umständlich, hauchte auf die Gläser und putzte mit einem Tuch darüber. „Oder wir haben es sogar mit einem sehr intelligenten Täter zu tun, der uns an der Nase herumführen will.“

„Dann wäre es ein gefährlicher Gegner“, bemerkte Wiebke.

Piet Johannsen nickte. Er setzte die Brille auf und betrachtete Wiebke lange. „Und genau das ist es, was mir Sorge bereitet, Wiebke.“

„Hast du persönliche Gegenstände gefunden?“

Kopfschütteln. „Nichts. Kein Portemonnaie, kein Handy, kein Schlüssel.“ Johannsen deutete auf den Kia. „Vielleicht hat sie alles im Auto gelassen. Schade nur, dass auch der Wagenschlüssel noch nicht aufgetaucht ist.“

„Wir werden ihn öffnen müssen.“

„Ist schon eingestielt“, sagte Johannsen. „Der Schlüsseldienst ist unterwegs, ein Richter hat den nötigen Beschluss ausgestellt.“

„Sehr schön“, lobte Wiebke. Es war selten, dass ein diensthabender Richter so schnell reagierte. Vermutlich waren die Behörden nach dem Mord an Hans Olaf Berger aufgescheucht und legten an Tempo weiter zu.

Wiebke warf einen Blick auf die Uhr. Erika Brütsch erwartete sie sicher schon. „Ich muss los“, sagte sie. „Mal sehen, was die Vermieterin uns über Kerstin Möller erzählen kann.“