Schicksalsmomente

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Stefan Fröhling/​Andreas Reuß

Schicksalsmomente

Entscheidende

Augenblicke

im Leben

großer

Persönlichkeiten


Wichtiger Hinweis für Lehrerinnen und Lehrer

Wenn Sie den Inhalt dieses Buches gerne im Unterricht – oder anderen Lernsituationen – nutzen möchten, finden Sie unter folgendem Link hilfreiche Fragen und Anregungen zum kostenfreien Download: http://www.brendow-verlag.de/​index.php/​schicksalsmomente.html

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865065919

© 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfotos:

Hanns Dieter Hüsch: Paul Maaßen.

Alle weiteren Fotos von Wikipedia.

Hintergrundmotiv: fotolia

Satz: Brendow PrintMedien, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Von Paulus von Tarsus bis Steve Jobs

Er aß und kam wieder zu Kräften

Apostel Paulus (5/10–63/64)

Der ruhige und der unruhige Gott

Aurelius Augustinus (354–430)

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“

Martin Luther (1483–1546)

„Wir wollen uns einmal nie trennen“

Die Brüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm (1786–1859) Grimm

„Alles still hier“

Theodor Fontane (1819–1898)

Poetische Naturbilder im politischen Widerstand

Sophie Scholl (1921–1943)

Nicht jeder wird vom Mönchsbrot satt

Henri Nouwen (1932–1996)

„Ich sing für die Verrückten“

Hanns Dieter Hüsch (1925–2005)

Bankrotterklärung für Managementkurse, Marktanalysen und Globalisierungstheorien

Steve Jobs (1955–2011)

Menschen ohne Inspiration?

Die Gesellschaft der Zeitgeschichte (1950–2010)

Literaturtipps

Fußnoten

Einleitung

Von Paulus aus Tarsus bis Steve Jobs

„Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser!

Schicksal des Menschen,

Wie gleichst du dem Wind!“

Diesen Ausruf formulierte Goethe als „Summation“1, als zusammenfassenden Höhepunkt, am Ende seines 1779 entstandenen Gedichtes „Gesang der Geister über den Wassern“2.

Sein Gedanke klingt reichlich melancholisch, fast verzweifelt. Dabei kann es Goethe seinerzeit gar nicht so schlecht gegangen sein: Er befand sich auf einer Reise durch die Schweiz und betrachtete im Lauterbrunnental, im Berner Oberland, einen Bach, der heute noch von einer hohen Felswand herabstürzt und sich nach einiger Zeit in der Luft zu einem feinen Dunst zerstäubt. Ein herrlicher Anblick.

Der Dichter nahm das Naturschauspiel erneut zum Anlass, um über das Schicksal des Menschen nachzudenken und sich mit den eigenen Schicksalsmomenten auseinanderzusetzen; denn im selben Jahr notierte er in seinem Tagebuch, dass er sich – obwohl erst dreißig Jahre alt – wie ein Schiffbrüchiger sehe: „Stiller Rückblick auf das Leben, auf die Verworrenheit, Betriebsamkeit, Wißbegierde der Jugend […] Wie ich alles Wissenschaftliche nur halb angegriffen und bald wieder habe fahren lassen, wie eine Art von demütiger Selbstgefälligkeit durch alles geht, was ich damals schrieb […] wie nun kein Weg zurückgelegt, sondern ich nur dastehe wie einer, der sich aus dem Wasser rettet.“3

Goethe erscheint hier nicht als einer, der schon frühzeitig versucht, auf einen Denkmalsockel zu steigen, um sich dann verherrlichen zu lassen, sondern vielmehr als Mensch, der sich gnadenlos mit sich selbst auseinandersetzt, und zwar vor dem Hintergrund höherer Instanzen: der „Geister“, der Naturgesetze und der Wissenschaften. So empfing schon der junge Goethe Augenblicke der Inspiration, die zu Schicksalsmomenten wurden, die letztlich die ganze Welt verändern konnten.

„Ein Wetterleuchten, dann ein Blitz, der im jungen Goethe niedergeht, und die Gewichte der Welt haben sich vom Objektiven ins Subjektive verschoben: Von nun an wünscht man dem Helden um seinetwillen ein Durchkommen“4, schreibt Thomas Steinfeld über Goethes noch früheres Gedicht „Willkomm und Abschied“ aus dem Jahre 1770.

Immer wieder geschah es, dass in Menschen ein solcher „Blitz“ niederging und ein persönlicher Schicksalsmoment sich ereignete, der in größerem oder kleinerem Maßstab, soweit man es bisher schon überblicken kann, die Welt veränderte. Manchmal, wie bei Luther, soll es ein ganz realer Blitz gewesen sein, bei anderen wurde es eher als inneres „Wetterleuchten“ empfunden – fast immer in Einsamkeit und gegen die Tendenzen der großen „Welt“.

Freilich muss man sich die „Geistesmenschen“ früherer Zeiten, noch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein, als „Ideenträger“ vorstellen, wie sie sich in den Tragödien Friedrich Schillers oder auf Thomas Manns „Zauberberg“ (Roman, 1924) versammelten, um ihre jeweiligen Ideologien, Religionen oder andere Denkrichtungen zu verkörpern. Dort waren die Personen, genauso wie die realen Menschen, noch einigermaßen in den Rahmen eines geschlossenen Weltbildes eingebunden. Dieses existiert heute wohl nicht mehr. Weltbilder, ob gemeinsam oder nicht, spielen kaum mehr eine Rolle.5 Nach den „gescheiterten Utopien“6 bzw. Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts sind große, übergreifende Denksysteme zumindest in der westlichen Welt in Misskredit geraten.

Die Schicksalsmomente großer Persönlichkeiten früherer Zeiten hatten eine transzendentale Dimension. Sie empfingen ihre Inspiration aus dem „Reich der Ideen“, um es mit Platon7 zu formulieren. Aus einzelnen Inspirationen wurden Schicksalsmomente insofern, als dass sich die Denker bzw. Künstler damit existenziell befassen; das heißt, sie waren auf der Suche danach, wie sie die gewonnene Idee mit ihrem Leben und ihren sonstigen geistigen Entwürfen vereinbaren könnten und schufen neue gedankliche Möglichkeiten. Dabei war das zwischenzeitliche Scheitern, so wie Goethe es bei sich sah, durchaus nicht ausgeschlossen. Aber sie wagten große neue Schritte, welche manchmal geeignet waren, die „Gewichte der Welt“ zu verschieben.

Die Schicksalsmomente im Leben von Menschen aus jüngerer Zeitgeschichte resultierten ebenfalls aus einer Suche, doch sie blieb unerfüllt, wenn die Anbindung an eine Religion oder vertiefte Weltanschauung fehlte. Die Suche selbst wurde zur Lebensform. Die große Inspiration, empfangen aus der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt der Ideen, ist dann nicht mehr vorhanden oder basiert auf Hilfskonstruktionen; denn über „Visionen“ oder „Philosophie“ wird durchaus viel gesprochen, mehr als jemals zuvor: Jede Firma entwickelt eine „Firmenphilosophie“, jeder neue Chef präsentiert in seinem Betrieb oder in seiner Abteilung eine „Vision“, wobei man die eigentliche „Letztbegründung“8 vermisst. Der Gesamtrahmen ist nicht mehr da, er wird hilfsweise durch begrenzte „Projekte“ ersetzt.

Im geistigen Bereich sind die empirischen Naturwissenschaften, trotz aller Einschränkungen, zunehmend anerkannt und im Vordergrund. Sie haben sich aber, so gewinnt man den Eindruck, gerade durch die Entwicklung neuer Technologien, auf das Speichern von unzähligen Daten aus Erhebungen, Dokumentationen und Begutachtungen aller Art verlegt. Gliederungen und ethische Strukturen scheinen in der Sammelwut unterzugehen, eine unübersichtliche „Multi-Welt“9 tut sich auf, die Sprache wird undeutlich, Interpretationen, inhaltliche Auseinandersetzungen, Inspirationen oder gar Schicksalsmomente scheinen kaum noch denkbar. Wie in einer – echten – Vision hat schon Goethe jenen Projekten ein paar Verse gewidmet:

 

Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen!

Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos;

Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen,

Die Erde weit, der Himmel hehr und groß;

Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,

Naturgeheimnis werde nachgestammelt.10

Er aß und kam wieder zu Kräften

Apostel Paulus (5/​10 – 63/​64)

„Paulus scheint ein Mensch gewesen zu sein, der Schweres anzog. Sein Wesen war so, dass er die Widerstände und Widersprüche des Daseins zu voller Schärfe hervortrieb; sein ganzer Lebensweg zeigt es. Er war ein geplagter Mensch. Die letzten Kapitel des zweiten Korintherbriefs reden von unendlicher Mühsal.“11

Mit diesen Worten hat der katholische Theologe Romano Guardini (1885 – 1968) den Apostel charakterisiert. In seinem 1. Brief an die Korinther beschreibt Paulus – dem Gefängnisaufenthalte, die Gefährdung durch Räuber oder selbst Schiffbrüche nicht erspart geblieben sind (2 Kor 11,23 – 28) – seine Missionstätigkeit sogar noch drastischer, indem er glaubt, dass Gott die Apostel wie Todgeweihte auf den letzten Platz gestellt hat (1 Kor 4,9). „Bis zur Stunde hungern und dürsten wir, gehen in Lumpen, werden mit Fäusten geschlagen und sind heimatlos. Wir plagen uns ab und arbeiten mit eigenen Händen; wir werden beschimpft und segnen; wir werden verfolgt und halten stand; wir werden geschmäht und trösten. Wir sind sozusagen der Abschaum der Welt geworden, verstoßen von allen bis heute“ (1 Kor 4,11 – 13).

Obwohl der Apostel Paulus zu den am häufigsten genannten Personen des Neuen Testaments zählt, ist über sein Leben historisch gesichert nur wenig bekannt. Am aussagekräftigsten sind seine an junge christliche Gemeinden gerichteten autobiographischen Briefe, sieben an der Zahl, in denen er ganz individuell als Mensch in Erscheinung tritt. Diese besitzen als situations- sowie adressatenbezogene Schreiben einen persönlichen, einen theologischen oder einen offiziellen Tonfall.12 Sie gelten als die ältesten literarischen Zeugnisse des Neuen Testaments und wurden zwischen den Jahren 50/​51 (1. Brief an die Thessalonicher) und den Jahren 55/​56 christlicher Zeitrechnung (Brief an die Römer) verfasst. Somit liegen sie zeitlich vor der Entstehung des frühesten Evangeliums, nämlich des Markus-Evangeliums (vor 70 n. Chr.). Zu den authentischen, also den von Paulus geschriebenen oder diktierten Briefen (Protopaulinen), die in den Gemeinden vorgetragen und besprochen wurden, gehören außerdem die beiden Korintherbriefe sowie der Galaterbrief, der Philipperbrief und der Philemonbrief.

Die anderen unter seinem Namen weitergegebenen Briefe, die zwischen den Jahren 70 und 100 nach Christus entstanden sind, werden als Deutero- oder Tritopaulinen bezeichnet, weil sie von seinen Schülern resp. Nachfolgern oder von Gemeindeleitern stammen, die bereits über die Theologie des Apostels reflektieren und sich sein hohes Ansehen bei der Angabe des Absenders zunutze machen (Kolosserbrief, Epheserbrief, 2. Thessalonicherbrief, 1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief). Briefe wurden in damaliger Zeit meist einem Schreiber oder Sekretär diktiert und von diesem auf Wachstäfelchen notiert, um sie später auf Papier aus Papyrusblättern oder Pergament aus Tierhäuten zu übertragen. Anschließend wurden sie durch Boten zugestellt.

Die Apostelgeschichte

Eine zweite Quelle, die über die Missionstätigkeit des Apostels Paulus Auskunft gibt, ist die sogenannte „Apostelgeschichte“ im Neuen Testament. Für deren Entstehungszeit werden die Jahre vor oder um 90 nach Christus angesetzt. Als Verfasser der Apostelgeschichte gilt der Autor des Lukas-Evangeliums (vor oder um 80 n. Chr.). Ob dieser freilich den Namen Lukas getragen hat, lässt sich nicht nachweisen, da die namentliche Zuordnung der beiden Schriften erst ab dem zweiten Jahrhundert nach Christus historisch fassbar wird. Sicher ist nur, dass „Lukas“ ein gebildeter Heidenchrist war, der wie Paulus die griechische Sprache sehr gut beherrschte, also im hellenistisch geprägten Teil des römischen Imperiums gelebt hat. Das „lukanische“ Doppelwerk könnte folglich sowohl in Griechenland als auch in Kleinasien (heute Türkei) oder in der Hauptstadt der römischen Provinz Syrien, Antiochia13, entstanden sein und somit in Gebieten, in denen der Apostel Paulus unterwegs gewesen war. Mit Palästina, wo Jesus gelebt hat und gestorben ist, war „Lukas“ nicht vertraut.

Dass jener ein Paulus-Begleiter oder ein Arzt war, gehört eher in das Reich der Legende, obgleich sich unter den Mitarbeitern des Apostels wohl ein Lukas befunden hat. Als Mitarbeiter oder Begleiter sind etwa 50 Männer und Frauen aus den überlieferten Quellen namentlich bekannt.14 Einem Begleiter freilich wären keine „so kompakten historischen Irrtümer über das Leben des Paulus“ unterlaufen, wie sie in der zweiten „lukanischen“ Schrift zu entdecken sind.15

Die Apostelgeschichte, die ebenfalls erst seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus diese Bezeichnung trägt, ist mehr ein theologisches denn ein geschichtliches Werk und richtet ihren Blick zunächst auf das Wirken des Apostels Simon Petrus in Jerusalem und Palästina. Laut dem Markus-Evangelium (3,16) hat Jesus seinem Jünger Simon den aus der aramäischen Sprache kommenden Beinamen „Kephas“ gegeben, der übersetzt „Edelstein“ bedeutet und im Griechischen mit dem Wort „Petros“ („Fels“ oder „Stein“) wiedergegeben wird. Nach dem Tod Jesu um das Jahr 30 und seiner Auferstehung hat Petrus bald die Leitung der Jerusalemer Gemeinde übernommen, die er bis um das Jahr 43 innehatte, als er im Zuge einer Christenverfolgung zusammen mit dem Apostel Jakobus d. Ä. verhaftet wurde, aber aus dem Gefängnis und aus Jerusalem fliehen konnte. Jakobus d. Ä. wurde hingerichtet. Dessen Bruder, der Apostel Jakobus d. J., war fortan Leiter der Gemeinde. Um das Jahr 35 und somit gut zwei Jahre nach seinem Bekehrungserlebnis war Paulus zum ersten Mal dem Apostel Petrus in Jerusalem begegnet, denn er hatte diesen kennenlernen wollen. Paulus „blieb fünfzehn Tage bei ihm“ (Gal 1,18). Doch beide haben sich spätestens seit dem Jerusalemer Apostelkonzil (48 oder 49 n. Chr.) wegen theologischer Differenzen wohl nicht mehr so gut verstanden. Petrus wurde wahrscheinlich im Jahr 67 in Rom hingerichtet.

Der zweite Teil der Apostelgeschichte befasst sich mit den drei großen Missionsreisen des Apostels Paulus, die etwa im Jahr 45 begonnen und, mit Unterbrechungen, bis zu seiner Ankunft in Rom um das Jahr 60 angedauert haben. Dort wurde er unter Kaiser Nero (37 – 68 n. Chr.; Kaiser ab dem Jahr 54) zum Tode verurteilt und im Jahr 63 oder 64 mit dem Schwert getötet. Aus den Jahren vor 50 sind keine von Paulus verfassten Briefe vorhanden, was aber nicht heißen muss, dass er keine geschrieben hat. Dem Autor der Apostelgeschichte standen wahrscheinlich schriftliche Notizen über die Paulusreisen zur Verfügung16, jedoch nicht die Paulusbriefe selbst. Eine frühe, redaktionell bearbeitete Sammlung der Briefe ist erst aus der Zeit um 100 nach Christus bekannt.

„Lukas“ zählt bereits zur dritten Generation der Jesus-Bewegung, denn sowohl die Augenzeugen, also vor allem die Jünger Jesu, als auch die Missionare der zweiten Generation, zu denen Paulus gehört hat, sind mittlerweile tot. Der Verfasser der Apostelgeschichte sieht – anknüpfend an die Wiedergabe des Lebens und Sterbens Jesu im Lukas-Evangelium – seine Aufgabe folglich darin, die durch den „Heiligen Geist“ im Pfingstereignis (Apg 2,1 - 13) initiierte Verbreitung des „Wortes Gottes“ von Jerusalem über die frühen Missionierungsgebiete in Kleinasien und Griechenland bis hin zur christlichen Gemeinde in Rom darzustellen. Ihm ist daran gelegen, aufkommende Irrlehren abzuwehren sowie generell die grenzüberschreitende Kontinuität und die göttliche Heilszusage des Christentums für Menschen aufzuzeigen, die zeitlich und räumlich weiter vom ursprünglichen Geschehen entfernt sind. Er will die Geschichte Jesu mit der Weltgeschichte in Verbindung bringen.17 Der Autor der Apostelgeschichte hält Paulus, der mit seinem missionarischen Engagement bedingungslos für die Sache Jesu einsteht, für den Repräsentanten dieser zielstrebigen Glaubensvermittlung.

Obwohl die historischen Aussagen der Apostelgeschichte nicht zu unterschätzen sind, so sind sie doch gegenüber den authentischen Paulusbriefen nachrangig und müssen in ihrer Bedeutung jeweils kritisch überprüft werden. Im Gegensatz zu den auf die konkreten Gemeindesituationen bezogenen Briefen hat die Apostelgeschichte einen literarischen, erzählenden und erbaulichen Charakter, der auch dem Apostel Paulus zugeschriebene Wundertaten mit einschließt.

„Lukas“ berücksichtigt dabei „das Problem der bislang ausgebliebenen Parusie“18, also der „Naherwartung“ (wörtlich: „Anwesendsein“ oder „Gegenwart“), dass nämlich durch die endgültige Wiederkehr des Messias das Reich Gottes in Vollkommenheit anbrechen werde. Der Begriff „Messias“ ist die griechische Form des hebräischen Wortes „Maschiach“ und identisch mit der späteren Bezeichnung „Christus“. Die drei Begriffe bedeuten übersetzt „der Gesalbte“ und beziehen sich auf die alttestamentliche Verheißung eines Gott- oder Heilskönigs, der Juden wie Christen und – religiös weitergedacht – letztlich die Welt erretten und erlösen wird. Petrus, Paulus und die Christen der frühen Gemeinden waren davon überzeugt, dass dies noch zu ihren Lebzeiten geschehen werde. Es muss daher für so manche arg irritierend gewesen sein, als trotz der Naherwartung Gemeindemitglieder starben.

Die Apostelgeschichte versucht deshalb, das allzu enge zeitliche Verständnis der messianischen Wiederkunft aufzubrechen: „Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat“ (Apg 1,7). „Also kehrt um und tut Buße, damit eure Sünden getilgt werden und der Herr Zeiten des Aufatmens kommen lässt und Jesus sendet als den für euch bestimmten Messias. Ihn muss freilich der Himmel aufnehmen bis zu den Zeiten der Wiederherstellung von allem, die Gott von jeher durch den Mund seiner heiligen Propheten verkündet hat“ (Apg 3,19 – 21).

„Lukas“ betrachtet die Entstehung der frühen Kirche, die der unmittelbaren jesuanischen Zeit folgt, als zweite Epoche der Heilsgeschichte, die gleichwohl endzeitlich ausgerichtet bleibt19, als sei es eine „Zwischenzeit“.20 Diese temporäre Unbestimmtheit brachte es zwangsläufig mit sich, dass sich in den Gemeinden festere Strukturen und Leitungsämter zu bilden begannen.

Paulus selbst versucht bereits Jahrzehnte zuvor, eine Art Kompromiss hinsichtlich der Parusie zu finden, indem er in seinem 1. Brief an die Thessalonicher schreibt: „Wir, die Lebenden, die noch übrig sind, wenn der Herr kommt, werden den Verstorbenen nichts voraushaben. Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen, wenn der Befehl ergeht, der Erzengel ruft und die Posaune Gottes erschallt. Zuerst werden die in Christus Verstorbenen auferstehen; dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen. Dann werden wir immer beim Herrn sein“ (1 Thess 4,15 – 17). Im 1. Brief an die Korinther bekräftigt Paulus diese Sichtweise noch einmal: „Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden – plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall“ (1 Kor 15,51 – 52).

Paulus, der Jude aus Tarsus

Es verhält sich nun mal so, dass sich das Leben des Apostels Paulus, wie das anderer Personen des Neuen Testaments auch, mindestens genauso stark aus seiner Umwelt wie aus den autobiographischen Äußerungen oder den biographischen Schilderungen bei „Lukas“ erschließen lässt. Sicher ist, dass Paulus Jude war und blieb. Das bezeugt er mehrfach in seinen Briefen. Jesus selbst, die zwölf Apostel sowie die ersten Anhänger Jesu in Jerusalem und Palästina, waren ebenfalls Juden.

 

Paulus wurde in den Jahren 5 bis 10 unserer Zeitrechnung in der am östlichen Mittelmeer gelegenen Hafenstadt Tarsus (im südlichen Kleinasien) geboren, die wie Antiochia der römischen Provinz Syrien (Syrien-Kilikien) angehörte. Die möglichen Geburtsjahre beruhen auf einer Schätzung, und allein die Apostelgeschichte nennt Tarsus ausdrücklich als Geburtsort (22,3). Diese informiert die Leser und Zuhörer zudem darüber, dass Paulus neben dem tarsischen sogar das römische Bürgerrecht besaß, und zwar von Geburt an (Apg 22,28). Das bedeutet, dass Letzteres schon seinen Eltern oder früheren Familienmitgliedern verliehen worden war. Ganz sicher ist es allerdings nicht, ob der „Lukas“-Text hier auf Tatsachen fußt.

Paulus’ Eltern waren jedenfalls gläubige Diaspora-Juden und haben ihren Sohn, wie er selbst in seinem Brief an die Philipper mitteilt, bereits am achten Tag nach seiner Geburt beschneiden lassen (Phil 3,5). Die Beschneidung ist ähnlich der Taufe ein äußeres Zeichen für die Aufnahme in die Religionsgemeinschaft. Von den Eltern hat er auch den alten jüdischen Namen „Saul“ erhalten, dem im Sinne des römischen Bürgerrechts der lateinische Name „Paulus“ hinzugefügt wurde. Die angebliche „Verwandlung“ des Saulus in den Paulus bei der Bekehrung zum Apostel ist also lediglich eine Zuspitzung. Paulus hat den Namen „Saul“ oder „Saulus“ in seinen Briefen nicht verwendet.

Die Stadt Tarsus war, wie viele hellenistische Großstädte, nicht nur ein weltoffener Umschlagplatz für Güter, sondern auch eine angesehene Wirkungsstätte der Bildung, der Philosophie und der Kunst. Verschiedene Nationalitäten trafen hier ebenso aufeinander wie unterschiedliche Religionen und rivalisierende soziale Schichten. Diese vom Hellenismus durchdrungene Vielfalt hat Paulus in seiner Kindheit und Jugend sehr geprägt und ihn zu einem regelrechten Kosmopoliten werden lassen21, der bei seinen zukünftigen Missionsreisen vor dem städtischen Publikum des römischen Imperiums aufzutreten wusste.

Der Begriff „Hellenismus“ beschreibt die Ausbreitung der griechischen Kultur und Sprache seit den Eroberungszügen Alexanders des Großen (356 – 323 v. Chr.), dessen Reich von Griechenland und Kleinasien im Norden sowie Ägypten und Palästina im Süden weit nach Osten bis an die Grenzen Indiens reichte. Griechische Siedler brachten in die schon bestehenden oder die von ihnen neu gegründeten Städte ihre Sitten und Gebräuche, ihre Religion und Philosophie, ihr Rechtsverständnis und ihre Baukunst mit. So entstand zum Beispiel in der ägyptischen Stadt Alexandria, die direkt auf Alexander den Großen zurückgeht, ein geachtetes Zentrum der Wissenschaften und eine Bibliothek, die als die größte in der Antike gilt. Die griechische Sprache – „Koiné“, also die „gemeinsame“ Sprache genannt – wurde mündlich und schriftlich zur überall gültigen Verkehrssprache. Wer sie nicht zu sprechen vermochte, wurde als Barbar angesehen. Das Römische Reich nahm ab dem zweiten Jahrhundert vor Christus die hellenistische Kultur von Griechenland bis Ägypten in sich auf, ohne sie wesentlich zu beeinträchtigen.

Unter den Juden Palästinas war neben der griechischen Sprache hauptsächlich die aramäische verbreitet, welche die ältere hebräische abgelöst hatte. „Das Hebräische blieb die Sprache der Religion und der Gelehrsamkeit, aber das einfache Volk beherrschte sie nur unzureichend.“22 Unter den Juden der hellenistisch beeinflussten Diaspora war das Griechische dominant. Oftmals hatten Hunger und Not sie gezwungen, ihr Heimatland Palästina zu verlassen, sodass sie zur Zeit Jesu im ganzen Mittelmeerraum angesiedelt waren. In Jerusalem und Palästina lebte gut eine halbe Million Juden, in der gesamten Diaspora („Zerstreuung“) lebten an die vier Millionen.23

Da viele unter den Diaspora-Juden die hebräische und die aramäische Sprache nicht mehr kannten, verwendeten sie in ihren Gottesdiensten oder bei den religiösen Unterweisungen die sogenannte „Septuaginta“. Die Legende berichtet, dass im dritten Jahrhundert vor Christus jeweils sechs Schriftgelehrte aus den zwölf Stämmen Israels, also zusammen 72, vom ägyptisch-hellenistischen König Ptolemaios II. Philadelphos (regierte 282 - 246 v. Chr.) auf die Insel Pharos bei Alexandria geholt wurden, um den alttestamentlichen „Pentateuch“, das heißt die „fünf Bücher Mose“ (wörtlich: „Fünfrollenbuch“), ins Griechische zu übersetzen, was ihnen just in 72 Tagen gelungen sein soll. Der Übertragung des Pentateuchs (hebräisch „Tora“, also „Gesetz“ oder „Weisung“), die tatsächlich für das dritte Jahrhundert anzunehmen ist, sind im Laufe der Zeit die anderen Bücher des Alten Testaments sowie einige weitere aus dem Umfeld gefolgt. Die Zahl 72 wurde in der späteren Überlieferung auf 70 verkürzt. Das Wort „Septuaginta“ steht im Lateinischen für die Zahl 70 (LXX). Die Evangelisten, die ebenfalls griechisch schrieben, haben ihre alttestamentlichen Zitate der Septuaginta entnommen und sich stilistisch auf sie bezogen.

Paulus war mit der griechischen Sprache aufgewachsen und kannte die Schriften des Alten Testaments resp. die Septuaginta sehr gut, obwohl er darüber hinaus gewiss mit der aramäischen und wahrscheinlich auch mit der hebräischen Sprache vertraut war. Von der lateinischen Sprache besaß er wohl nur bruchstückhafte Kenntnisse.24 Der Apostelgeschichte nach (18,3) hatte Paulus den Beruf des Zeltmachers erlernt, der die Erzeugung von Leder- und Leinenprodukten umfasste. So konnte er sich während der Missionsreisen seinen Unterhalt verdienen und musste den heidenchristlichen Gemeinden nicht auf der Tasche liegen. Wo und wann genau er die handwerkliche Ausbildung absolviert hat, wo und wann er in der Tora und anderen religiösen Schriften des Judentums unterwiesen worden ist, gilt als ungeklärt. Beides könnte ebenso gut in Tarsus wie in Jerusalem gewesen sein, obgleich bei „Lukas“ zu lesen ist, dass Paulus sich von Jugend an in Jerusalem aufgehalten habe (Apg 26,4).