WattenAngst

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WattenAngst
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Für Susi

Du weißt schon warum.

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:

Tödlicher Schnappschuss

WeserTod

WattenMord

TodesDuft

HahnBlues

BlutGrab

Schmutziges Geheimnis

Blutiges Vergessen

WattenBrand

Höhentod

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8403-0

Andreas Schmidt

WattenAngst


Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

1. AKT

Mildstedtfeld, 19.10 Uhr

Es war zu einem kurzen und heftigen Handgemenge gekommen, dann hatte er sie besiegt. Eigentlich kein Wunder, war er ihr doch körperlich überlegen. Daran konnte auch der Umstand, dass sie sportlich und durchtrainiert war, nicht viel ändern. Kurz wehrte sie sich mit allen Kräften, musste aber schnell kapitulieren. Auch ihre Versuche, ihn mit Tritten in den Unterleib außer Gefecht zu setzen, fruchteten nicht. Sie grub ihre Fingernägel in seine Kleidung, spürte, wie sie brachen, stöhnte unter dem Schmerz und löste die Anspannung ein wenig.

Er lachte.

Sie war eine Kämpferin. Das imponierte ihm. Doch es änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihm unterlegen war und schnell kapitulieren würde. Ihre spitzen Schreie verhallten ungehört im Wald.

Als er seine große Hand auf ihren Mund und die Nase presste, verstummte sie, rang nach Atem und röchelte. Er spürte, wie ihre Kräfte schwanden und die Gegenwehr verebbte. Gleich hatte er es geschafft. In der hereinbrechenden Dunkelheit des trüben Herbsttages war es ein Leichtes für ihn, sie unbemerkt zu seinem Wagen zu zerren.

Schnell machte er sich daran, sie zu entkleiden. Stoff riss mit einem hässlichen Geräusch. Er sah die Todesangst in ihren Augen und fühlte sich dadurch in seinem Treiben bestärkt. Er zog ihr die Jacke von den Schultern, zerriss ihr T-Shirt, griff nach dem BH und zerrte wie von Sinnen daran, bis der Stoff nachgab. Sie keuchte, versuchte, seine Hände abzuwehren, scheiterte im Ansatz.

Lüstern betrachtete er sie, ihre makellose Haut, ihre festen Brüste. Mit den Füßen streifte er ihre Schuhe von den Füßen, dann griff er zu ihrem Hosenbund, rollte ihn über die Hüften und ließ den Slip folgen. Zum Schluss riss er ihr die Socken herunter, dann hatte er sein Ziel erreicht. Kurz betrachtete er sie. Sie war wunderschön, der Traum zahlreicher Männer.

Jammerschade um sie.

Doch er hatte eine Mission, von der er sich nicht abbringen ließ. Sie gehörte ihm, nur ihm.

Von diesem Gedanken angetrieben, schob er sie in den Wagen. Sie war, am Rande einer Ohnmacht, nicht in der Lage, Gegenwehr zu leisten. Die Vorstellung, dass sie sich längst für ihn aufgegeben hatte, erregte ihn. Jetzt war sie ihm ausgeliefert. Für sie gab es kein Zurück mehr.

*

Mit seinen starken Armen hob er sie in die eiserne Wanne, schob ihren Körper zurecht, dass sie vor ihm lag wie auf einer Bahre. Angerichtet, nur für ihn. Ihre Beine und Arme hingen über den Rand der Wanne. Schnell nahm er ihre Gliedmaßen und legte sie an den Körper.

Wie gelähmt lag sie vor ihm. Sie schien zu keiner Bewegung mehr fähig zu sein. Sekundenlang hielt er inne und betrachtete sie. Dann senkte er den eisernen Deckel und ließ die Verschlüsse zuschnappen. Die pure Todesangst hatte zuletzt in ihrem Blick gelegen, fast so, als ahnte sie, was sie erwartete.

Es war, als würde sie sich ein letztes Mal aufbäumen, um ihr Leben in letzter Sekunde doch noch retten zu können.

Wild trommelte sie mit den Fäusten gegen die eisernen Wände und die Innenseite des Deckels.

Ihre Versuche, sich aus dem eisernen Sarg zu befreien, scheiterten kläglich. Das Klopfen ließ nach, ihre Schreie verstummten.

Zufrieden wandte er sich ab und trat an die Armaturen, die sich am Kopfende seiner Todesmaschine befanden. Mit wachsamem Blick betrachtete er das Rohrleitungssystem und warf einen Blick auf die Anzeigetafeln. Ein komplexes Schlauchsystem führte von den aufrecht stehenden Tanks zu der eisernen Wanne. Ein letztes Mal atmete er tief durch, dann streckte er die Hand aus und startete die Anlage. Zunächst ertönte das Summen einer elektrischen Pumpe, dann rauschte Flüssigkeit durch die Leitungen. Unaufhaltsam füllte sich die Wanne mit Säure. Das Zischen schwoll zu einem Rauschen an. Nach einem Blick auf die Instrumente wusste er, dass die Säure jetzt ihren zierlichen Körper umspülte, dass sie ihre Haut umschloss und ihr vernichtendes Werk begonnen hatte.

Drinnen brach ein aussichtsloser Überlebenskampf aus. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte, sie schrie in Todesangst und klopfte gegen die Wände ihres Sarges. Schnell wurden ihre panischen Schreie zu einem Wimmern, dann kehrte im Innern tödliche Stille ein. Sie kapitulierte.

Das letzte Lebenszeichen, das er durch die Wände des Eisensarges hörte, war ein gurgelnder Laut, die nur vom Glucksen der Säure unterwandert wurde. Zufrieden legte er die Hände flach auf den Deckel. Er spürte, wie sich das Eisen erwärmte. Mit einem Blick auf das Thermometer stellte er fest, dass alles richtig lief. Er drehte einen Hahn weiter auf. Jetzt rauschte die Säure mit voller Kraft in den Behälter.

Sie hatte den kurzen und ungleichen Kampf schnell verloren und wartete auf den Tod. Ein zufriedenes Grinsen huschte um seine Mundwinkel. Das Gefühl der Macht erfüllte ihn mit größter Zufriedenheit. Jetzt blieb zu hoffen, dass er die Säure richtig hergestellt hatte, dass sie das von ihm begonnene Werk vollendete. Erst nach dem Probelauf würde er die Maschine für seine Mission nutzen.

Doch noch war es nicht so weit.

Er war gut in der Zeit. Sie würde nun drei Stunden in ihrem eisernen Sarg liegen, bis es sie nicht mehr gab.

Wenn alles so funktionierte, wie er es geplant hatte, würde er ihre Überreste völlig unbemerkt in der Öffentlichkeit verschwinden lassen. Noch in dieser Nacht. Doch jetzt galt es, sich auf sein nächstes Vorhaben zu konzentrieren. Der Gedanke, dass er in dieser Nacht nicht viel Schlaf bekommen würde, ließ ihn nicht ermüden, im Gegenteil: Der Gedanke schärfte seine Sinne und brachte das Endorphin in ihm zum Kochen. Endlich war es so weit. Seine Mission hatte begonnen …

2. AKT

Hockensbüll, 00.40 Uhr

Es war eine ungewöhnlich milde Nacht. Der seichte Wind trug das entfernte Blöken einer Schafsherde auf dem nahen Deich an seine Ohren. Als er innehielt und durchatmete, vernahm er das Quaken der Kröten neben sich im Graben. Irgendwo in den Salzwiesen gluckste es. Es war, als würde der natürliche Übergang zwischen Meer und dem Festland leben.

Seine Sinne waren geschärft, die Nerven zum Zerreißen angespannt. Kurz hielt er inne, um sich zu sammeln. Nachdem er tief durchgeatmet und die Gedanken geordnet hatte, richtete er den Blick entschlossen nach vorn. Die Lastkräne und Speichergebäude des Husumer Außenhafens zeichneten sich als schwarze Silhouette vom Tiefblau des fast wolkenlosen Nachthimmels ab. Nach den ersten Schritten knirschte es hinter ihm. Ruckartig verharrte er in der Bewegung, lauschte, dann wirbelte er auf dem Absatz seiner leichten Schuhe herum. Niemand hielt sich in seiner Nähe auf. Trotzdem wurde er das dumpfe Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.

Mit einer gleitenden Bewegung duckte er sich in den Schatten eines Forsythienstrauchs und wartete regungslos ab. Während die Sekunden zäh dahinrannen, beobachtete er die rot blinkenden Lichter der markanten Hafenbauten, die wie Irrlichter durch die Nacht zu geistern schienen. Das rhythmische Aufblitzen hatte etwas von den Leuchtfeuern moderner Leuchttürme.

Nachdem er sich vergewissert hatte, unbeobachtet zu sein, wagte er sich aus seinem Versteck.

Ein Blick auf das beleuchtete Ziffernblatt seiner Armbanduhr. Bis zwei Uhr musste er es hinter sich gebracht haben. Sein Herz schlug schneller, als er an sein Vorhaben dachte. Es würde klappen. Nichts würde schiefgehen, er hatte jeden Schritt penibel durchgeplant, hatte sich einen Plan ausgearbeitet und das nötige Equipment zusammengestellt.

Oft genug war er tagsüber hier gewesen, hatte die Gegend mit dem Fahrrad erkundet, sich sogar den Hund einer Nachbarin geliehen, um mit dem Retriever hier entlangspazieren zu können, ohne den Anwohnern aufzufallen.

Wochenlang hatte er das Haus observiert. Tag und Nacht. Jetzt war er bereit für den finalen Schritt. Mühsam bekämpfte er die aufkommende Nervosität.

Alles gut, beruhigte er sich. Linkerhand lagen jetzt die Häuser. Prächtige, mit Reet gedeckte Anwesen. Nichts für arme Schlucker. Wer hier wohnte, hatte keine finanziellen Probleme.

Um diese Uhrzeit brannte in den Fenstern längst kein Licht mehr. Ohne Eile setzte er seinen Weg fort. Ja, dachte er, alles wird gut. Ich habe alles gut vorbereitet, jeden Schritt durchdacht. Was kann schon schiefgehen?

Er schob die rechte Hand in die Tasche seiner dunklen Softshell-Jacke und spürte das kalte Metall der Pistole, die ihm ein Freund besorgt hatte. Freund war übertrieben.

 

Iwan war Russe und konnte alles beschaffen. Er war das lebende Darknet der Dinge, das behauptete er immer von sich selbst. Iwan arbeitete für die Russenmafia, er war eiskalt und skrupellos, doch er war ein wahres Organisationstalent.

Er wusste nicht einmal, ob Iwan sein richtiger Name war – oder nur Tarnung. Ihm war es egal, wie der Russe seinen Lebensunterhalt verdiente. Iwan hatte ihm die Knarre besorgt. Schnell und ohne lästige Fragen zu stellen. Für seine Leistungen hatte er den Russen fürstlich belohnt.

Er schulde Iwan jetzt einen Gefallen, das hatte der Russe gesagt, als er ihm die Waffe in die Hand gedrückt hatte.

Alles zu seiner Zeit.

Jetzt hatte er erst einmal seine Mission vor der Brust. Fester umschloss er den Griff der Waffe. Sie gab ihm Sicherheit, sorgte aber auch dafür, dass sich sein Puls beschleunigte.

Schnell machte er, dass er weiterkam. Das Rascheln seiner Kleidung bei jedem Schritt erschien ihm in der Stille der Nacht überlaut. Nach wenigen Metern erreichte er sein Ziel. Die Villa befand sich auf einem großzügig angelegten Grundstück hinter einer Hecke und einem strahlend weißen Holzzaun. Das mannshohe Tor war so angelegt, dass es ungebetene Gäste fernhalten konnte. Er würde es nicht erklimmen müssen, um an sein Ziel zu gelangen. Wieder hielt er inne, um sich davon zu überzeugen, dass er alleine hier draußen war. Währenddessen blickte er sich weiter um. Seitlich vom Holztor gab es ein vergoldetes Paneel mit Klingel und der Gegensprechanlage, daneben die integrierte Kamera der Videoüberwachung. Erwartungsgemäß hatte sich seit seinem letzten Besuch am Nachmittag nichts verändert. Vor einigen Tagen hatte er die Sicherheitstechnik des Anwesens analysiert, sich die Funktionsweise eingeprägt, im Internet recherchiert, um zu wissen, um welche Art von Überwachungsanlage es sich hier handelte. Alles war gut geplant, seine Vorbereitungen grenzten an Perfektion.

Natürlich wusste er, aus welchem Winkel er sich der Kamera nähern konnte, ohne vom Weitwinkel des Objektivs erfasst zu werden.

Auch hier hatte ihm der Russe geholfen. Iwan hatte ihm den kleinen Zauberkasten besorgt, den er jetzt aus der Tasche zog und in der Hand hielt. Das Gerät hatte die Größe einer Zigarettenschachtel, war aber wesentlich flacher und leichter. Anstelle der Horrorbilder auf den Zigarettenpackungen befand sich an der Oberfläche ein kleines Display, darunter einige winzige Tasten. Eine kleine grüne Leuchtdiode zeigte an, dass das Gerät einsatzbereit war. Seine Finger zitterten leicht, als er eine Tastenkombination eingab und den Anweisungen auf dem Display folgte. Im nächsten Moment erlosch über der Überwachungskamera ein kleines Kontrolllicht. Die Kamera war offline. Ein leises Klicken war zu hören und das elektronische Schloss des Holztores war deaktiviert.

Ein zufriedenes Grinsen schlich sich in sein markantes Gesicht.

Mit einem schnellen Griff in die Hosentasche zog er einen kleinen Stoffbeutel hervor, den er über die Glaskuppel der Kamera stülpte. Mit dem Gummi eines Einmachglases fixierte er den Beutel am Rand der Kuppel, dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk mit zufriedenem Blick. Mit dem Gerät hatte er die Frequenz der Überwachungskamera ermittelt – und das Funksignal der kabellosen Kamera unterbrochen. Jetzt konnte er sich unsichtbar wie ein Phantom auf dem Grundstück bewegen. Sollte die Elektronik ihn wider Erwarten im Stich lassen, gab es immer noch den Stoff, der die Linse verhüllte.

Gute Vorbereitung ist eben alles, dachte er, während er tief Luft holte und sich auf den eigentlichen Anlass seines Besuches besann. Sein Blick schweifte über das weitläufige Grundstück. Der Landrover stand vor der großen Doppelgarage. Erwartungsgemäß war der Hausherr anwesend. Gut so.

Wachsam blickte er zum Haus mit den riesigen Fensterflächen. Niemals würde er in einem solchen Glaskasten wohnen wollen, da könnte er noch so reich sein. Die cremefarbenen Vorhänge waren zugezogen, nur einen Spalt von einem guten halben Meter klafften die Vorhänge auseinander. Das reichte ihm. Drinnen brannte Licht.

Seine Augen waren gut. Er sah, dass sich trotz später Stunde hinter den Vorhängen noch etwas rührte. Zwei Schatten bewegten sich im Wohnzimmer.

Zwei?, fragte er sich verunsichert. Warum ist er nicht alleine?

Seine Frau befand sich doch in Hamburg. Jedenfalls hatte er das so ausgekundschaftet. Warum also war seine Zielperson nicht alleine? Die neue Situation behagte ihm nicht. Sekundenlang war er versucht, die Aktion abzublasen. Die Gedanken rauschten durch seinen Kopf. Was hatte das da oben zu bedeuten?

War sie etwa bei ihm?

Sein Herz klopfte wie wild, als er daran dachte, dass sie bei ihm war, als er an das dachte, was sie getan hatten. Er war versucht, die Aktion abzubrechen, duckte sich in den Schatten der Hecke und dachte angestrengt nach. Dann entschloss er sich, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Es war sogar gut, dass sie bei ihm war. Dass sie sehen konnte, wie er starb, wie ihm ein Ende bereitet wurde für das, was er getan hatte.

Ja, es war gut, dass sie in den letzten Minuten seines elenden Lebens bei ihm war.

Und sie würde begreifen, dass er es ernst meinte.

Gut so.

Sie würde er leben lassen, schließlich war sein Tod heute der Beginn seiner Mission.

Bevor er den Gedanken vertiefen konnte, schlug beim Haus ein Hund an. Verdammt, der Köter, durchzuckte es ihn. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er versuchte, seinen Puls unter Kontrolle zu bringen, dann ordnete er seine Gedanken. Der Hund würde ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten.

Tagsüber hielt ein großer Hund, der sich frei auf dem umzäunten Grundstück bewegen konnte, Wache. Die Töle sollte ungebetene Gäste fernhalten. In den Abendstunden sperrte man den großen Hund in den Zwinger rechts neben dem Haus. Dort schlug er jetzt zwar an, bedeutete aber keine Gefahr für den Eindringling.

Zielstrebig steuerte er auf die Einfahrt zu. Hinter den großen Fensterflächen brannte noch immer Licht. Die bodenlangen Vorhänge täuschten den Bewohnern des Hauses Sicherheit vor. Doch es gab kein Entkommen mehr für die Menschen, die sich jenseits der Stores aufhielten. Dafür würde er Sorge tragen. Jetzt tat sich im Haus etwas. Einer der Vorhänge glitt zur Seite. Eine hochgewachsene Silhouette tauchte auf und blickte in die Nacht hinaus, als hätte sie dort etwas Auffälliges gesehen.

Lange genug hatte er ihn studiert, um zu wissen, dass es sich bei der Gestalt am Fenster um seine Zielperson handelte. Wochenlang hatte er sich Fotos angeschaut, war ihm wie ein unsichtbarer Schatten gefolgt und hatte sich an seine Fersen geheftet. Jetzt war es an der Zeit für den Showdown.

Der Mann am Fenster blickte jetzt genau in seine Richtung. Sein Herz raste. Jetzt musste es schnell gehen. War er aufgeflogen? Gab es einen Bewegungsmelder, der ungebetene Gäste gleich anzeigte? Eine zweite Kamera existierte seines Wissens nicht.

Noch während der Besitzer der Villa ins Dunkel starrte, riss der ungebetene Gast die Hand, mit der er die Waffe umklammert hielt, in die Höhe. Noch in der gleitenden Bewegung entsicherte er und legte den Zeigefinger um den Abzug, zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, spürte den mechanischen Widerstand, dann zog er durch. Um den Rückschlag so gering wie möglich zu halten, stützte er den ausgestreckten Arm mit der Waffe ab, sah das Mündungsfeuer aufblitzen, dann ging die große Fensterscheibe mit einem ohrenbetäubenden Klirren zu Bruch. Das Glas bot dem Hausherrn keinerlei Schutz.

Unter das Prasseln des Scherbenregens mischte sich der Schmerzensschrei seines Opfers. Obwohl der Mann versucht hatte, sich mit einem Sprung nach hinten in Sicherheit zu bringen, gelang es ihm nicht, der tödlichen Kugel zu entgehen.

Der spitze Schrei der Frau ging im Lärm unter. Sie hatte also alles mitbekommen, war zur Zeugin geworden.

Gut so.

Als der Mann am Fenster die Arme hochriss und beide Hände flach vor die Brust presste, wusste der Schütze, dass er sein Ziel nicht verfehlt hatte. Er wich zurück und beobachtete das Schauspiel aus sicherer Deckung. Sein Opfer ruderte wild mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und stürzte aus dem Fenster in die Tiefe.

Seine Knochen brachen mit einem hässlichen Geräusch, als er hart auf dem Pflaster der Einfahrt vor dem Haus aufkam und sich nicht mehr rührte. In wenigen Sekunden breitete sich eine große Blutlache um den leblosen Körper aus.

Der Schütze verzog angewidert das Gesicht. Eigentlich konnte er kein Blut sehen. In verrenkter Haltung lag der Mann da und rührte sich nicht mehr. Nachdem ein letztes Wimmern über seine Lippen gekommen war, kehrte bedrückende Stille ein, die erst durch den spitzen Angstschrei der Frau durchschnitten wurde. Sie kreischte, stürzte zum zerstörten Fenster, riskierte dabei, auch zur Zielscheibe für den Schützen zu werden, stand barfuß in dem Scherbenhaufen, hielt beide Hände vor das Gesicht und rief einen Namen.

Doch der, den sie rief, rührte sich nicht. Er würde nicht mehr aufstehen.

Mit einem zufriedenen Grinsen steckte der Schütze die Waffe zurück in die Jacke. Das Metall war warm. Schnell duckte er sich in den Schatten der Hecke, eilte in gebückter Haltung davon, verschwand um die nächste Häuserecke, sah im Augenwinkel, wie in einem der Nachbarhäuser Licht aufflammte. Die Nachbarn waren wach geworden. Jetzt war es höchste Zeit zu verschwinden. Seine Mission hatte begonnen.

EINS

Wenningstedt/Sylt, drei Monate zuvor

Er wusste nicht, wie lange er schon wach neben ihr lag. Müdigkeit verspürte er trotz der vorgerückten Stunde nicht, wahrscheinlich lag es daran, dass sein Körper von Endorphinen nur so strotzte. Er hielt kurz den Atem an und lauschte in die Nacht. Irgendwo an der Rückseite des reetgedeckten Hauses klapperte ein Fensterladen. Unheilvoll pfiff der Wind ums Haus, doch das schien sie nicht im Geringsten zu stören. Zusammengerollt wie ein Baby lag sie neben ihm und schlief tief und fest. Seine Blicke störten ihre Nachtruhe nicht, so nutzte er die Gelegenheit, um sie verliebt zu betrachten. Das Licht des Mondes drang durch den Spalt der bodentiefen, blauweiß gemusterten Vorhänge und ließ ihre Haut wie Samt wirken. Verzückt musterte er ihre wunderschöne Kehrseite, hätte am liebsten die Hand ausgestreckt, um sie zu berühren, um mit den Fingerkuppen zärtlich die Konturen ihres Körpers nachzuzeichnen. Es fiel ihm schwer, sie nicht zu streicheln, doch um nichts auf der Welt wollte er ihren tiefen Schlaf stören. Kurz schloss er die Augen und lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen. Sie war, nachdem sie leidenschaftlich miteinander geschlafen hatten, glücklich und erschöpft in seinem Arm vom Schlaf übermannt worden. Obwohl er selber müde gewesen war, hatte er den Moment ausgekostet, sie an seiner Schulter zu spüren, ihrem Atem zu lauschen und ihren Duft zu genießen. Irgendwann hatte sie sich zur Seite gedreht, um ihm den Rücken zuzuwenden. So lag er hinter ihr ebenfalls auf der Seite, den Kopf auf den linken Arm gestützt, und sah sie an.

Er war so glücklich wie nie zuvor in seinem Leben, war mit Anfang vierzig endlich angekommen, hatte die Frau gefunden, mit der er alt werden wollte. Zahlreiche Frauen hatte er in den letzten Jahren gehabt, kein Wunder bei seinem Aussehen und seiner offenen Art, die gut bei den Frauen ankam. Doch bisher hatte er die Richtige nicht gefunden. Jetzt war alles anders.

Angekommen, hallte es in seinem Kopf. Ich bin angekommen.

Er atmete tief durch und inhalierte ihren Duft. Sie roch nach Kokosnuss und exotischen Früchten. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte ihn, er hatte nie an die Liebe seines Lebens geglaubt, hatte stets gehofft, die Hoffnung an der Seite anderer Frauen aber schnell wieder verworfen. Wie sehr er sich geirrt hatte, dachte er jetzt.

Jetzt ist alles perfekt.

Im nächsten Moment legte sich ein Bleigürtel um seine Brust, eine undefinierbare Angst befiel ihn, als er an die Grausamkeiten, die das Leben mit sich brachte, dachte. Das glückliche Lächeln auf seinen Lippen gefror. Eine schwere Krankheit, ein Unfall, der sie aus seinem Leben riss und damit alles zunichtemachte, was den Sinn seines Daseins ausmachte. Er versuchte, die düsteren Gedanken zu verdrängen, doch es gelang ihm nur schwer. So nahm er sich vor, alle Gefahren, die ihr gemeinsames Glück zunichtemachen könnten, bis aufs Blut zu bekämpfen.

Ein Geräusch riss ihn aus den Gedanken. Erschrocken hielt er die Luft an und lauschte mit geneigtem Kopf ins Dunkel des Zimmers.

 

Es war ihr Haus, doch er wusste, dass das mit Reet gedeckte Gebäude in Sturmnächten eigenartige Laute abgab. Die Dielenböden knarzten, als würde sich jemand darauf bewegen, das Gebälk unter dem Reet knackte, all das machte ihm keine Angst.

Das Geräusch war anders gewesen.

Ein schrilles Poltern, fast, als würde Glas splittern. Unwillkürlich drängte sich ihm die Frage auf, ob im Haus eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen war.

Sein Körper versteifte sich, als er den Atem anhielt und in die Stille lauschte. Besorgt streifte sein Blick ihren Körper. Doch sie schlief tief und fest.

Wieder riss ihn ein Geräusch aus seinen Beobachtungen. Es kam von unten, war schwer einzuordnen.

Jemand war im Haus.

Die Härchen auf den Unterarmen richteten sich auf. Er musste nach dem Rechten sehen, musste sie beschützen. Hastig stemmte er seinen Oberkörper in die Höhe. Seine Hände zitterten, als er die leichte Decke zur Seite schlug und sich auf die Bettkante setzte. Eilig erhob er sich, um mit der rechten Hand nach den Boxershorts zu fischen, die neben dem Bett lagen. Das leise Quietschen des Bettgestells klang überlaut. Er hoffte, dass sie nicht doch noch aufwachte. Jetzt verfluchte er den Umstand, dass sich die schwere Taschenlampe im Wagen befand. Schon zigmal hatte er sich vorgenommen, sie mit ins Haus zu nehmen, um sie für den Notfall auf dem Nachtschrank zu deponieren. Er hielt den Atem an und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen.

Sie hatte einen festen Schlaf und nicht mitbekommen, dass er aufgestanden war und eilig in die dunkelblau karierten Boxershorts schlüpfte.

Gut so.

Ein wenig entspannten sich seine Gesichtszüge. Barfuß durchquerte er das Schlafzimmer, blieb an der Tür ein letztes Mal stehen, um nach ihr zu schauen. Sie schlief.

Im Zeitlupentempo drückte er die Türklinke nieder, öffnete die Schlafzimmertür einen Spalt und steckte den Kopf hinaus, um ins Dunkel des Hauses zu lauschen.

Wieder hörte er ein Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Es war aus der Küche im Erdgeschoss gekommen. Seine Hand zitterte, als er sie auf das hölzerne Geländer der kleinen Treppe legte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Stufen jetzt nicht knarrten, so, wie sie es sonst taten, wenn sich das Wetter änderte. Draußen pfiff ein eisiger Wind um die Mauern des alten Hauses. Schnell huschte er die Treppe hinab und stand jetzt im unteren Flur. Linkerhand befand sich die schwere Haustüre, daneben die Garderobe. Ihre gesteppten Jacken hingen unverändert an den gusseisernen Haken hinter der Tür. Wenn sich jemand im Haus befand, dann war er nicht durch die Haustür gekommen. Rechts lag die Tür zur Küche und zur Stube mit Blick in die Dünen.

Ein scharrendes Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Jetzt war es eindeutig: Schritte in der Küche, vorsichtig gesetzt. Offensichtlich war der Fremde durch das Küchenfenster ins Haus eingedrungen. Das hatte also

das klirrende Geräusch verursacht, das ihn erschreckt hatte.

Er konnte hören, wie die Sohlen des Einbrechers über Glasscherben streiften und knirschende Geräusche erzeugten.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Einbrecher waren auf der Insel eher selten anzutreffen – zu kompliziert war den Tätern die Flucht mit dem Sylt-Shuttle, zu groß die Gefahr, noch am Bahnhof in Westerland von der Polizei festgesetzt zu werden. Trotzdem gab es in letzter Zeit immer wieder Einbrecher, die sich in den verwaisten Dünenhäusern wertvolle Beute versprachen. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass ein Großteil der Immobilien auf der Insel nur während der Feriensaison bewohnt wurde. Jetzt, im Herbst, waren zahlreiche der prächtigen Häuser verlassen. Sie standen oft wochenlang leer und wurden nur von Hausmeistern betreut, die regelmäßig kamen, um nach dem Rechten zu sehen. Die Kriminalität auf Sylt hielt sich in Grenzen, von einer heilen Welt wollte hier trotzdem niemand reden.

Warum habe ich mir immer noch keinen Baseballschläger ans Bett gestellt?, fragte er sich mit einer Mischung aus Wut und Angst, als er eine Hand auf die Türklinke legte. Was, wenn der Einbrecher bewaffnet ist? Würde es ihm gelingen, den Fremden in die Flucht zu schlagen? Hektisch blickte er sich um. Sein Blick fiel auf ihren großen „Schietwetter“-Regenschirm, der am Haken der Garderobe hing.

Besser als nichts, dachte er und streckte die Hand nach dem Schirm aus. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff, bereit, damit zuzuschlagen. Nachdem er ein letztes Mal tief durchgeatmet hatte, hob er das rechte Bein und trat mit voller Wucht die Küchentür auf. Sie würde ihm verzeihen, wenn er das Türblatt beschädigte, da war er sicher. Immerhin ging es darum, den Einbrecher zu stellen und sie zu schützen.

Mit einem Knall schlug die Tür an die dahinterliegende Wand. Spätestens jetzt ist sie aufgewacht, durchzuckte es ihn. Entgegen seiner Befürchtung regte sich oben nichts. Sie hatte einen festen Schlaf.

Das Holz des Türblatts scharrte über Glasscherben, um kurz darauf zurückzupendeln. Mit einem einzigen Satz sprang er in die Küche und hoffte, das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben. Er registrierte das zerstörte Fenster, dann fiel sein Blick auf den Stein, der in der Mitte des Raums am Fußboden lag – die Tatwaffe. Im selben Moment tauchte der Schatten in seinem Augenwinkel auf. Jemand hatte sich versteckt, um jetzt mit einem Sprung seine Deckung zu verlassen.

Während er noch herumwirbelte, dabei den Arm mit dem Schirm nach oben riss, spürte er den entsetzlichen Schlag am Hinterkopf. Im Bruchteil einer Sekunde sah er grelle Blitze vor den Augen auftauchen, dann fühlte es sich an, als würde sein Körper von innen heraus explodieren. Ihm wurde es heiß und kalt, bevor er mit einem ächzenden Laut in die Knie ging. Dass er mit dem Gesicht in die Scherben auf dem Boden fiel, spürte er schon nicht mehr.

*

Als er zu sich kam, schmerzte ihm jeder Knochen. Im Mund einen pelzigen Geschmack, die Augenlider schwer wie Blei, wünschte er sich im ersten Moment zu sterben. Übelkeit stieg in ihm auf, eine Sekunde lang fürchtete er, dass er sich übergeben musste. Es dauerte einen Moment, bis die Erinnerung sich schmerzhaft in sein Bewusstsein brannte. Die durchwachte Nacht mit der Liebe seines Lebens, die eigenartigen Geräusche in der Küche, das eingeschlagene Fenster, der Überfall. Er öffnete die Augen, blinzelte und wurde vom grellen Licht der Küchenlampe geblendet.

Vom Täter keine Spur.

Sein Kopf fiel zur Seite. Als er die Muskeln anspannte, knirschte es unter ihm. Er lag mitten im Scherbenhaufen der eingeschlagenen Fensterscheibe.

Ein brennender Schmerz in der Stirn brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Vorsichtig tastete er nach der schmerzenden Stelle. Ein harter Gegenstand steckte wie die spitze Klinge eines winzigen Messers in seinem Kopf. Er fixierte die Scherbe mit Daumen und Zeigefinger, biss die Zähne zusammen und stöhnte auf, als der Schmerz an Intensität zunahm und drohte, ihm den Verstand zu rauben. Blut trat aus der Wunde aus und besudelte seine Finger. Doch es gab kein Zurück mehr. Wenn er wollte, dass die Qual aufhörte, musste der Fremdkörper aus seinem Körper verschwinden. Fest packte er zu, hielt die Luft an und spürte dennoch die Hitze, die sich schlagartig in ihm ausbreitete. Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung zog er an dem Splitter in der Stirn. Ein Schmerzensschrei entrang sich seiner Kehle, dann betrachtete er den Gegenstand in der blutverkrusteten Hand. Eine Glasscherbe, scharf wie ein Messer und spitz wie ein Dolch.Gut zwei mal drei Zentimeter groß. Wütend warf er die Scherbe zu Boden.

Sekundenlang schloss er die Augen und versuchte, sich zu sammeln.

Ein eisiger Luftzug wehte in die Küche, verfing sich in der weißblau karierten Tischdecke und blähte sie auf. Im Zeitlupentempo wandte er den Kopf und öffnete die Augen wieder. Das Stofftuch schien ein seltsames Eigenleben zu entwickeln. Ein unheimliches Schauspiel. Langsam gelang es ihm, seine Gedanken zu ordnen.